E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Reihe: DIE NEUE POLIS
Kreis Die Bergier-Kommission oder das Gespenst einer Staatsgeschichte
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-907291-29-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Reihe: DIE NEUE POLIS
ISBN: 978-3-907291-29-0
Verlag: NZZ Libro
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Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georg Kreis, (*1943), em. Professor für Geschichte der Universität Basel, akademische Ausbildung in Basel, Paris und Cambridge (UK), bis 2011 Direktor des interdisziplinären Europainstituts. Mitglied verschiedener Historikerkommissionen insbesondere zum Fichenskandal, zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg (Bergier-Kommission) und zu den schweizerischen Beziehungen zu Apartheid-Südafrika. Begründer der Reihe Neue Polis und Autor zahlreicher Publikationen.
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Die Einsetzung der UEK
Dieses Kapitel zeigt zunächst, worin die Unabhängigkeit der UEK bestand und inwiefern sie doch begrenzt war. Im Weiteren zeigt es aufgrund der bisher kaum zur Kenntnis genommenen parlamentarischen Debatten, in welchem Sinn und Geist die UEK «Schweiz – Zweiter Weltkrieg» 1996 geschaffen wurde. Es wird deutlich, dass die Initiative für die ausserordentlichen Abklärungen von der Legislative kam und die Exekutive sich in dieser Sache zurückhielt. Die Einsetzung entsprach nicht einem autoritären, von der Gesellschaft abgehobenen Akt. Die Basis für die Einrichtung der UEK war in einem mit der Gesellschaft verbundenen Prozess geschaffen worden. Dabei war die UEK eine unbestrittene Nebensache, im Zentrum stand vielmehr die Einrichtung eines unbegrenzten Archivprivilegs. Der Bundesbeschluss wurde mit ausserordentlicher Einstimmigkeit verabschiedet, obwohl unterschiedliche Vorstellungen von den zu erwartenden Ergebnissen bestanden. Ziel war nicht die Etablierung einer bestimmten «Staatswahrheit». Man sprach sich insofern aber für «Wahrheitsfindung» aus, als man damit die Bereitschaft zu vorbehaltloser und uneingeschränkter Abklärung zum Ausdruck bringen wollte. Die «Wahrheitssuche» galt den faktischen Gegebenheiten in strittigen Finanzfragen und nicht dem weiteren Geschichtsverständnis.
[2.1]
Wer wollte eine UEK?
Die Tatsache, dass der Bundesrat es war, der die UEK einsetzte, ihre Zusammensetzung bestimmte, ihr Pflichtenheft festlegte, ihr Ansprechpartner während der Arbeit und auch die Ablieferungsstelle für die anschliessende Berichterstattung war, dürfte mit zeitlichem Abstand zu den Beratungen von 1996 die Annahme begünstigt haben, dass die UEK einzig auf Betreiben des Bundesrats geschaffen worden war. Die Schaffung der UEK ging aber auf einen vom Parlament, und zwar von beiden Kammern, einstimmig gefassten Beschluss zurück. In aussergewöhnlicher Gleichgestimmtheit beschlossen der Nationalrat am 30. September 1996 mit 162:0 Stimmen und der Ständerat am 27. November 1996 mit 36:0 Stimmen die ausserordentlichen historischen Abklärungen. Insofern als das Parlament ein staatliches Organ ist, kann man das als Staatsaktion interpretieren. Das Parlament war und ist aber auch ein Teil der Zivilgesellschaft, also ein Bindeglied zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre. Wegen der Dringlichkeit wurde beim Bundesbeschluss vom Dezember 1996 allerdings das Referendum ausgeschaltet. Wie eine Volksabstimmung ausgegangen wäre, kann man nur spekulativ einschätzen. Wenn die im Parlament abgegebenen Voten für die Stimmung im Land einigermassen repräsentativ waren, könnte man davon ausgehen, dass das Projekt einer historischen Klärung eine zustimmende Mehrheit gefunden hätte. Wahrscheinlich wäre das Format (die Zeit und die Kosten) als überrissen kritisiert worden, der Staatscharakter der Beauftragung hätte aber kaum gestört.
