Kreller | Das Herz von Kamp-Cornell | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Kreller Das Herz von Kamp-Cornell

Ein Familiengeheimnis. Ein altes Anwesen. Und fünf Jugendliche, die Fragen stellen ...
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-646-93843-2
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Familiengeheimnis. Ein altes Anwesen. Und fünf Jugendliche, die Fragen stellen ...

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-646-93843-2
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein spannender, atmosphärischer Roman über Zusammenhalt, Heilung und die Überwindung von Angst. Alles beginnt mit einem Brief: einem welligen Stück Papier, darauf zwei winzige, unscheinbare Wörter: Zu spät. Die knappe Nachricht führt dazu, dass fünf Jugendliche - alle Cousinen und Cousins - mit ihren Müttern in das unheimliche Haus des alten Großvaters Viktor Melitzky ziehen, irgendwo am Ende der Welt, im verschwiegenen Örtchen Kamp-Cornell. Dort, im Schatten unzähliger Kornelkirschsträucher, klären Edin, Lu, Johnny, Gabriella und Penelope ein Verbrechen auf, das vor ihnen jahrzehntelang niemand ans Licht bringen konnte. Susan Kreller is eine gefeierte und vielfach preisgekrönte Autorin, ausgezeichnet unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis.  »Susan Kreller ist eine der sprachmächtigsten Jugendbuchautorinnen in Deutschland.«  Augsburger Allgemeine 

Susan Kreller, 1977 in Plauen geboren, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet als freie Journalistin und Autorin. Susan Kreller ist Gewinnerin des Kranichsteiner Literaturstipendiums, wurde bereits vier Mal für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und hat ihn 2015 für ihren Roman »Schneeriese« gewonnen.
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1

Die Briefmarke war nicht abgestempelt und hatte den Tod zwischen den Zähnen. Man hatte sie in der genau richtigen Umschlagecke und kerzengerade aufgeklebt, aber deutlich verkehrt herum, um hundertachtzig Grad gedreht, Kopfstand für Fortgeschrittene. Die Kornelkirsche, die zu Ehren der Kornelkirsche auf der Marke abgebildet war, und zwar linkerhand gelb blühend und rechts daneben als kleine rote Frucht, bekam dadurch etwas Unheimliches, fast Bedrohliches.

Dabei sahen Frucht und Blüte eigentlich harmlos aus. Aber die Frucht war ja auch nicht das Problem, genauso wenig wie der Blütenzweig, gelb wie Besenginster. Das Problem, das war der helle Raum dazwischen. Und man sah es vielleicht nicht sofort. Aber wenn man den Umschlag etwas weiter von den Augen weghielt und den Blick zwischen die gefräßigen Ränder der Briefmarke zwängte, dann konnte man erkennen, was sich auf den wenigen Millimetern zwischen Blütenzweig und Kirsche abspielte und welche Form sich da präzise in den mittleren Bereich der umgedrehten Marke schnitt, unterhalb des kopfstehenden Wörtchens Kornelkirsche. Um es kurz zu machen: Es war einfach nur ein Totenschädel.

Edin Melitzky, der gerade von der Schule nach Hause gekommen war, vor dem geöffneten Briefkasten stand und den Briefumschlag weit von sich weghielt, kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder, aber der Schädel verschwand nicht. Im Gegenteil, er blieb.

Jetzt erst recht nämlich!

Er bekam sogar noch Augenhöhlen, zwei starrende, nussgeformte Schatten, dazu ein schiefes Stück Nasenkluft und eine Andeutung von Problemgebiss im unteren Schädelabschnitt. Das alles, wie gesagt, auf wenigen Millimetern.

Zum Glück hatte Edin Melitzky mit alledem nichts zu tun, das wurde ihm nach einer kurzen lodernden Bauchangst schlagartig klar. Außerdem war der Brief nicht an ihn, sondern an seine Mutter adressiert, Ann Melitzky.

An Ann Melitzky.

An Ann.

Die Anschrift war mit Bleistift auf den Umschlag gekritzelt, in sehr kleinen, sehr grauen und etwas windschiefen Buchstaben. Allein beim Absender hatte man sich ein bisschen mehr Mühe gegeben und einen Füller, schwarze Tinte und eine andere Schrift benutzt, was trotzdem vergebens war, weil der obere Bereich der Adresse von einem großen Wasserfleck unkenntlich gespült worden war. Nur die Postleitzahl war noch zu erkennen und der lange, mit einem Bindestrich liebevoll zusammengeschraubte Ort dahinter, Kamp-Cornell.

