E-Book, Deutsch, Band 1, 352 Seiten
Krist Wut
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95819-104-4
Verlag: Midnight
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 1, 352 Seiten
Reihe: Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller
ISBN: 978-3-95819-104-4
Verlag: Midnight
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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EINS
»Aber das machen doch alle!« Bereits in der Sekunde, in der die Worte über seine Lippen gingen, wusste Leif, dass sie dumm waren. Der Richter in seiner schwarzen Robe beugte sich vor. Er lehnte die Unterarme auf sein Pult und lächelte. Der Ausdruck in seinen Augen sprach eine andere Sprache. »Mein lieber Herr Nehring«, sagte er nonchalant, »es geht hier nicht darum, ob es alle machen.« Mahnend hob er den Zeigefinger. »Es geht darum, dass Sie es gemacht haben. Dass Sie dabei erwischt worden sind. Dass Sie hier heute vor mir stehen.« Das verdanke ich einem saudummen Zufall, dachte Leif. Er hielt den Mund. Der Richter hatte recht, so viel war klar. Er war mit dem Stoff erwischt worden, nicht Alina, nicht Robbie, auch nicht Raphael. Er stand im Saal III des Berliner Amtsgerichts in Charlottenburg. Und er hatte keine Ahnung, wie schlimm das Urteil ausfallen würde. Aber der Gedanke daran, dass die Vollzugsanstalt nur eine Seitenstraße weit vom Gerichtssaal entfernt lag, verstärkte seine Beklemmung. »Eine Bewährungsstrafe im schlimmsten Falle«, hatte Dr. Klaus Holzer beruhigt. Der kleine, dickliche Rechtsverdreher mit mehr Schuppen auf den Schulterpolstern seines Jacketts als Haaren auf dem Kopf hatte bereits vor Jahren einmal Leifs Vater vertreten. Der Vorfall lag so viele Jahre zurück, dass Leif sich nicht mehr daran erinnern konnte, worum es bei dem Prozess gegangen war. Aber eines hatte er behalten: Sein Vater war als freier Mann aus dem Gerichtssaal gegangen. Also verteidigte Holzer nun Leif, und man sollte meinen, ein erfahrener Anwalt würde wissen, wovon er sprach. »Wenn Sie Glück haben, sogar nur einige Tagessätze.« Genau da lag für Leif das Problem: In den letzten Wochen hatte es keineswegs so ausgesehen, als sei das Glück auf seiner Seite. Nicht aufregen. Er atmete durch. Bloß nicht noch ein Patzer. »Seien Sie nicht überheblich«, hatte Holzer vor Verhandlungsbeginn geraten, wenige Minuten bevor sie das Gerichtsgebäude betreten hatten. Leif hatte einen letzten Blick auf das Gefängnis schräg gegenüber geworfen. »Zeigen Sie Reue. Dann können Sie mit Milde rechnen.« Leif wich dem forschenden Blick des Richters aus, als könne dieser in den Augen der Angeklagten deren Gedanken lesen. Das war natürlich absurd, genauso wie der Eindruck, der Richter und seine beiden Schöffen seien in ihren schwarzen Roben Henker, die nur noch darüber zu befinden hatten, auf welche Art das Todesurteil vollstreckt werden sollte. Er sah aus dem Fenster auf den Platz vor dem Gerichtsgebäude. Ein Trüppchen Demonstranten schob sich in sein Blickfeld. Die jungen Leute stimmten sich auf den Umweltgipfel ein, der schon bald in Berlin beginnen sollte. Leif hatte sich noch nie besonders für die Forderungen der Umweltschützer interessiert, und auch jetzt drangen die Parolen, die Aufschluss hätten geben können, nicht durch die massiven Glasscheiben. Jedenfalls waren die Demonstranten mit einer Menge Enthusiasmus bei der Sache, selbst die pralle Sonne, die die Luft über dem Asphalt zum Flimmern brachte, hielt sie nicht davon ab, ihre Plakate in die Höhe zu halten: Stoppt endlich den Raubbau an Mutter Erde! Und: Wie viele Hurricans denn noch? Das ist unser Armageddon! Die Stimme des Richters, des Henkers, lenkte seine Aufmerksamkeit zurück in den Saal. Die Backsteinwände des gründerzeitlichen Altbaus schirmten vor der Hitze draußen ab. Hier drinnen war es kalt. Eiskalt. Eine Gänsehaut überzog Leifs Arme, vielleicht auch, weil der Richter gerade sagte: »Die Staatsanwaltschaft fordert ein halbes Jahr auf Bewährung.« Leif hielt die Luft an. Der Richter blätterte in einer Akte. »Aber Sie sind ein junger Mann, Herr Nehring. Sie studieren …« Er schlug eine Seite um. »… Betriebswirtschaft und haben Ihre Zukunft noch vor sich. Sie sind bisher noch nicht straffällig geworden. Im Übrigen scheint mir, besaßen Sie das Haschisch nur für den Eigenbedarf.« Er rückte seine Brille zurecht und sah auf Leif hinab. »Was nicht bedeuten soll, dass wir den Besitz und den Konsum von Drogen gutheißen. Sie haben gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen, daran gibt es nichts zu beschönigen.« Er seufzte, seine Augen verengten sich, und seine Stimme klang resigniert. »Aber so etwas lässt sich heutzutage wohl nicht mehr vermeiden …« Mit einem Ruck klappte er die Akte zu, straffte seine Haltung und war wieder ganz der Henker, der jeden Augenblick das Beil fallen lassen würde. Leif wagte noch immer nicht, Luft zu holen. »Wissen Sie, was ich für das Beste halte?