E-Book, Deutsch, 396 Seiten
Krausnick Hitlers Einsatzgruppen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-560903-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1938–1942
E-Book, Deutsch, 396 Seiten
Reihe: Die Zeit des Nationalsozialismus ? »Schwarze Reihe«
ISBN: 978-3-10-560903-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helmut Krausnick, geboren 1905, studierte Geschichte, Staatswissenschaften und Philosophie an den Universitäten Breslau, Heidelberg und Berlin, Promotion zum Dr. phil. 1938; Mitarbeiter der »Zentralstelle für Nachkriegsgeschichte« in Berlin von 1938 bis 1944, danach Wehrdienst; 1947 bis 1951 Mitarbeiter des Internationalen Schulbuchinstituts Braunschweig, danach beim Münchner Institut für Zeitgeschichte tätig, von 1959 bis 1972 als dessen Direktor. Dr. Krausnick war Honorarprofessor an der Universität München. Er ist 1991 verstorben.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Spezialeinheiten und Elitetruppen
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Geschichte des Judentums Antisemitismus, Pogrome, Shoah
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Genozid und ethnische Säuberung
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Besondere Kriege und Kampagnen
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte Deutsche Geschichte: Holocaust
Weitere Infos & Material
Einführung
Wir schreiben das Jahr 1941. Da wird – irgendwo im deutschbesetzten Gebiet der Sowjetunion – einer Anzahl von Männern, Frauen und Kindern, unbewaffneten Bürgern des gegnerischen Staates, durch besondere Organe des nationalsozialistischen Herrschaftssystems mitgeteilt, daß sie umgesiedelt werden sollen. Meist sind jene Menschen auf Befehl dieser Organe schon vor einiger Zeit amtlich registriert worden. Jetzt ruft man sie auf und treibt sie zusammen, nimmt ihnen »vorsorglich« ihre Wertgegenstände ab und verlädt sie, eine Gruppe nach der anderen, auf Lastkraftwagen. Doch, statt an einem neuen Wohnsitz, endet die Fahrt an einem abgelegenen Platz außerhalb menschlicher Siedlungen. Die Führer der Begleitkommandos legen Wert darauf, daß ihre Opfer bis zu diesem Augenblick an die versprochene Umsiedlung glauben: sie haben mit den Gefangenen dann leichteres Spiel. Gelingt es ihnen, die Täuschung so lange aufrechtzuerhalten, so rühmen sie ihre »geschickte Organisation«[1].
Nun aber fällt die Tarnung. In nächster Nähe des Halteplatzes der Lastwagen befindet sich bereits ein vertiefter Panzergraben oder ein eigens ausgehobenes Massengrab. Die verschleppten Männer, Frauen und Kinder müssen sich, Gruppe nach Gruppe, ihrer Oberkleidung, in der Mehrzahl der Fälle sogar ihrer sämtlichen Kleidungsstücke entledigen. Sie werden sodann an den Rand des Massengrabes geführt und dort, stehend oder knieend, von einem Teilkommando der jeweiligen Einsatzgruppe – erschossen. Leichen, die nicht von selbst in den Graben fallen, werden hineingeworfen oder hineingestoßen. Will man dies vermeiden, so läßt man die Opfer lebend in ihr Grab steigen und tötet die nun darin stehenden, knieenden oder liegenden Männer, Frauen und Kinder auf die gleiche Weise oder durch Genickschuß. »Kaum war eine Reihe erschossen«, so berichtet ein Augenzeuge, »kam die nächste und legte sich an die Leichen heran[2].« Der Leiter der Exekution oder ein vorher bestimmtes Mitglied seiner Einheit überzeugt sich – nach Möglichkeit – davon, ob bei allen Opfern der Tod eingetreten ist, und hilft, wo er es als nötig erkennt, mit einem Fangschuß nach. Soweit der äußere Hergang – in der Regel.