Edin Melitzky knallte den Brief auf den Flurschrank und hätte ihn in aller Ruhe vergessen können, wenn er, ja, wenn er nicht zwei Stunden später einen Schrei gehört hätte. Es war der persönliche Flurschrei von Ann Melitzky, An Ann Melitzky, die gerade nach Hause gekommen sein musste und ihre Stimme energisch in Betrieb genommen hatte, nichts Besonderes, alles wie gehabt.

Aber irgendwas war anders als sonst.

Die Flurschreie von Edins Mutter waren für gewöhnlich sehr hoch und wurden nach hinten hin tiefer, dunkler, erkälteter. Und immer, wirklich jedes einzelne Mal, hatten diese Schreie mit den Briefen auf dem Schränkchen zu tun, Rechnungen, Mahnungen, Anwaltsschreiben. Doch nie, dachte Edin, hatten die Schreie so entsetzt geklungen. Noch nie so verzweifelt. Und es gefiel ihm nicht, was er da hörte, es fühlte sich an, als hätte er schlagartig kein Zuhause mehr. Als wäre es ihm geradewegs unterm Hintern weggeschrien worden. Und es war ihm auch unterm Hintern weggeschrien worden. Das wusste nur noch keiner.

Edin Melitzky wartete, bis sich auch das letzte nachhallende Stäubchen Schrei in Luft aufgelöst hatte, dann rannte er in Socken die Treppe runter und sah seine Mutter auf den ungemütlichen Bodenfliesen sitzen. Dabei saß sie gar nicht. Sie kauerte. Hatte sich zu etwas Rundem, schlecht Verstecktem geknüllt und presste den Briefumschlag mit beiden Händen zu einer kantig weißen Kugel zusammen.

Annahme verweigert!

Unentwegt flüsterte sie: »Verflucht sei die Kornelkirsche«, fünf-, sieben-, siebzehnmal wisperte sie diese Worte wie einen mühsam erinnerten Zauberspruch, über dessen Wirkung sie sich nicht mehr ganz sicher war.

»Seit wann verfluchst ausgerechnet du Obst?«, fragte Edin nach einer Weile, um die Endlosschleife anzuhalten und weil sich das Bauchlodern von vorhin wieder meldete. »Sieht dir irgendwie gar nicht ähnlich.«

»Die Kornelkirsche ist überhaupt kein Obst«, antwortete Ann Melitzky schwach und trotzig, während sie ihren Oberkörper ganz leicht wieder aufrichtete. »Glaub mir, die Kornelkirsche ist das blanke Grauen. Und hat noch nicht mal Vitamine. Mit der Kornelkirsche bin ich fertig. Ein für alle Mal. Die hat hier nichts zu suchen!«

Edin hielt seine Mutter an den Schultern fest und sagte leise: »Es ist bloß ein Brief. Altmodisches Zeug. Vergiss ihn. So was braucht kein Mensch. Es ist bloß ein Brief mit einer kleinen, beschissenen Obstbriefmarke, die irgend so ein Betrunkener verkehrt herum draufgeklebt hat.«

Ann Melitzky antwortete nicht darauf. Sie sah jetzt selbst wie betrunken aus, machte die Augen zu und hielt sie unter ihren leicht wogenden Lidern versteckt, saß da, kauerte und hielt sich geheim. Lange, maßlos lange blieb sie so, und Edin hätte schwören können, dass sie längst eingeschlafen und in düsteren Kirschträumen versunken war. Aber als er sie irgendwann wecken wollte, sagte sie mit erstaunlich kräftiger, den Eingangsbereich des Hauses sauber ausfüllender Stimme ein einziges, ein winziges Wort: »Und.«

»Und?«, flüsterte Edin. »Und was?«

»Und anrufen müssen wir. Wir müssen … alle anrufen. Jeden Einzelnen. Alle müssen sie herkommen. Schleunigst. Es ist Gefahr im Verzug.«

Die Stimme von Ann Melitzky war, als sie das sagte, anfangs immer noch kräftig gewesen, aber ungefähr ab »Gefahr« wieder leicht ins Wanken geraten, um nach »Verzug« mit einem kleinen, dramatischen Seufzer zum Halten zu kommen.

