Kristof | Die dritte Lüge | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Kristof Die dritte Lüge

Roman
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-492-97242-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-492-97242-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Lucas kehrt nach Jahrzehnten zurück in die Stadt seiner Kindheit. Er erinnert sich an die Jahre der Einsamkeit, getrennt von seinem Zwillingsbruder Claus, an den Krieg, an den gemeinsamen Unterschlupf bei der Großmutter »Hexe«. Nun sucht er seinen Bruder.

Agota Kristof, geboren 1935 in Csikvánd in Ungarn, verließ ihre Heimat während der Revolution 1956 und gelangte über Umwege nach Neuchâtel in die französischsprachige Schweiz. Als Arbeiterin in einer Uhrenfabrik tätig, erlernte sie die ihr bis dahin fremde Sprache und schrieb auf Französisch ihre erfolgreichen Bücher, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde mit zahllosen Preisen geehrt wie 2001 mit dem angesehenen Gottfried-Keller-Preis, dem Österreichischen Staatspreis für Literatur sowie dem Kossuth-Preis in ihrem Geburtsland Ungarn. Agota Kristof starb Ende Juli 2011 nach längerer Krankheit in Neuchâtel.

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Ich bin in der kleinen Stadt meiner Kindheit – im Gefängnis. Es ist kein richtiges Gefängnis, es ist eine Zelle im Gebäude der Ortspolizei, einem Haus, das wie alle anderen Häuser der Stadt einstöckig ist. Meine Zelle muß früher eine Waschküche gewesen sein, Tür und Fenster gehen auf den Hof hinaus. Innen vor dem Fenster hat man später Gitterstäbe angebracht, damit man nicht an die Scheibe herankommt und sie zerschlagen kann. Eine Waschgelegenheit mit Klosett ist durch einen Vorhang abgetrennt. An einer der Wände stehen, am Boden festgeschraubt, ein Tisch und vier Stühle, an der gegenüberliegenden Wand sind vier Betten befestigt, die man herunterklappen kann. Drei davon sind heruntergeklappt. Ich bin allein in der Zelle. Es gibt nur wenige Verbrecher in dieser Stadt, und wenn es mal einen gibt, bringt man ihn gleich in die Kreisstadt, zwanzig Kilometer weiter. Ich bin kein Verbrecher. Ich bin nur hier, weil meine Papiere nicht in Ordnung sind, mein Visum ist abgelaufen. Und ich habe auch Schulden gemacht. Morgens bringt mir der Wärter das Frühstück, Milch, Kaffee, Brot. Ich trinke ein paar Schluck Kaffee, dann gehe ich zum Duschen. Mein Wärter verzehrt den Rest meines Frühstücks und säubert die Zelle. Die Tür bleibt offen, ich kann in den Hof gehen, wenn ich Lust dazu habe. Es ist ein Hof mit hohen Mauern ringsum, die mit Efeu und wildem Wein bewachsen sind. Hinter einer der Mauern, links von meiner Zelle, wenn man herauskommt, liegt ein Schulhof. Ich höre die Kinder in den Pausen lachen, spielen und schreien. Die Schule war schon da, als ich noch ein Kind war, ich erinnere mich daran, obwohl ich nie in diese Schule gegangen bin, aber das Gefängnis war damals woanders, daran erinnere ich mich auch, denn da war ich einmal drin. Jeden Morgen und jeden Abend gehe ich eine Stunde im Hof herum. Das habe ich mir in meinen Kindertagen angewöhnt, als ich mit fünf Jahren wieder gehen lernen mußte. Mein Wärter ärgert sich darüber, denn dann sage ich kein Wort und höre auch keine Fragen. Mit den Augen starr auf die Erde blickend und den Händen hinterm Rücken, so mache ich meine Runden, dicht an den Mauern entlang. Der Boden ist gepflastert, aber zwischen den Steinen sprießt Gras. Der Hof ist beinahe quadratisch. Fünfzehn Schritt lang, dreizehn breit. Angenommen, ich mache Schritte von einem Meter Länge, dann hätte der Hof eine Fläche von