E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: zur Einführung
Kramer Walter Benjamin zur Einführung
ergänzt
ISBN: 978-3-96060-053-4
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-053-4
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sven Kramer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen am Department Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg.
Autoren/Hrsg.
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1. Einleitung
»Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.« (VII, 393)1 Das notiert in der Benjamins Erzähler über Berlin, jene Stadt, die er von klein auf kennt. Die Orientierung auf das rubrizierende Wissen, jene unabdingbare Voraussetzung für das Sich-Zurechtfinden – hier gilt es als Hindernis: der Überblick verloren gehen. Erst dann können Erfahrungen freigesetzt werden, die sonst durch den routinierten, instrumentellen Umgang mit den Schauplätzen des Lebens im Abseits bleiben. Und auf genau diese Erfahrungen kommt es dem Erzähler, kommt es auch Benjamin selbst an.2
Dessen Werk gehört mittlerweile zum Grundinventar der geisteswissenschaftlichen Diskurse. Viele Intellektuelle schlugen Lektüre-Schneisen in es hinein, die sich durch die Tradierung in Forschung und Lehre zu Hauptstraßen auswuchsen. Diese kanonisierten Trassen können Benjamin-Unkundige – gleichsam die Ortsfremden – wie Straßenschilder nutzen. Sie werden sich zurechtfinden und einen Überblick gewinnen. Auch Benjamins Erzähler spricht ja, obwohl er sich von ihm lösen möchte, aus einem solchen Wissen heraus. Eine Einführung sollte einige der bekannteren Adressen vorstellen. Nehmen wir aber Benjamins Begriff der Erfahrung ernst, darf es dabei nicht bleiben. Nur muss das Weitere jedem Einzelnen übertragen werden, denn es überschreitet das Kanonisierte und knüpft an die gelebte Wirklichkeit der Individuen an. Vielleicht gelingt ein Rundgang bis an diese Schwelle, an der die Forschung produktiv vergessen werden darf, damit die »Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser« (VII, 393).
Benjamins heutige Popularität steht im genauen Gegensatz zu der Unbekanntheit während seiner letzten Lebensjahre. Im Exil erschienen seine Schriften – wenn überhaupt – nur an entlegener Stelle; vieles blieb zunächst ungedruckt. 1942, zum fünfzigsten Geburtstag, gab Theodor W. Adorno eine hektographierte Zusammenstellung einiger wichtiger Arbeiten Benjamins heraus. Adorno war es auch, der sich nach dem Krieg um die Publikation von Benjamins Schriften in Deutschland bemühte: 1950 setzte er den Druck der bei Suhrkamp durch. 1955 gaben dann er und Gershom Scholem der Benjamin-Rezeption eine erste Grundlage, indem sie in einer zweibändigen Ausgabe Benjamins edierten. Längst vergriffene oder nie gedruckte Texte waren nun endlich zugänglich gemacht worden. Weitere Auswahlbände, die insbesondere die Studentenbewegung beeinflussten, folgten 1961 und 1966. Hinzu kam in diesem Jahr eine von Adorno und Scholem herausgegebene zweibändige Edition ausgewählter , die allerdings wegen ihrer Auswahlkriterien und Kürzungen zu Recht kritisiert wurde.
Den herausragenden Rezeptionsschub leitete jedoch die kommentierte Ausgabe von Benjamins ein, an der Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser seit den späten Sechzigerjahren arbeiteten.3 Von 1972 bis 1989 erschienen sieben reguläre, dann noch drei Supplement-Bände mit Benjamins Arbeiten als Übersetzer. In vorbildlicher Weise stellte die vieldiskutierte Edition das lange vermisste philologische Fundament für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Benjamin dar. Das nicht nachlassende Interesse an Benjamins Werk ermöglichte eine dritte Werkausgabe, die wiederum der Suhrkamp Verlag verlegt. Seit 2008 erscheint die auf insgesamt 21 Bände angelegte , herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv. Erstmals werden nun die Texte Benjamins mitsamt sämtlichen Vorarbeiten abgedruckt, ergänzt durch die Kommentare der Einzelbandherausgeber. Die Ausgabe kommt textgenetischen Lesarten entgegen und bietet eine Fülle von zusätzlichen Informationen wie zum Beispiel detaillierte Hinweise auf die von Benjamin benutzten Quellen. Auch arbeitet sie mit Faksimiledrucken derjenigen Seiten, die visuelle Elemente enthalten.
