E-Book, Deutsch, Band 6399, 174 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Betrachtungen über unser zerstrittenes Land
E-Book, Deutsch, Band 6399, 174 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-75487-6
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Welt steht vor großen Herausforderungen. Stoff genug für erregte Debatten. Doch wie wollen wir sie führen? Respektvoll? Konstruktiv? Hart in der Sache, aber versöhnlich im Ton? Besser wäre es, gerade auch für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und die Stabilität unserer Demokratie. Stattdessen herrscht viel zu oft das 'Entweder-oder' und nicht das 'Sowohl-als-auch'. Es wird überspitzt, es wird Panik geschürt, es wird die Würde des Andersdenkenden verletzt, und jeder kann zwar alles sagen, muss sich aber im Anschluss von denen beschimpfen und bedrohen lassen, die nicht seiner Meinung sind. Wie wäre es, nach Gemeinsamkeiten zu suchen statt aufeinander rumzuhacken, Kompromisse zu würdigen statt auf Maximalforderungen zu beharren und sich einen Blick dafür zu bewahren, wieviel auch gut läuft in Deutschland? Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins, das wusste schon Marie von Ebner-Eschenbach. Und wer wäre nicht gern selbstbewusst?
Autoren/Hrsg.
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Entweder … oder …
Wenige Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York vom 11. September 2001 erklärte Präsident George W. Bush, im «Krieg gegen den Terror» gebe es keine Neutralität. «You are either with us or against us.» Das ist die krasseste Form von Entweder-oder-Denken: «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.» Wurden Sie auch schon einmal vor diese Alternative gestellt? Was für eine Anmaßung! Denn es läuft darauf hinaus, dass Sie Ihr eigenes Gehirn abschalten sollen und in bedingungsloser Treue demjenigen folgen, der diese letztlich rhetorische Frage stellt. Das passt eher in diktatorische Denkmuster als zu demokratischen Verhaltensweisen. «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich» zwingt Sie dazu, auch Dinge zu tun oder zuzulassen, mit denen Sie persönlich nicht einverstanden sind, andernfalls werden Sie zum Feind erklärt, der bekämpft werden muss. Man könnte auch sagen: «Vogel friss oder stirb.» Das wäre die ehrlichere Variante. Entweder oder, ja oder nein, das klingt nicht nur nach Mittelalter und Inquisition, es führt auch mit Blick auf Problemlösungen in die Irre. Zum einen, weil Realitäten nicht so holzschnittartig sind, dass man ihnen mit entweder oder und ja oder nein gerecht werden könnte, und zum anderen, weil es über tatsächlich bestehende Gegensätze hinaus welche aufbaut, die keine sind. Es kommt noch etwas Drittes hinzu: Wenn über fruchtlose Alternativen diskutiert wird, statt über pragmatische und konkrete Lösungen, dann lenkt das oftmals von den eigentlichen Fragen ab. Andererseits muss man auch zugeben, dass klare Alternativen gewisse Vorteile haben. Es ist übersichtlicher, modelliert die Streitpunkte heraus und verschafft zudem mediale Aufmerksamkeit. Doch ein Denken in den Kategorien von «Entweder-oder» befördert zwangsläufig die Polarisierung. Demgegenüber enthält sein Widerpart, das «Sowohl-als-auch», in sich schon den Kompromiss und bietet die Chance, die unterschiedlichen Lager zusammenzuführen, indem es Widersprüche integriert. Als wegen der Corona-Pandemie das normale alltägliche Leben nahezu komplett heruntergefahren wurde und nach wenigen Wochen die Diskussion begann, was man wie wieder öffnen könne und müsse, weil selbst ein so gut ausgestatteter Staat wie Deutschland das auf Dauer nicht durchhalte, lief es in den Debatten schnell darauf hinaus, was denn nun wichtiger sei: Gesundheit oder Wirtschaft? Was für eine Frage! Beides hat ganz konkret mit Menschen zu tun. Klar, Krankheit und Tod fürchtet jeder. Nicht umsonst wünscht man jemandem zum neuen Lebensjahr in aller Regel vor allem Gesundheit. Aber auch die Wirtschaft ist kein anonymes Wesen, von dem nur Konzerne und diejenigen, die den Hals nicht vollkriegen, profitieren. Wirtschaft – das sind wir alle, jeder auf seine Weise. Die schwierige Aufgabe, an deren Lösung man sich angesichts der vielen Unbekannten in Zusammenhang mit diesem neuen Virus nur herantasten kann, wird nicht dadurch leichter, dass man so tut, als gäbe es eine klare Alternative: eine intakte Wirtschaft oder eine gesunde Gesellschaft. Wenn Millionen Menschen erkranken und Zehntausende unter chaotischen Umständen sterben, dann nimmt die Wirtschaft enormen Schaden, auch ganz ohne «Lockdown». Und wenn die Wirtschaft durch staatliche Hygienemaßnahmen abgewürgt wird, dann werden Existenzen ruiniert, und wir können uns auf Dauer unser Gesundheitssystem nicht mehr leisten. In Wahrheit geht es hier