E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Kreller Pirasol
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8270-7925-1
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7925-1
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susan Kreller, geboren 1977 in Plauen, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte über englischsprachige Kinderlyrik. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie 2012 mit dem Jugendbuch »Elefanten sieht man nicht« bekannt. Sie erhielt unter anderem das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium, den Hansjörg-Martin-Preis (2013) und 2015 den Deutschen Jugendliteraturpreis für »Schneeriese«. Sie arbeitet als Schriftstellerin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin und lebt in Bielefeld. »Pirasol« ist ihr Roman-Debüt im Berlin Verlag.
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Gwendolins Mutter wusste, wie man ganz Wilmersdorf in aller Stille auf seine Seite ziehen konnte, Charlottenburg sogar, Grunewald. Sie beherrschte auch die Kunst, nur versehentlich Angelockte wieder loszuwerden, ohne dass diese etwas davon mitbekamen. Es war das reinste Kinderspiel für sie, diese leicht Gewonnenen darüber hinwegzutäuschen, dass sie im Leben mit dem schwarzen Klavier nichts zu suchen hatten. Ein Kinderspiel, am Anfang jedenfalls.
Die Mutter hatte auch die Idee mit der doppelten Kalenderführung, um die Verirrten mit höflichem Bedauern und aller Entschiedenheit genau dorthin zu schicken, wo der Pfeffer wuchs. Gwendolin wusste nicht mehr, wann die Mutter und der Vater angefangen hatten, in jedem Dezember einen Terminkalender mit ausgedachten Namen zu füllen, vier oder fünf Jahre lang, am Ende hatte es damit zu tun, dass man dem Arzt im Erdgeschoss den Beruf verboten und die Praxis zerschlagen hatte, der Ordnung halber, bis er dann eins und eins zusammenzählte und in der Unteren Spree zur Ruhe kam.
Die Eltern erinnerten Samuel Weinreb jahrelang in das Haus zurück, obwohl seine Wohnung längst wieder gefüllt war, sie sprachen seinen schönen Namen aus und erzählten beim Essen von ihm und abends am Klavier, bis sie dann am Ende selbst verschwinden mussten, jeder auf seine Art.
Die Mutter und der Vater teilten sich den Kalender, den sie neben ihren richtigen Kalendern führten, und wenn ein schätzungsweise Verirrter kam, um sich den schönen Künsten hinzugeben oder sein Latein zu verbessern, dann bedauerten sie, weil leider kein einziger Unterrichts- oder Nachhilfetermin mehr frei war.
Es fiel dem Vater schwerer als der Mutter, sich in solchen Momenten das Lachen oder das rote Gesicht zu verkneifen, Gwendolin stand oft dabei und sah sich die Hände der Eltern an, die ruhenden der Mutter und die aufgeregten Fäuste des Vaters. War der Besuch dann endlich gegangen, nickten sich die Eltern kurz zu und schlossen die Tür, vollends zufrieden mit ihren Schlichen, wie sie diese Taten nannten. Sie hielten die Sache mit den Kalendern nicht bis zum Schluss durch, denn als das Geld knapp wurde in den vorletzten Tagen vor dem Ende, da nahm die Mutter auch wieder Verirrte auf und hielt sich, wenn sie am Klavier saßen, vielleicht mit unsichtbaren Händen die Ohren zu.
Die Mutter war besonnener als der Vater, sie verrichtete das Leben sanft und mit spitzbübischen Augen. Sie war eine ausgesuchte Frau, trug Wasserwellen im Haar und wusste, wie man sich wehrte, ohne dass der andere davon Wind bekam. Singen konnte sie so leise, dass es auf eine besondere Weise laut klang, und selbst wenn sie Klavier spielte, versorgte sie die ganze Familie mit einnehmender Stille.
Der Vater konnte sich dagegen so lärmend begeistern oder empören, dass seine aufgeregten Brauen wie Flügel schwangen. Er erzählte von Tschechow und von Wilde und spuckte manchmal vor Verehrung kleine Tropfen in die Luft. Gut vernehmbar lobte er sein rechtes steifes Bein, weil es ihn vom Töten und vom Sterben abhielt, lachte ausschließlich schallend und konnte keine Liebe der Welt für sich behalten.
Aber er fing auch kindswütig zu stottern an, wenn er von den Theatern sprach und dem, was aus ihnen geworden war, und er wusste das Verschwinden von Samuel Weinreb so geräuschvoll zu beklagen, dass die Mutter ihn erschrocken am Arm fassen musste, weil man solche Dinge besser für sich behielt. Wenn seine wenigen verbliebenen Theaterfreunde zu Besuch kamen und das Wohnzimmer nach kleinen Schnäpsen roch, dann konnte er von diesen Angelegenheiten wenigstens flüstern. Bei allen anderen Anlässen war die Mutter dafür zuständig, dass dem Vater nichts passierte.
Sie war meistens in seiner Nähe gewesen, wenn ihm die Worte zu deutlich gelangen, wenn er die Verirrten verdammte oder sich über sie lustig machte. Fast jedes Mal war sie rechtzeitig eingeschritten, wenn er sich um Kopf und Kragen geflucht hatte, und nur dieses eine Mal, dreiundvierzig im Luftschutzkeller, als draußen der März durch die kalten Straßen jagte, nur in dieser einen Nacht kümmerte sie sich um eine weinende Schwangere und sang ihr vor, während der Vater in der Nähe des kleinen Kanonenofens schulterzuckend sein Leben zu Ende brachte und sich nur den Tod für später aufhob.
