E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Kröhn Die Gedanken sind frei - Eine unerhörte Liebe
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-28128-1
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Die Buchhändlerinnen von Frankfurt
ISBN: 978-3-641-28128-1
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frankfurt, 1945: Ella Reichenbach hat zwar die Bombennächte überlebt, aber von der Verlagsbuchhandlung ihrer Eltern ist kaum etwas geblieben. Die Regale sind verheizt, die Schaufenster ohne Glas, die Bücher fort. Doch dann entdeckt sie den geheimen Papiervorrat ihrer verstorbenen Mutter, und plötzlich wendet sich das Blatt. Ella kann fortan Hunger und Not ein Ende setzen, indem sie selbst Bücher veröffentlicht. Doch die junge Verlegerin will nicht nur neue Bücher unter die Menschen bringen – sie will die Gedanken in den Köpfen der Menschen befreien ...
»Die Buchhändlerinnen von Frankfurt« von Julia Kröhn:
1. Die Gedanken sind frei
2. Die Welt gehört uns
Autoren/Hrsg.
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1. KAPITEL
»Meine liebe Klara hielt sich gerne unter Menschen auf und war immer freundlich zu ihnen. Sie ließ sich nie aus der Ruhe bringen, reagierte stets geduldig, schenkte nicht nur unserer Kundschaft ihr feines Lächeln, sondern auch dem Postboten und den Lastenträgern. Doch insgeheim war sie am glücklichsten, wenn sie sich zurückziehen und es sich mit einem Buch gemütlich machen konnte. Natürlich gehörte dazu auch eine große Tasse mit heißer Schokolade, die unter einer cremigen Sahnewolke dampfte.«
Ella entging nicht, dass die Stimme ihres Vaters zitterte. Als er vor das offene Grab am Höchster Friedhof getreten war, hatte er kurz gezögert, die Verstorbene zu würdigen. Doch sobald er seine Rede begonnen hatte, wollte er nicht wieder aufhören. »Klaras Liebe zu Büchern war beständig und tief. Bücher waren ihr kostbar. Wenn sie nach einem griff, das gerade frisch von der Buchbinderei kam, streichelte sie zärtlich den Leineneinband, und wenn sie es aufschlug, meinte man, dass sie nicht bloß mit wachem Geist die Zeilen las, nein, mit allen Sinnen schien sie das Buch in dieser Welt willkommen zu heißen. Sie labte sich am süßlichen Duft der Seiten und jenem leisen Knistern beim Umblättern, das in ihren Ohren wie ein himmlischer Chor klang.« Julius Reichenbach hielt inne, ahnte wohl selbst, dass der Grat zwischen Würdigung und Übertreibung schmal war. Etwas weniger schwärmerisch, jedoch entschlossen fuhr er fort: »Ich mag vor der Welt als Besitzer unserer Verlagsbuchhandlung gelten, aber die Herrin über unser war stets Klara. Unvergessen bleibt, wie sie, in edlen Brokat gekleidet, unsere Autoren empfing, um sie sodann ins rote Eckzimmer unseres Hauses zu führen, zur Einleitung ein Stück auf dem Klavier zu spielen und schließlich ein anregendes Gespräch über Literatur und Philosophie anzustoßen. Sie beteiligte sich daran stets mit Eifer, bewies immer Feingefühl und Bildung, spielte sich jedoch nie in den Vordergrund.«
Seine Stimme klang nun gepresst. Die Worte mussten ihm schwerfallen, ja selbst das Atemholen war inzwischen eine Anstrengung.
Ella hatte kein Mitleid mit ihm. Warum machst du dich wichtig, obwohl es dir nicht zusteht, am offenen Grab zu stehen und auch nur ein Wort über Mutter zu verlieren?
