E-Book, Deutsch, 270 Seiten
Kreller Salzruh
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7317-6236-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6236-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susan Kreller, 1977 in Plauen geboren, promovierte in Germanistik. Sie ist Gewinnerin des Kranichsteiner Jugendliteraturstipendiums, wurde bereits vier Mal fu?r den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und hat ihn 2015 fu?r Schneeriese gewonnen. 2017 erschien Pirasol, ihr hochgelobtes Romandebu?t fu?r Erwachsene. Sie arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
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SIE STEHT AM FENSTER des Frühstücksraums, den Leib gespannt, und nur die trübe Scheibe trennt sie noch vom Wald, der Garten bloß, das braune Bündel Ackerfurchen. Sie weiß, das Mädchen hat die Fenster nicht geputzt, Maria Rosa hat die Fenster nicht geputzt, doch lass: Für heute soll es gut sein, denn draußen liegt der Herbst jetzt licht und klar, hinterm Acker sind die Bäume gut zu sehen, die Kiefern, Eichen, gottverdammten Altmarkbuchen.
Totenland.
Moränenland.
Ganz langsam dreht die Wirtin ihren Kopf zur Seite, hat die Handglocke zwischen den Fingern, eine gut erhaltene Ellis Bell aus Yorkshire-Messing, nur der Rand ist mit den Jahren etwas scharfkantig geworden, was soll’s: Weiter geht der Blick vom Fenster weg nach rechts über den blauen Vorhang, bis sich mit dem Blick die ganze Wirtin dreht, sie wendet sich, doch nicht zum Guten und nur so lang, bis sie die Gäste der Pension Bertoldi sehen kann.
Das Lächeln halten, kurz noch.
Frieden halten.
Höflich sein zu denen an den Tischen.
Und lautlos räuspert sich die Wirtin, Geräusche braucht sie keine, sie räuspert sich, indem sie aufhört zu lächeln. Erst dann läutet sie die Handglocke, um die Anwesenden um ein wenig Aufmerksamkeit zu bitten, und der schwere Klöppel muss ein paarmal gegen den Rand schlagen, bis die Gäste von ihren Tellern und Zeitungen und unnützen Geräten aufblicken und die Wirtin etwas sagen kann, sie sagt: »Bleiben Sie bis zum Mittag in der Pension, gehen Sie nicht vor die Tür, es ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, eine reine Vorsichtsmaßnahme, also: Bleiben Sie bis zum Mittag im Haus, es liegt eine mittlere Gefahrensituation vor, eine Schutzmittelsituation, die Luft da draußen ist vorübergehend nicht sicher.«
Sie wartet eine Weile auf das, was kommen wird, was immer kommt, sie könnte Geschichten erzählen. Und als sich einige Münder dann tatsächlich zum Nein oder Warum öffnen und Tisch zwei sogar zu einer jämmerlichen Revolution ansetzt, schickt die Wirtin hinterher: »Es hört auf, wenn es aufhört, soll’s sein, um Schlag zwölf, und wir tun unser Glücklichstes, damit Ihnen die Zeit nicht lang wird, das Mädchen serviert Ihnen ein ausreichend großes Freigetränk, frisch und regional, aber sehen Sie, es liegt nicht in unseren Händen.«
Sie hat sich oft daran geweidet, an diesen kleinen Sekunden, nachdem man glücklich gesagt hat, an der Wucht, mit der das zarte Wort an den Gesichtern der anderen rüttelt, weil es sie an etwas erinnert, an etwas Vergebliches oder Augenblickliches oder manchmal, oft genug, an nichts. Es gibt nichts Besseres, als in diesem Moment in die Gesichter zu sehen, nur deshalb sagt sie es ja. Aber die Wirtin schafft immer nur eins auf einmal, bloß ein Gesicht, das sie mit ihren Lidern hält wie mit einer Zuckerzange, und heute ist es das Gesicht der blonden Buchtinger von Tisch vier: die Haut gescheckt, die Augen trüb wie blinde Spiegel, als das Wörtchen glücklich fällt, so als könnte die Frau, als könnte Tisch vier partout nichts damit anfangen. Ein Gläschen Sekt nimmt die Verlebte aber trotzdem, sie reißt es dem Zimmermädchen Maria Rosa, das jetzt seine Runde macht, förmlich vom Tablett und sieht dabei aus, als könnte sie mit Sekt zur Beschwichtigung entschieden etwas anfangen. Der Sekt wird es richten, er ist, wie er ist: lauwarm, klebrig und nicht übertrieben regional.