»Alle? Wie viele alle kennen wir? Wie viele kennst du? Seit Papa weg ist, sind nicht mehr viele übrig.«

»Ich … ach. Na, ich weiß ja. Ich hätte es dir längst sagen sollen. Und jetzt sag ich’s dir, ich weiß nicht, ich weiß nicht recht, aber jetzt sage ich es ja, siehst du, du kannst nicht behaupten, dass ich es nicht sage, und bestimmt gewittert es gleich da draußen, im Grunde denk ich das schon den ganzen Tag, stell dir mal vor, ein Gewitter im Februar, und eine Cousine hast du. Es würde mir noch nicht mal was ausmachen, wenn ein Gewitter käme. Freuen würde ich mich!«

»Stopp!«, rief Edin ein bisschen zu laut für seine Verhältnisse. »Hast du gerade Cousine gesagt? Ich hab doch gar keine Verwandtschaft. Nur Oma und Opa. Von Papa. Und die habe ich seit Ewigkeiten nicht gesehen. Ich glaube, du verwechselst da was.«

Ann Melitzky, die die Augen die ganze Zeit fest geschlossen gehalten hatte, öffnete sie jetzt einen unerheblichen Spaltbreit und nickte leicht. »Lu, sie heißt irgendwas mit Lu, Lucy, Luisa, such dir was aus. Ich hab das mal gewusst, vor vielen Jahren hab ich das wirklich mal gewusst. Eine Mutter gibt es selbstverständlich auch, die wäre dann deine Tante. Und gleichzeitig meine … Schwester. Bernadette. So. Da hast du’s.«

Edin stöhnte. Vierzehn Jahre hätte seine Mutter Zeit gehabt, ihm von seiner Cousine und seiner Tante zu erzählen, in gemütlichen Zimmern auf bequemen Stühlen, und nun tat sie es ausgerechnet hier, zwischen Tür und schwedischem Flurschränkchen, zusammengekauert auf den alten Turnschuhspuren des Fliesenbodens. »Irgendwas mit Lu, ja?«, fragte Edin. »Und irgendwas mit Tante? Was kommt da noch? Hab ich vielleicht auch einen Cousin?«

»Johnny«, sagte Ann Melitzky und öffnete die Augen jetzt ganz, sie sahen aber trüb genug aus, um immer noch als geschlossen durchzugehen. »Ja, Johnny. Glaube ich jedenfalls. Oder lass es Jimmy sein. Oder Ricky. Die Mutter dazu ist ganz klar Rosalie. Meine Schwester, deine Tante, du weißt schon. Und alle müssen wir anrufen. Wieso redest du eigentlich so viel? So viel hast du noch nie gesagt. Und so laut warst du auch noch nie. Du bist ein leiser Sohn!«

»Stopp jetzt mal und halt!

Edin, der die ganze Zeit in ungesunder Haltung vor seiner Mutter gestanden und nach unten gesprochen und zugehört hatte, hockte sich hin und wurde wieder leiser. Das bedeutete aber nicht, dass er weniger redete. »Versteh ich das richtig?«, fragte er. »Ist das dein Ernst? Nur fürs Protokoll: Ich habe jetzt also zwei Tanten und eine Cousine und einen Cousin? Einfach so? Ohne Vorwarnung?«

»Ja«, sagte seine Mutter, ihre Stimme war jetzt wieder ein flirrendes Stück Meer, sie flirrte in trauriger Entschlossenheit. »Ja, Edin. Du hast zwei Tanten und eine Cousine und einen Cousin und zwei Cousinen und eine Tante und einen angeheirateten Onkel.«

Edin ließ sich auf den Boden sinken, die Fliesen waren kalt und hart, wie konnte es seine Mutter hier so lange aushalten? »Du hast dich verzählt«, sagte er. »Das waren jetzt drei Tanten. Und drei Cousinen. Plus ein Cousin und ein angeheirateter Onkel. Zähl am besten noch mal nach.«

»Meine Schwester Kalinka und ihren Mann hatte ich vorhin vergessen, dazu die zwei Töchter, frag mich nicht, wie die heißen oder ob es sogar noch eine dritte gibt, und wenn du schon mal dabei bist, dann frag mich bitte auch nicht, ob du so was wie einen Opa in Kamp-Cornell hast, einen, der neuerdings Briefe verschickt, frag mich am besten überhaupt nichts, ich würde ja doch nicht antworten.«

Und da, auf einmal, sprang Ann Melitzky mit drei energischen Bewegungen aus ihrer...



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