Der Drang, ihn von dort zu verjagen, wurde beinahe übermächtig. Nur weil sie Luise, ihre zweijährige Schwester, auf dem Arm hatte, unterdrückte sie ihn. Zum Glück hielt die Kleine endlich still und wollte nicht länger dem Eichhörnchen, das dort drüben am Gebüsch eine Eichel verspeiste, hinterherjagen. Stattdessen beobachtete sie den Vater und die anderen Trauergäste aus großen, dunklen Augen. Ihr erschien das alles wohl wie ein interessantes Spiel, Ellas Trauer um die Mutter teilte sie nicht. Als die beiden Reichenbach-Mädchen damals nach einer der ersten schlimmen Bombennächte die Frankfurter Innenstadt verlassen hatten, um für eine Weile bei den Großeltern in Höchst zu leben, war Luise noch kein Jahr alt gewesen. Die Erinnerung an die Mutter, die sie nur unregelmäßig besucht hatte, war rasch verblasst, und als sie im Sommer nach Kriegsende zurück zu den Eltern kamen, war Klara Reichenbach schon so geschwächt gewesen, dass sie Luise kaum mehr über den Kopf streicheln konnte.
»Ich will außerdem betonen, dass es unsere Verlagsbuchhandlung ohne Klara nie gegeben hätte«, fuhr der Vater unterdessen fort. »Gewiss, als wir heirateten, war aus dem Großhandelsgeschäft für Indigo- und Farbwaren, das mein Urgroßvater einst in Bockenheim gegründet hat, längst ein Buchgeschäft hervorgegangen. Doch nur weil sie selbiges mit so viel Umsicht, Geschick und Energie leitete und formte, konnte der Reichenbachverlag mit angeschlossener Sortimentsbuchhandlung gegen die Konkurrenz bestehen. Nie fehlte es ihr an weiser Voraussicht, welches Druckwerk höchsten Gewinn oder literarischen Ruhm verspräche, nie an nüchterner Berechnung, die in unserem Gewerbe Hand in Hand mit der Leidenschaft geht.«
Ella presste die Lippen zusammen. Wie war es möglich, dass er an seinen Worten nicht erstickte? Dass alle anderen nun ergriffen nickten?
Vor dem Krieg hätten sich wohl an die hundert Trauergäste eingefunden, um Klara Reichenbach das letzte Geleit zu geben. Ein halbes Jahr nach Kriegsende waren es kaum mehr als ein Dutzend. Früher hätte man elegante Trauerkleidung getragen, aber diese war nun Mangelware. Herr Kaffenberger, der einst für den Vertrieb des Reichenbachverlags zuständig gewesen war, trug keinen schwarzen Frack, sondern einen Militärmantel, von dem die Epauletten entfernt worden waren. Zeit ihres Lebens hatte er eine Schwäche für Klara Reichenbach gehabt, wenngleich er diese nie deutlicher bewiesen hatte als mit einem formvollendeten Handkuss. Seine steife Haltung und die übertriebenen Manieren ließen an einen Bürger des Kaiserreichs denken, und so fehl am Platz er bereits in Hitlers Deutschland gewirkt hatte – in der Trümmerlandschaft, die davon übrig geblieben war, machte er erst recht einen verlorenen Eindruck.
Aus der Kaiserzeit schien auch das Kleid zu stammen, das eine alte Dame trug, während das Gebilde, das eine andere um ihren Kopf gebunden hatte – es war Hertha Brinkmann, eine ihrer treuesten Kundinnen –, wohl aus Teilen eines Regenschirms gefertigt worden war.
Ella selbst hatte nichts Schwarzes zum Anziehen gefunden und trug darum einen grauen Kittel, dessen trostloser Anblick von ihrem verstrubbelten Haar verstärkt wurde. Erst gestern Abend hatte sie sich ihre zwei dicken dunkelblonden Zöpfe abgeschnitten. Ihre Mutter hatte ihr Haar geliebt, aber da sie nun nie wieder darüber streichen würde, weckte es nur schmerzhafte Erinnerungen. Störend war allerdings, dass sich die nun knapp schulterlangen Haare lockten und ihr immer wieder ins Gesicht fielen, sodass sie sie ständig aufs Neue hinter die Ohren schieben musste.