Es ist ruhig jetzt, an fast allen Tischen jedenfalls, und auch der Aufstand an der Zwei ist stiller geworden, obwohl der Mittag noch stattliche vier Stunden weit weg ist. Aber die Wirtin hat nichts anderes erwartet. Die Buchtinger von Tisch vier zum Beispiel muss ohnehin nicht mehr vor die Tür, denn sie ist in die Pension gekommen, um ihre Toten zu zählen, genauso steht es als Reisegrund im Anmeldeformular, sogar wörtlich und in unbeholfener Schrift: Bin hier, um meine Toten zu zählen, in Klammern: Geschäftsreise.
Und Tisch eins, was wird Tisch eins heute vorhaben? Nichts, das sieht die Wirtin von hier, das könnte sie mit geschlossenen Augen erkennen. Chemiker in Leuna, einer mit Laborkittel, einer, der Paraffine kennt, dabei wollte sie das gestern gar nicht wissen. Höchstens dreißig ist Tisch eins, schwarzes Haar, die Kleidung der Verborgenen, und was soll der Scheue schon vorhaben? Noch nie hat er etwas vorgehabt, und es hat auch nie einen Reisegrund gegeben, jedenfalls keinen, der in irgendeiner Weise etwas hergemacht hätte.
Aber sicher kann sie sich nicht sein, und das wird lange so bleiben. Über die Gäste weiß sie nicht viel, nur das, was sie gestern mit ihnen erlebt hat. Das, was sie sieht. Denn um die Korrespondenz kümmert sich Maria Rosa, schon immer hat das Mädchen die Post besorgt, die Wirtin und das Mädchen sind ein eingespieltes Team. Alleine könnte sie die Sache auch gar nicht richten, sie ist heilfroh, dass sie das Mädchen hat.
Froh sieht der Chemiker nicht aus. Mit fest verschränkten Armen, die Hände in die Achselhöhlen geklemmt, blickt er durch seine getönte Brille eindeutig in Richtung Tisch drei, Richtung Paar mit sportlicher Neigung, Richtung Doppelzimmer nach vorne raus, Hauptsache ruhig. Die Wirtin weiß, dass er nur das halbe Doppelzimmer meinen kann, ein brünettes, blutarmes Stück Frauenzimmer leider, aber sie fragt ja keiner.
Auch an den Tischen fünf und sechs ist es still, weiß der Henker warum, es interessiert sie ohnehin nicht, Hauptsache ruhig. Eine Mutter mit Sohn sitzt an Tisch sechs und lässt sich nichts anmerken, auch nicht, dass das Kind telefonisch gar nicht angemeldet war. Die Frau ist Krankenschwester und der Junge, das ahnt die Wirtin und das weiß sie, der Junge wird hier alles durcheinanderbringen.
Denn das Kind war nicht geplant.
Das Kind ist ein überzähliges Wesen.
Und ja, auch die Fünf ist still, die Goldene Hochzeit, zwei zielstrebige Alte, die noch mal hierher wollten, nun denn, jetzt sind die Herrschaften ja hier. Die Pension ist ihnen vollkommen gleich, das haben sie gestern nach ihrer Ankunft verlauten lassen, aber nicht der Wald Salzruh mit der Ruine. Der Wald ist ihnen keineswegs egal, da wollen die beiden so schnell wie möglich hin, da will der Ehemann hin, zielstrebig ist nur einer von den beiden.