Was hier geschildert wurde, geschah keineswegs vereinzelt oder in großem zeitlichem Abstand voneinander; sondern es geschah – sobald die technischen Voraussetzungen bestanden und solange Menschen der vorbestimmten »Kategorien« im Machtbereich der Einsatzgruppen lebten – in mehr oder weniger dichter Folge, ja »laufend, täglich«, wie es in einer dienstlichen Meldung heißt[3]. Und zu diesen »Maßnahmen« kam es nicht im Affekt, in leidenschaftlicher Erregung während des Kampfes oder als Reaktion auf Gewalttaten des Gegners (die gelegentlich als Vorwand dienten); nein, wehrlose Männer, Frauen und Kinder wurden gemordet – in aller Regel kürzere oder längere Zeit dem Ende der jeweiligen örtlichen Kampfhandlungen, nach vorgegebenen Weisungen und letztlich unter Berufung auf den Willen, ja Befehl des Mannes, der Deutschland repräsentieren, ja zu verkörpern für sich in Anspruch nahm: Adolf Hitler. Die »Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD« – geführt von Angehörigen der Geheimen Staatspolizei, der Kriminalpolizei und des Sicherheitsdienstes der SS – waren nicht die alleinigen, wohl aber herausragende Werkzeuge solcher verbrecherischer Führerbefehle, die – ohne jede Rechtsformalität – zu ihrer Realisierung einer »Truppe« bedurften, die nicht auf Gesetz und Recht, sondern allein auf weltanschauliche Normen und Führerloyalität festgelegt war. Einer Truppe, die auch den Massenmord als »Dienst« zu verrichten geschult und fähig war, beflissen und rationell, konsequent und methodisch, gleichzeitig streng dazu angehalten, »planlose« Ausschreitungen aus persönlichen Motiven zu unterlassen oder zu verhindern, da diese außer der Disziplin »die Systematik der Aktion«[4] beeinträchtigen würden.
Die mörderischen »Säuberungsaktionen« der Einsatzgruppen während des Rußlandfeldzuges galten in der Hauptsache vier Gruppen: kommunistischen Funktionären, »Asiatisch-Minderwertigen«[5], Zigeunern und Juden. Genügte bei der ersten Kategorie meist schon der Verdacht kommunistischer Betätigung und gab der Begriff »rassischer Minderwertigkeit« der Willkür größten Spielraum, so entfiel bei der dritten, vor allem aber bei der zahlenmäßig weitaus stärksten vierten Kategorie, den Juden, jede wie immer geartete »Prüfung« überhaupt. Hier begründete die bloße »Rasse-Zugehörigkeit« die Todeswürdigkeit. Wohl wurde mitunter vermerkt, da oder dort seien »die« Juden »frech und herausfordernd« aufgetreten, sie hätten »Flugblätter und Hetzschriften« verteilt, ihre Übersiedlung in Ghettos »sabotiert«[6], oder auch, sie hätten die ihnen übertragenen Arbeiten »mit Widerwillen« erledigt – mit dieser (nachträglichen) Motivierung wurden in einem Fall nicht weniger als 996 Männer und Frauen erschossen[7]. In Wirklichkeit blieb das persönliche Verhalten eines Juden völlig unerheblich. Ob »aufsässig«[8] oder »ängstlich-willig«[9], (wie es unterschiedlich heißt), ob in irgendeinem Falle »Täter« oder nicht: gegenüber einem war für individuelle Gesichtspunkte oder ein Prüfungsverfahren grundsätzlich kein Raum; er wurde erschossen, wenn er ein Jude war und als solcher »unter den Führerbefehl fiel«[10], der die »möglichst restlose«[11] Beseitigung der Juden verlangte.