Ellas Großeltern hatten auch keine schwarze Kleidung, ihre braunen Schuhe hatten sie heute Morgen mit dem Ruß vom Küchenherd geschwärzt. Sie waren die Einzigen, die während der Trauerrede ihres Schwiegersohns nicht ergriffen nickten, wenngleich Ella nicht sicher war, ob die Lügen des Vaters auch ihnen zuwider waren. Schon zu deren Lebzeiten waren sie von der Liebe ihrer Tochter zu Büchern befremdet gewesen.
Gewiss, genau genommen log der Vater nicht. Er ließ nur das Entscheidende weg, als würde er auch Klaras Leben umfärben wollen, nicht mit Ruß, jedoch mit den hellsten, freundlichsten Farben. Als er von Klaras Gesprächen mit den Autoren berichtete, die entweder im roten Eckzimmer oder gar im Boudoir der Verlegergattin stattgefunden hatten, hätte er hinzufügen müssen, dass es beide Räume nicht mehr gab, waren sie doch wie viele Frankfurter ausgebombt worden.
Ebenso verschwieg Julius Reichenbach, dass Klaras Weg, so kraftgeladen und entschlossen sie ihn auch beschritten hatte, von unzähligen Niederlagen und Rückschlägen gepflastert gewesen war. Hochwertige Bücher, schöngeistige Literatur, auch kunstgeschichtliche Tafelwerke hatte sie verlegen wollen, aber nach der Wirtschaftskrise im Jahr 1929 war dieser Traum ausgeträumt. Anstelle opulent ausgestatteter Kataloge gab es nur mehr einfache Verzeichnisse, und um besagte schöngeistige Literatur zu finanzieren, mussten sie mit anderen Titeln Kundschaft anlocken.
Warum fiel ihr ausgerechnet dieses Buch ein?
Lange Jahre konnte sich der Reichenbachverlag jedenfalls nur über Wasser halten, weil gesundheitliche Themen in Mode kamen und sie auf populärwissenschaftliche und medizinische Fachbücher setzten – über Tropen- und Seuchenmedizin, Dermatologie und Geschlechtskrankheiten, die zunehmend gründlich erforscht wurden.
»Wir müssen Studenten als Leserschaft gewinnen«, hatte Klara zu ihrem Vater gesagt, als dieser sich angesichts des Themas sträubte. Und Ella, die damals erst zwölf Jahre alt gewesen war, hatte sie kurzerhand erklärt, was Geschlechtskrankheiten waren. Worte waren für sie ein Schatz, den man verschwendete, nicht hortete und schon gar nicht versteckte. Und deswegen verkaufte sie die Bücher über Geschlechtskrankheiten mit gleicher Selbstverständlichkeit wie jene seichten Romane, die ihre treue Kundin Hertha Brinkmann so gerne las.
»Und wie sie allen in den vielen Nächten im Luftschutzkeller stets Beistand leistete!«, fuhr der Vater fort und versetzte damit selbst Hildegard in Rührung. Die treue Buchhändlerin arbeitete seit Jahrzehnten für die Reichenbachs und hatte sich Tränen selbst dann verkniffen, als ihr einziger Sohn als vermisst gemeldet wurde. Nun gut, auch jetzt liefen ihr keine Tränen über die Wangen, aber die Mittfünfzigerin nickte energisch. »Stets hatten sich jede Menge Bücher in ihrem Luftschutzgepäck befunden. Ob Dr. Karl Ploetz’ , die einbändige Dünndruckausgabe von Hölderlins Werken, darin enthalten , oder Boethius’ . Wenn die Angst übermächtig wurde, die Luft zu brennen schien, wenn die Wände bebten und die Bombeneinschläge immer näher kamen – sie hörte nicht auf, mit fester Stimme vorzulesen. Und nicht nur im Bunker trotzte sie der Angst. In manchen Nächten weigerte sie sich, sich zu verkriechen, schlief lieber auf einer dünnen Matratze in den Geschäftsräumen, um einen Brand notfalls rechtzeitig löschen zu können. Als einmal die Fensterscheiben platzten, ging ein Scherbenregen auf sie nieder, doch sie verband stoisch ihre Wunden und fegte für den nächsten Tag Büro und Verkaufsraum.«
Jemand schluchzte laut, aber Ella brachte keinen Ton...