Es war eine gewöhnliche Sirenennacht, auch wenn auf den Voralarm verzichtet und gleich Vollalarm ausgerufen wurde. Ansonsten schreckten Gwendolin und die Eltern wie üblich aus dem Schlaf und zogen sich hastig alle Kleidungsstücke an, die sie finden konnten, drei oder vier Schichten übereinander. Sie wussten ja nicht, dass das Haus auch Jahre später noch stehen würde, nahezu unberührt und nur in den Geschichten zerstört, die sich in seinen Wohnungen verkrochen hatten. Wie jedes Mal stürzte der Vater zum Bücherregal und bat Gwendolin, ein Buch auszusuchen, aus dem er ihr und der Mutter im Keller vorlesen wollte, ein Ritual, das die Familie schon durch viele dieser Nächte gebracht hatte. Nie im Leben wäre er ohne ein Buch aus dem Haus gegangen, die Bücher, sie hielten und beschützten ihn. So hatte er es oft gesagt. Sie meinten es gut mit ihm.
In dieser einen Bombennacht entschied sich Gwendolin für Heine, für ein Buch mit Gedichten, und später im Keller las der Vater im Petroleumlicht zu dem Geräusch der surrenden Fliegermotoren seine Lieblingsstrophe vor: Ich habe Fisch und Gänsefleisch / Und schöne Apfelsinen. / So gib mir Fisch und Gänsefleisch / Und schöne Apfelsinen, Gwendolin konnte die Worte nie wieder vergessen, den Fisch und das Fleisch und die vermaledeiten Apfelsinen, die sie damals einfach nicht verstand. Sie konnte nichts davon vergessen, denn anstelle der Mutter, die sich irgendwo im Keller um die Schwangere kümmerte, lauschte eine Ausgebombte, die bei ihrer Schwester untergekommen war und die, wie Gwendolin später erfuhr, in einer der Volksbüchereien arbeitete. Und als die ausgemergelte Bibliothekarin dem Vater ein paar Strophen lang zugehört und einen Blick auf den Buchumschlag erhascht hatte, schob sie angewidert ein einziges Wort durch die bräunlichen Zähne: Juden-Heine!, spie sie, aber der Vater sagte nur: Dichter!, und merkte nicht, dass er längst im Sterben saß und die hölzernen Deckenverstrebungen des Luftschutzkellers tiefer und tiefer kamen.
Die Frau besah sich den Vater eine Weile, während draußen Flakgranaten explodierten und Sprengstücke auf den Bürgersteig knallten, dann erklärte sie ihm, dass dieser Juden-Heine auf der Liste stehe, und Gwendolins Vater beharrte darauf, dass das nicht stimme, weil sich die Verirrten ihre Loreley nicht nehmen ließen, im Leben nicht. Die Bibliothekarin schwieg eine Weile und fragte den Vater dann mit weinerlicher Strenge, warum er nicht im Kriege sei wie ihr eigener seliger Sohn und ob er den Doktor nicht gehört habe vor Wochen im Sportpalast und im Radio. Mag sein, dass da ein kleines Leuchten in die Vateraugen kroch, mag sein, dass er eine Spur zu dankbar auf sein steifes Bein klopfte und zu ausführlich beschrieb, wie ihn eine Verletzung aus Kindheitstagen vor alldem Irrsinn da draußen bewahrte.
Vielleicht hätte in dieser Nacht auch nur die Schwangere fehlen müssen oder die Sirenen, Heine, vielleicht hätte der Luftschutzwart einschreiten müssen oder die Feuerwehr oder der da oben. Aber es gab kein Vielleicht, es gab nur den Tod, der sich in aller Ruhe auf die Stadt fallen ließ, es gab nur die Alten, die mit Gebeten gegen den Lärm der Bomben und der Flieger anschrien, es gab nur das Zittern der Kellerbeine, und zwei Tage später stürmten die Verirrten frühmorgens ins Haus und nahmen den bleich gewordenen Vater mit.
Die Mutter war da noch vollständig vorhanden, sie hatte gute Beziehungen zu dem da oben und küsste ihrer Tochter alle paar Minuten die Stirn. In den Wochen, nachdem sie den Vater abgeholt hatten, spritzte sie sich jeden Morgen Kölnisch Wasser hinter die Ohren. Abends legte sie sich zu ihrer Tochter ins Bett und erklärte leise, dass dem Vater dort, wo er war, nichts passieren konnte, dass es sich auf jeden Fall um ein Versehen handelte und die Dinge bald wieder wären, wie sie zu sein hätten.
Und Gwendolin glaubte ihr, jedenfalls im Stockdunkeln, weil sie dann einschlafen konnte. Nur tags, da wusste sie es besser, dann schaute sie zur Seite und glaubte der Mutter kein Wort. Denn sie hatte in die rohen Augen der Bibliothekarin geblickt, sie hatte ihre fleckigen Hände gesehen, die zu Fäusten geballt waren, als es um Kriege und steife Beine ging.
Und da war noch etwas anderes. Gwendolin hatte den Vater bei seiner Verhaftung nicht allein gelassen, sie war die ganze Zeit an seiner Seite gewesen und später sogar mit auf die Straße gerannt, obwohl die Mutter sie davon...