einhundertfünfundneunzig Quadratmetern. Aber meine Schritte sind bestimmt kürzer. In der Mitte des Hofs steht ein runder Tisch mit zwei Gartenstühlen und an der hinteren Mauer eine Holzbank. Wenn ich mich auf diese Bank setze, sehe ich den größten Teil des Himmels meiner Kindheit. Schon am ersten Tag hat mich die Frau aus der Buchhandlung besucht und mir meine Sachen und auch eine Gemüsesuppe gebracht. Sie kommt weiterhin jeden Tag um die Mittagszeit mit ihrer Suppe. Ich sage ihr, daß ich hier genug zu essen kriege, der Wärter bringt mir zweimal täglich eine komplette Mahlzeit aus dem Restaurant gegenüber, aber sie kommt immer wieder mit ihrer Suppe. Ich esse höflichkeitshalber ein wenig davon, dann gebe ich den Topf an meinen Wärter weiter, und der ißt den Rest. Ich entschuldige mich bei der Frau für die Unordnung, die ich in ihrer Wohnung hinterlassen habe. Sie sagt zu mir: – Was macht das schon? Meine Tochter und ich haben bereits alles aufgeräumt. Es waren vor allem viele Papiere. Die zerknüllten Blätter habe ich verbrannt und auch alle, die im Papierkorb waren. Die anderen habe ich auf dem Tisch liegen lassen, aber die Polizei war da und hat sie mitgenommen. Ich schweige einen Moment, dann sage ich: – Ich schulde Ihnen noch zwei Monatsmieten. Sie lacht: – Ich habe viel zuviel für die kleine Wohnung verlangt. Aber wenn Sie unbedingt wollen, können Sie das ja später bezahlen, wenn Sie wiederkommen. Nächstes Jahr vielleicht. Ich sage: – Ich glaube nicht, daß ich wiederkomme. Die Botschaft meines Landes wird es bezahlen. Sie fragt mich, ob ich etwas brauche, ich sage: – Ja, Papier und Bleistifte. Aber ich habe überhaupt kein Geld mehr. Sie sagt: – Ich hätte von selbst daran denken sollen. Am nächsten Tag kommt sie mit ihrer Suppe, einem Paket kariertem Papier und Bleistiften. Ich sage zu ihr: – Danke. Die Botschaft wird es Ihnen zurückzahlen. Sie sagt: – Sie reden immer nur vom Bezahlen. Ich möchte, daß Sie von was anderem reden. Zum Beispiel, was schreiben Sie? – Was ich schreibe ist ohne Belang. Sie läßt nicht locker: – Mich würde interessieren, ob Sie wahre Geschichten schreiben oder erfundene. Ich antworte ihr, daß ich versuche, wahre Geschichten zu schreiben, aber ab einem bestimmten Moment wird die Geschichte unerträglich, eben weil sie wahr ist, und dann muß ich sie ändern. Ich sage ihr, daß ich versuche, meine eigene Geschichte zu erzählen, aber daß ich es nicht kann, ich habe nicht den Mut dazu, sie tut mir zu weh. Also mache ich alles schöner und beschreibe die Dinge nicht, wie sie sich zugetragen haben, sondern so, wie ich sie mir gewünscht hätte. Sie sagt: – Ja, es gibt Leben, die sind trauriger als das traurigste Buch. Ich sage: – Das stimmt. Kein Buch, auch wenn es noch so traurig ist, kann so traurig sein wie ein Leben. Nach kurzem Schweigen fragt sie: – Ihr Hinken, war das ein Unfall? – Nein, eine Krankheit, als ich noch klein war. Sie fügt hinzu: – Man merkt es kaum. Ich lache. Ich habe wieder etwas zum Schreiben, aber ich habe nichts zu trinken und auch keine Zigaretten, außer den zwei oder drei, die mir mein Wärter nach den Mahlzeiten spendiert. Ich bitte um eine Unterredung mit dem Polizeioffizier, der mich unverzüglich empfängt. Sein Büro ist im oberen Stock. Ich gehe hinauf. Ich setze mich auf einen Stuhl ihm gegenüber. Er hat rotes Haar, ein Gesicht voller Sommersprossen. Auf dem Tisch, vor ihm, ist eine Schachpartie im Gange. Der Offizier blickt auf das Spiel, rückt einen Bauern vor, notiert den Zug in einem Heftchen, blickt mit seinen hellblauen Augen zu mir auf: – Was wünschen Sie? Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Es wird noch ein paar Wochen dauern, vielleicht sogar einen Monat. Ich sage: – Ich habe es nicht eilig. Ich fühle mich sehr wohl hier. Mir fehlen nur ein paar Kleinigkeiten. – Zum Beispiel? – Wenn Sie zu meinen Haftkosten noch einen Liter Wein und zwei Päckchen Zigaretten pro Tag auf die Rechnung setzen könnten, so hätte die Botschaft bestimmt nichts dagegen. Er sagt: – Das nicht. Aber es wäre schlecht für Ihre Gesundheit. Ich sage: – Wissen Sie, was einem Alkoholiker passieren kann, dem man plötzlich allen Alkohol entzieht? Er sagt: – Nein. Und es ist mir auch scheißegal. Ich sage: – Ich kann Delirium tremens kriegen. Ich kann jeden Moment sterben. – Was Sie nicht sagen! Er blickt wieder aufs Spiel. Ich sage zu ihm: – Der schwarze Springer. Er starrt weiter aufs Spiel: – Warum? Ich verstehe nicht. Ich rücke den Springer vor. Er notiert es in seinem Heft. Er überlegt lange. Er nimmt den Turm. – Nein! Er stellt den Turm wieder hin, sieht mich an: – Sind Sie ein guter Spieler? – Ich weiß nicht. Ich habe lange nicht gespielt. Auf jeden Fall spiele ich besser als Sie. Er wird puterrot. – Ich habe erst vor drei Monaten angefangen. Und ohne jemanden, der es mir beibringt. Könnten Sie mir ein paar Stunden geben? Ich sage: – Gerne. Aber Sie dürfen sich nicht ärgern, wenn ich gewinne. Er sagt: – Gewinnen ist mir nicht wichtig. Ich will lernen. Ich stehe auf: – Kommen Sie mit Ihrem Spiel, wann immer Sie wollen. Am liebsten morgens. Dann hat man noch einen klaren Kopf, das ist besser als am Nachmittag oder Abend. Er sagt: – Danke. Er schaut wieder aufs Spiel, ich warte, ich huste. – Und wie ist es mit dem Wein und den Zigaretten? Er sagt: – Kein Problem. Ich werde Anweisung geben. Sie kriegen Ihre Zigaretten und Ihren Wein. Ich verlasse den Raum des Offiziers. Ich gehe die Treppe hinunter, ich bleibe im Hof. Ich setze mich auf die Bank. Es ist ein sehr milder Herbst in diesem Jahr. Die Sonne geht unter, der Himmel färbt sich orange, gelb, violett, rot und nimmt noch andere Farben an, für die es keine Worte gibt. Ich spiele fast jeden Tag etwa zwei Stunden mit dem Offizier Schach. Es sind lange Partien, der Offizier überlegt viel, schreibt alles auf, verliert immer. Ich spiele auch Karten mit meinem Wärter, nachmittags, wenn die Frau aus der Buchhandlung ihr Strickzeug einpackt und rübergeht, um ihren Laden zu öffnen. Die Kartenspiele in diesem Land unterscheiden sich von allen anderen in der Welt. Obwohl sie einfach sind und viel Glück mitspielt, verliere ich jedesmal. Wir spielen um Geld, aber da ich keins habe, schreibt mein Wärter meine Schulden auf einer Schiefertafel an. Nach jeder Partie lacht er laut und wiederholt immer: – Glück im Spiel! Glück im Spiel! Er ist jung verheiratet, seine Frau kriegt in ein paar Monaten ein Kind. Er sagt oft: – Wenn es ein Junge wird, und wenn Sie noch da sind, wisch ich alles aus. Er spricht oft von seiner Frau, er sagt, wie...


Kristof, Agota
Agota Kristof, geboren 1935 in Csikvánd in Ungarn, verließ ihre Heimat während der Revolution 1956 und gelangte über Umwege nach Neuchâtel in die französischsprachige Schweiz. Als Arbeiterin in einer Uhrenfabrik tätig, erlernte sie die ihr bis dahin fremde Sprache und schrieb auf Französisch ihre erfolgreichen Bücher, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde mit zahllosen Preisen geehrt wie 2001 mit dem angesehenen Gottfried-Keller-Preis, dem Österreichischen Staatspreis für Literatur sowiedemKossuth-Preis in ihrem Geburtsland Ungarn. Agota Kristof starb Ende Juli 2011 nach längerer Krankheit in Neuchâtel.



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