Der Bundesrat und die Verwaltung waren gegenüber der Idee, die Bedeutung des Finanzplatzes Schweiz während des Zweiten Weltkriegs durch eine UEK abklären zu lassen, zunächst eher zurückhaltend. Er reagierte erst im Nachvollzug zweier nicht von ihm geschaffener Voraussetzungen: Die eine bestand aus der Bereitschaft der von Lili Nabholz (FDP/ZH) präsidierten nationalrätlichen Rechtskommission, aus der parlamentarischen Initiative von Verena Grendelmeier (LdU/ZH) vom März 1995 eine weiter gefasste Rechtsgrundlage für eine vertiefte Abklärung der Rolle des Finanzplatzes Schweiz zur Zeit der Zweiten Weltkriegs und in den Folgejahren zu schaffen. 1 Die Rechtskommission befasste sich bereits am 28. August 1995 mit der Frage, und am 23. Oktober 1995 bildete sie dazu eine Subkommission. Die Absicht, eine UEK einzusetzen, entstand in dieser Subkommission auf Anregung von Paul Rechsteiner (SP/SG), der sich schon in anderen Fragen für eine kritische Aufarbeitung problematischer Vergangenheit eingesetzt hatte. Am 26. August 1996 verabschiedete die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats ihren Bericht und dazu in Form einer parlamentarischen Kommissionsinitiative gleich auch einen Entwurf für einen entsprechenden Bundesbeschluss. 2
Eine andere wichtige Voraussetzung war die am 2. Mai 1996 zwischen der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg) und dem World Jewish Congress (WJC) privat getroffene Einigung, unter der Leitung eines paritätischen Komitees unabhängige Treuhandexperten in den Schweizer Banken nachrichtenlose Vermögen identifizieren zu lassen. Diese Abklärung erforderte aber, sozusagen als Ergänzung, eine vom «Staat» eingesetzte zusätzliche Kommission, weil der WJC eine Untersuchung auch der Raubgutproblematik erwartete und dazu Unterlagen einbezogen werden mussten, die ausserhalb der Banken lagen und von Treuhändern nicht studiert werden konnten. Carlo Jagmetti, Schweizer Botschafter in den USA, sah diese Konsequenz offenbar bereits in seinem Bericht über die getroffene Einigung (dem Memorandum of Understanding) und empfahl dem Bundesrat die Schaffung einer «unabhängigen Kommission vielleicht in der Art Norwegens». 3 In den vergangenen Jahren war es eine gängige Praxis geworden, zur Klärung historischer Fragen solche Kommissionen einzusetzen. 4 Eine dieser Kommissionen, die der Schweizer Militärhistoriker Hans-Rudolf Kurz präsidierte, wurde 1987 in Österreich zur Klärung der Waldheim-Affäre eingesetzt. 5
Am 10. Mai 1996 setzte der Bundesrat in einer ersten Reaktion aus Personalbeständen der Bundesverwaltung eine interdepartementale Ad-hoc-Arbeitsgruppe zur Klärung der sich stellenden Fragen ein, und am 29. Mai 1996 teilte er in einer zweiten Reaktion dem Parlament mit, dass er die parlamentarische Kommissionsarbeit zur Schaffung einer Rechtsgrundlage für die historischen Abklärungen unterstützen werde. 6 Im Nationalrat unterstrich Aussenminister Flavio Cotti den direkten Zusammenhang zwischen der privaten Verständigung der Streitparteien und der vom Parlament nun zu beschliessenden offiziellen Abklärungen. Er gab bekannt, dass sich der Bundesrat in seiner Sitzung vom 8. Mai 1996 sogleich darin einig gewesen sei, die vorgesehene Lösung zu unterstützen, dass er aber, was ihm sicher recht war, die Initiative für die ergänzenden Untersuchungen dem Parlament überlassen wollte. 7 Im Ständerat wiederholte er: «Wir sind im Mai 1996 ans Werk gegangen, als der World Jewish Congress und die Schweizerische Bankiervereinigung mit dem ‹Memorandum of Understanding› den Bundesrat dazu aufriefen, Klarheit u¨ber diese Vergangenheit zu schaffen. Das war interessant: aus Washington ein Auftrag, ein Auftrag der Schweizerischen Bankiervereinigung. Wir hatten vorher von einem solchen Auftrag nie geho¨rt. Wir sind ans Werk gegangen.» 8