« »Nein«, presste Leif hervor. Es klang wie ein atemloses Pfeifen. »Wir werden Ihnen eine Verwarnung erteilen und das Verfahren einstellen.« Erneut wies der Richter mahnend mit dem Finger zur Decke. Leif kam sich klein vor, eingeschüchtert und so verdammt schuldig. »Allerdings mit gewissen Auflagen«, fuhr der Richter fort. »Wir wollen Sie nicht bestrafen. Wir wollen Ihnen bewusst machen, dass Ihr Verhalten falsch war.« Leif hatte keine Ahnung, worauf der Richter hinauswollte. Fragend sah er zu seinem Anwalt, doch der nickte nur aufmunternd. Ein paar Schuppen regneten auf die Ledertasche herab, die auf dem Tisch lag. »Daher ergeht gemäß Paragraph 13, Absatz 2, SOG folgendes Urteil.« Der Richter hielt kurz inne und vergewisserte sich, dass die Protokollantin, die unterhalb des Richterpults saß, alles mitbekam. Ihre Finger schwebten wartend über der Tastatur eines kleinen Laptops. Der Richter räusperte sich. Wie lange wollte er das Drama noch in die Länge ziehen? »Der Angeklagte Leif Nehring wird zur Ableistung von 60 Sozialstunden verurteilt. Dienstantritt ist der kommende Montag, und zwar beim Verein Obdachlose e.V. in Berlin-Charlottenburg, einer dieser Strafsache angemessenen Einrichtung. Nach Erfüllung der Auflagen wird das Verfahren gegen den Angeklagten eingestellt.« Der Hammer des Richters senkte sich auf sein Pult herab, ein leises Pochen, damit war der Fall abgeschlossen. »Gegen dieses Urteil besteht die Möglichkeit der …« Leif blendete sich aus. 60 Sozialstunden!, wiederholte eine Stimme in seinem Kopf. 60! Am Anfang war nur von einer halben Stunde die Rede gewesen. Alina hatte gesagt: »Nur für eine halbe Stunde, Leif.« Dabei hatte sie ihn mit ihren Augen angeschaut, die so dunkel waren, dass man sich darin verlaufen konnte. Sie hatte ihr verführerischstes Lächeln aufgesetzt und mit den Wimpern geklimpert, wie um ein Versprechen zu geben. Das beherrschte sie hervorragend. Doch aus den 30 Minuten waren 60 Stunden geworden. Abzuleisten ab dem kommenden Montag. »Aber …«, wandte sich Leif an seinen Anwalt und verstummte. Im Gerichtssaal war es mucksmäuschenstill. Selbst das Klackern der Tastatur war verstummt. »Pst«, machte Holzer. Zwischen seinen feisten Lippen klang es wie das Grunzen eines Schweines. »Prffft.« Auch der Richter hatte Leifs Bemerkung vernommen. Er fühlte sich angesprochen. »Bitte?« Leifs Blick fiel aus dem Fenster. Die Umweltschützer waren weitergezogen. Eines der Plakate lag zerbrochen auf den Pflastersteinen. Manchmal musste man Opfer bringen. Bin ich das Opfer? Wieso eigentlich nur ich? Wieso nicht der Dealer, den man ebenso erwischt hatte? Aus unerfindlichen Gründen hatte Leif nichts über dessen Verhandlung in Erfahrung bringen können. Aber sei ehrlich, das ist nicht das Problem, um das es geht. Es geht um … Die Wurstfinger des Anwalts legten sich auf Leifs Arm. Wollte er ihn zurückhalten oder ermuntern? Was soll’s. Jetzt war’s ohnehin zu spät. »Mein Urlaub …«, presste Leif hervor, als wäre damit alles gesagt. Von der Seite sah er, wie Holzer die Augen verdrehte. Der Richter schien zu verstehen. »Ihr Urlaub?«, wiederholte er. Leif nickte beklommen. Der Richter lächelte. »Lassen Sie mich raten? Sie haben Urlaub gebucht.« Leif presste die Lippen aufeinander. Bohr nur weiter in der Wunde. Der Richter zeigte sein gütiges Lächeln. Er hob die Schultern. »Tja, das hätten Sie sich eher überlegen müssen. Bevor Sie die 250 Gramm Haschisch kauften.« Habe ich nicht, wollte Leif brüllen. Er hatte doch nur seiner Freundin einen Gefallen tun wollen. Er schaute über die Schulter. Alina saß hinter ihm auf der Besucherbank und lächelte spitzbübisch unter ihrem schwarzen Pagenkopf, so wie sie an jenem Abend gelächelt hatte, als sie ihn in eine Seitenstraße des Bahnhofs Zoo geschickt hatte. Es ist nicht mein Haschisch gewesen. Er rauchte das Dreckszeugs nicht einmal. Vor einigen Jahren hatte er es probiert, aber davon lediglich unerträgliche Kopfschmerzen bekommen, die eine ganze Nacht lang nicht wieder verschwinden wollten. Seitdem konnte er Hasch nicht einmal mehr sehen, geschweige denn rauchen. Alina dagegen schwor auf Gras. »Es bringt mich runter nach den anstrengenden Vorlesungen an der Uni«, pflegte sie zu sagen, während sie sich abends auf dem Sofa eine Tüte drehte. Sie zwinkerte ihm zu. Das fiel ihr nicht schwer, natürlich nicht, denn schließlich hockte nicht sie auf der Anklagebank. Es gab Tage, da fragte er sich, ob der Preis nicht zu hoch war. Robbie, sein bester Kumpel, der neben Alina saß, deutete mit der rechten Hand ein verstohlenes V an. Aber Leif...