Der Wald mit dem stillgelegten Erholungsheim erinnert ihn an früher, und was früher war, das muss man abschließend besichtigen, man muss es nachträglich zu etwas Gutem oder wenigstens Besserem erinnern. So ungefähr hat er es gestern mit arthritisch erhobenem Zeigefinger behauptet, und überhaupt hat er viel zu viel geredet in seiner sandfarbenen Multifunktionsweste, obwohl er zwischendurch immer wieder gut hörbar nach Luft schnappen musste und auch sonst gesundheitlich nicht unbedingt auf der Höhe war, aber ach. Ach. Es wird sich alles richten. Es hat sich doch immer alles gerichtet. Salzruh ist ihnen sicher. Den Wald werden die beiden noch besuchen können, er wird auch am Nachmittag noch hinterm Garten stehen, hinter dem alten, aufgewühlten Acker, auf dem schon lange nichts mehr wächst.
Vier Stunden noch.
Vier Stunden bis zum Mittag.
Es ist immer noch halbwegs still, abgesehen von ein bisschen Gemurmel vielleicht und abgesehen von ein bisschen Tisch zwei vielleicht, mit dem die Wirtin noch ihre Freude haben wird. Aber einer wie Tisch zwei ist immer dabei. Sie hat einiges mitgemacht. Sie hat vieles aushalten müssen in all den Jahren. Am Ende haben Leute wie Tisch zwei aber immer den Kürzeren gezogen.
Neun Gäste warten im Frühstücksraum, und das Mädchen geht weiter mit dem Tablett herum und wird seine letzten Gläser nicht los, das gelbe Licht geht weiter im Raum herum und wird die verfluchten Gesichter nicht los, es ist ein kleiner, klarer Frühstücksmorgen: Heizungswärme, das Mahlwerk der Gästezähne, der leise Gestank von Bohnenkaffee und vergorenem Fruchtsaftkonzentrat.
Es hat begonnen.
Angefangen hat es.
Und sie, die Wirtin, steht immer noch am Fenster, sie, die Wirtin, hat immer noch die schwere Messingglocke in der Hand und macht sich auf einiges gefasst, vorbereitet ist sie jedenfalls. Und obwohl kaum jemand von den Gästen zu ihr blickt, streckt sie den Rücken gerade, drückt die Schultern nach hinten, hebt das Kinn und sagt aus ihrem langen Schweigen heraus: »Hören Sie bitte, machen Sie sich auf gar keinen Fall irgendwelche Sorgen. Entspannen Sie sich, atmen Sie ruhig ein wenig ein und aus.«
Die Gäste wirken erstaunt, von Sorgen ist hier nie die Rede gewesen, Sorgen haben mit der Sache nichts zu tun. Es geht nur um ein paar kümmerliche Stunden, eine winzige Verschiebung in den faden Fängen des Tages. Die Blicke zeigen ihr: Sorgen macht sich keiner, wenn überhaupt, dann ist man verärgert, gereizt, um einen kleinen, nichtigen Teil Leben gebracht.
Und die Wirtin presst die Finger ihrer linken Hand um die scharfe Glockenkante, beißt die Zähne zusammen, macht der Haut auf den kleinen Gelenken einen brennenden Strich durch die Rechnung, und der blutgewordene Schmerz tropft auf den Boden
eins,
zwei,
drei,
vier,
fünf,
sie hat Salzruh im Rücken, diesen braunen harschen Wald, spürt den Windbruch und die Wurzelmulden, den fernen Weiher, wo die Segge wächst, fühlt die schmächtigen Baumschatten hinter sich, die als Einzige noch den Boden beschmutzen, und Oda Prager, die Wirtin der Pension Bertoldi, denkt: Ja.
Macht euch bitte keine Sorgen.
Denn er wird warten, auf fast jeden von euch.
Der Wald wird auf euch warten.
WIE SIE IHN...