Cotti betonte im Parlament, dass das Geschäft nicht vom Bundesrat initiiert worden sei. Er liess den Präsidenten des Nationalrats erklären, dass er bei der Detailberatung auf Interventionen zu den einzelnen Artikeln verzichten werde, «puisqu’il s’agit d’une initiative parlementaire». Dennoch verkündete er seine dezidierte Erwartung, dass sich der Rat der Bedeutung der Problematik bewusst sei und darum den vorbereiteten Bundesbeschluss «mit u¨berwa¨ltigendem Mehr, ja mit Einstimmigkeit» annehmen werde. Und im etwas widerständigeren Ständerat verkündete er unumwunden: «Le Conseil fe´de´ral accorde a` ce projet une tre`s haute priorité.»
Es waren die eidgenössischen Räte, die 1996 davon ausgingen, dass zur Bewältigung der Krise, die wegen der heftigen Kritik am Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen Nachfolgeprobleme eingetreten war, besondere Abklärungen vorgenommen werden mussten, und darum zu Händen des Bundesrats die nötige Gesetzesgrundlage schufen. Dabei gingen alle Beteiligten mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit, also völlig diskussionslos davon aus, dass eine ausserordentliche Expertenkommission einzusetzen sei. Weniger wichtig als die Schaffung einer solchen Kommission, die der Bundesrat auch ohne Parlament hätte vornehmen können, war die Schaffung einer Rechtsbestimmung, die Amtsstellen, Archive und Private zur Auskunft an die vom Bundesrat einzusetzende Expertenkommission verpflichtete und diesbezüglich die Amtsgeheimnisse sowie gesetz-liche oder vertragliche Berufsgeheimnisse ausser Kraft setzte.
Der Politologe Leonhard Neidhart erinnert in einer der wenigen Publikationen zum schweizerischen Parlamentarismus daran, dass im komplexen Gebilde «Parlament» drei verschiedene Eigenschaften zusammenkommen: Das Parlament ist eine Wählerschaften repräsentierende Versammlung von Individuen, eine beschlussfassende Organisation und Teil des Gesamtsystems, das wir «Staat» nennen. 9 In seiner ersten Eigenschaft ist das Parlament eine gesellschaftlich-staatliche Mischgrösse. Meistens wird die staatliche Seite betont. Henry H. Kerr hingegen hat sie 1981 als «microcosme de la société» bezeichnet, was allerdings auch nur eine Teilwahrheit ist, wenn man die Wahlabstinenzen und die Gesellschaftsangehörigen ohne Stimmrecht bedenkt. 10
Bei der Beurteilung des staatlichen Charakters der 1996 eingeleiteten Sonderforschung ist noch zu berücksichtigen, dass das Parlament, das zu einem Teil zwar ein staatliches Organ war, zu einem anderen Teil aber auch der Sphäre der Zivilgesellschaft angehörte, vor der Beschlussfassung ausgewählte Exponenten der Gesellschaft konsultierte und darüber hinaus sicher auch die Stellungnahmen der Medien zur Kenntnis nahm. Die Subkommission des Nationalrats führte zwei Hearings durch, in denen unter anderem Vertreter des Schweizerischen...