Daß ein Mordprogramm von solchem Ausmaß schon bei der Weite des russischen Raumes »nur unter Anspannung aller Kräfte«[12] durchgeführt werden konnte, wie ein Tätigkeitsbericht einmal betont, nimmt nicht wunder. Liest man andererseits aber, daß ein Führer und 12 Mann bei einer einzigen »Aktion« 1025 Juden erschossen[13], so beginnt man zu verstehen, daß die Einsatzgruppen trotz aller sozusagen widrigen Umstände ihrem Ziel allmählich näherkamen. Auch wußten sie ja einheimische Helfer zu finden, denen sie einen Teil der Blutarbeit überlassen konnten, wie beispielsweise einmal die Erschießung von – »561 jugendlichen Juden« der »ukrainischen Miliz«[14]. Morde an nur fünfzig bis hundert Menschen figurieren als »kleinere Exekutionen«[15]. Daneben ist die Rede von »Massenexekutionen«, von »Großaktionen«, die auch einmal »mehrere Tage in Anspruch«[16] nahmen. Zahlenmäßig unerreicht blieb die Aktion des Sonderkommandos 4 a bei Kiew (Babi Jar), von der befriedigt festgestellt wurde, sie sei »reibungslos verlaufen«[17]. In zwei Tagen, am 29. und 30. September 1941, wurden hier laut amtlicher Meldung der zuständigen Einheit nicht weniger als 33771 Juden erschossen. Es erforderte über 100 Lastkraftwagen, um ihre Kleidung abzutransportieren, die der NS-Volkswohlfahrt zugeführt wurde …[18] Kann es erstaunen, wenn ein Angehöriger einer anderen deutschen Dienststelle in der Ukraine von der Gesamtaktion der Einsatzgruppen sagte, sie sei »in der Massenhaftigkeit der Hinrichtungen so gigantisch wie bisher keine in der Sowjetunion vorgenommene gleichartige Maßnahme«[19]?
Wie war das möglich? Diese in bezug auf den Nationalsozialismus immer wiederkehrende Frage erfährt hier ihre letzte Zuspitzung. »An sich«, so hat ein Unterführer der Einsatzgruppen seinem Exekutionskommando selber bekannt, »ist es keine Aufgabe für deutsche Menschen und Soldaten, Wehrlose zu erschießen.«[20] Auch unter nationalsozialistischen Bedingungen stellten die Einsatzgruppen und ihre Tätigkeit extreme Ausformungen einer Ideologie und eines Systems dar, die sich so erst unter bestimmten Voraussetzungen ergaben. Wir fragen deshalb zunächst nach der Geschichte dieses Instruments. Wer hat es ins Leben gerufen, wie war es organisiert und gegliedert, welches waren seine ursprünglichen, zum Teil quasi-normalen Aufgaben, wie verlief seine Entwicklung zum Organ eines bis dahin beispiellosen Massenmordes? Hieran knüpft sich eine weitere Kette von Fragen. Woher rekrutierten sich die Mannschaften und insbesondere die Führung der Einsatzgruppen, welcher Sonderformation der nationalsozialistischen Partei, welchem Element ihrer »Elite« entstammten jene Männer, die als Untermenschen in zahllosen Tötungskationen auszulöschen fähig waren? Schließlich haben wir noch einen anderen Komplex von Fragen nicht geringer Bedeutung zu erörtern: Wie war es möglich, daß diese Organe in wechselnden Aktionsbereichen über Jahr und Tag im wesentlichen ungestört ihres angemaßten Henkeramtes walten konnten? Befanden sich doch zur gleichen Zeit im gleichen Raum deutsche Truppen, Kampf- oder Sicherungsverbände des Heeres, bei denen die faktische Macht im besetzten Feindesland lag und nach bewährter Überlieferung auch die formale, die sogenannte »vollziehende Gewalt«, hätte liegen sollen, mit der Befugnis, für die Zivilbevölkerung im Rahmen international anerkannter Kriegsordnung Recht zu setzen. Wie kam es zu Beschränkungen dieser herkömmlichen Kompetenz des Militärs, die den Vollzugsorganen Hitlers weitgehende, wo nicht völlige...