doch um ein Sowohl-als-auch: Wie retten wir möglichst viele Menschen zu ökonomisch gerade noch verkraftbaren Kosten? Das ist die eigentliche Frage, und eine Antwort ist schwierig genug. Darüber kann jedoch nur sehr konkret diskutiert werden und damit gleichzeitig auch sehr viel weniger aufgeheizt als über griffige, aber realitätsfremde Alternativen. Ende April 2020 hat sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in die Debatte eingemischt und Folgendes gesagt: «Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.» Das mag auf den ersten Blick unangenehm berühren. Aber auf den zweiten Blick öffnet Schäubles Beitrag den Raum für die eigentliche Debatte. Diese kann uns nicht erspart bleiben, und wir müssen sie respekt- und würdevoll führen. Um Entweder-oder-Positionen darf es dabei auf keinen Fall gehen. Wir müssen als Gesellschaft gemeinsam abwägen, wie ein gangbarer Weg in solchen Fällen aussehen kann. Auch in der Außenpolitik entfaltet das Entweder-oder-Denken seine schädliche Wirkung. Muss man sich wirklich entscheiden, ob man zu Polen oder zu Russland gute Beziehungen unterhält? Zu Russland oder den USA? Ich denke, nein, aber es ist tägliche Praxis, «Transatlantiker» gegen «Russlandversteher» politisch und medial in Stellung zu bringen. Nicht jeder, der die Politik der USA kritisiert, will gleich das transatlantische Bündnis auflösen. Es gibt nicht nur die Alternative zwischen einer bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber Washington und einer einseitigen Hinwendung nach Moskau. Man kann auch die Gewichte innerhalb des transatlantischen Bündnisses zugunsten Europas verschieben wollen. Angesichts der Politik Washingtons in der letzten Zeit und ihrer gerade für Europa gravierenden Konsequenzen ist das doch keine so abwegige Idee. Aber in solchen Fragen geht es oft weniger um die Sache als um ideologische Positionierung. Ideen, Vorschläge und Überlegungen werden, je nachdem aus welchem «Lager» sie kommen, verklärt, verteufelt oder erst gar nicht zur Kenntnis genommen. In der Folge schaukeln sich Auseinandersetzungen auf, und diejenigen, die das «Sowohl-als-auch» mitdenken und sich um Verständigung bemühen, werden beiseitegeschoben, eben weil sie sich nicht sklavisch auf eine Seite stellen wollen. Jeder Einzelne kann versuchen, in zugespitzten Debatten Missverständnisse zu vermeiden und sich nicht provozieren zu lassen. Ich nehme mich da selbst nicht aus. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es in einer aufgeheizten Atmosphäre nicht leicht ist, gelassen zu bleiben und in ruhigen, möglichst klaren Formulierungen deutlich zu machen, was man meint bzw. nun gerade nicht meint. Das funktioniert nicht als «Solokünstler», sondern nur im Team, wenn man sich gegenseitig zuhört und ausreden lässt. Wie oft werden Diskutanten in Talkshows zu einer Antwort auf die Frage ja oder nein genötigt? Ich will gar nicht bestreiten, dass diese Zuspitzung in Einzelfällen hilfreich sein kann, wenn politische Entscheidungsträger allzu sehr herumeiern, um sich ja nicht festzulegen und Sachdebatten argumentativ austragen zu müssen. Da gibt es durchaus Situationen, die einem als Zuschauer zu Aha-Erlebnissen verhelfen. Aber bei den meisten Debatten, die uns zurzeit beschäftigen, kommt man mit entweder oder, ja oder nein nicht nur nicht weiter, sondern es wird eine Unversöhnlichkeit suggeriert, der bei genauerer Betrachtung die Grundlage fehlt. Man kann die «Fridays for Future»-Bewegung begrüßen, ohne sie gleich heilig zu sprechen. Man kann den Kohlekompromiss vernünftig finden, ohne den Klimawandel zu leugnen. Man kann gegen Diesel-Fahrverbote sein, ohne die schädliche Wirkung von Stickoxiden abzustreiten. Man kann die Betrügereien der deutschen Autoindustrie beim Namen nennen, ohne diesen Industriezweig ruinieren zu wollen. Man kann für Gleichberechtigung kämpfen, ohne jedes Wort mit einem Sternchen zu versehen. Man kann eine offene Einwanderungspolitik fordern, ohne die Kontrolle über die Grenzen aufgeben zu wollen. Man kann über Clan-Kriminalität sprechen, ohne arabische Familien unter Generalverdacht zu stellen. Man kann sich kritisch mit dem Islam befassen, ohne alle Muslime über einen Kamm zu scheren. Und man kann für ein humanes Asylrecht sein, ohne Gewalttaten von Geflüchteten zu beschönigen oder gar zu verschweigen. Klimaretter oder Klimaleugner
Nicht jeder, der etwas Kritisches über Klimaaktivisten sagt, ist gleich ein «Klimaleugner». Man kann Greta Thunberg dankbar sein und trotzdem bei ihrer Wutrede vor der UNO ein gewisses Unbehagen empfinden, in der sie mit bebender Stimme den Vorwurf in die Welt schmetterte, «How dare you?» – Wie könnt Ihr es wagen? «Ihr habt meine Träume und meine Kindheit gestohlen mit Euren leeren Worten.» Das muss für diejenigen...