Abgeschlossen ist auch die sechsbändige, sorgfältig kommentierte Ausgabe der . Christoph Gödde und Henri Lonitz gaben sie zwischen 1995 und 2000 heraus. Erstmals liegt damit eine verlässliche, auf Vollständigkeit zielende Edition vor, die den Reichtum der benjaminschen Korrespondenz vergegenwärtigt. Auch wird sichtbar, in welchem Maße das dialogische Moment für Benjamins Denken essenziell ist. In den gesondert publizierten Briefwechseln mit Gershom Scholem, Theodor W. Adorno sowie Gretel Adorno kann dies detailliert nachvollzogen werden. Benjamins Nachlass, der zeitweilig über mehrere Länder verstreut war, ist mittlerweile im Walter Benjamin Archiv der Akademie der Künste in Berlin zusammengeführt und für die Forschung zugänglich gemacht worden. Hier finden sich Kopien jener Manuskripte, die in Jerusalem, Moskau und Gießen liegen. Es war ein langer Weg, aber mittlerweile darf gesagt werden: Insgesamt hat die Archiv- und Editionslage ein sehr gutes Niveau erreicht.
Das war zu Benjamins Lebzeiten anders. In den Zwanzigerjahren hatte er sich einen gewissen Ruf als Publizist und Privatgelehrter erarbeitet, doch zwischen 1933 und dem Erscheinen der 1955 »gehörte sein Name«, so Scholem, »zu den verschollensten in der geistigen Welt«4. Dies begann sich dann zu ändern, obgleich die Frequenz der Einlassungen niedrig blieb.5Erst Mitte der Sechzigerjahre erlangte Benjamin eine gewisse Popularität. Das gesellschaftliche Klima hatte sich durch die Studentenbewegung verändert; die Kritische Theorie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, in dessen Zeitschrift neben Adorno, Horkheimer und Marcuse auch Benjamin publiziert hatte, verdrängte den bis dahin vorherrschenden Existenzialismus. Adornos Schüler legten Untersuchungen vor, die sich an der Benjamin-Lesart ihres Lehrers orientierten.6 Gegen diese wandten sich Teile der Studentenbewegung, die bekanntlich selbst von der Kritischen Theorie beeinflusst war. In verschiedenen Zeitschriften – hervorzuheben ist die – stritt man für ein Bild von Benjamin, das die politischen Implikationen seines Werkes freilegte. Betont wurden die von Adorno und Scholem vernachlässigten revolutionären Obertöne, die Beziehung zu Brecht sowie Benjamins Selbstverständnis als Stratege im Literaturkampf.
Der in der Debatte gepflegte aufgeregte Ton zeigt an, dass hier zentrale Identifikationen auf dem Spiel standen. Zum Teil diente Benjamin als Vehikel des Aufbegehrens gegen die geistigen Väter, vor allem gegen Adorno. Auf der anderen Seite förderte man Wichtiges zutage. So konnte die Entstehungsgeschichte der späten Arbeiten über Baudelaire rekonstruiert werden, die von maßgeblichen Eingriffen des Instituts für Sozialforschung geprägt war. Die von diesem zurückgewiesene Fassung der Arbeit wurde erstmals publiziert und gewürdigt. Zugleich forderte man die umfassende Veröffentlichung des benjaminschen Werkes und den ungehinderten Zugang zu den Archiven. Nun war die Öffentlichkeit sensibilisiert und jeder neu erschienene Band der wurde kontrovers diskutiert.
Die Publizität Benjamins machte sich seit den Siebzigerjahren im Forschungsbetrieb bemerkbar; viele Monographien und eine kaum überschaubare Anzahl von Dissertationen entstanden. Die Benjamin-Forschung ergriff nahezu alle geisteswissenschaftlichen Fächer und differenzierte sich in der Wahl ihrer Themen immer stärker aus. Dies gilt nicht nur für den deutschen Sprachraum, sondern auch für andere Länder, denn mittlerweile wurden Benjamins Texte in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bemerkenswert ist dabei, wie viele verschiedene theoretische Richtungen sich heute auf ihn berufen. So hat sich zum Beispiel seit den Achtzigerjahren eine poststrukturalistische Lesart herausgebildet.
Angesichts dieser Breite in der Auseinandersetzung mit Benjamin bleibt für diese Einführung jedes Streben nach Vollständigkeit illusorisch. Im Folgenden soll deshalb der Beitrag Benjamins zu vier zentralen Theoriefeldern ausgemessen werden: zur Sprachtheorie, zum ästhetisch-erkenntnistheoretischen Komplex, zur Medien- sowie zur Geschichtstheorie. Mit den Überschriften der zugehörigen Kapitel soll nicht suggeriert werden, Benjamin habe abgeschlossene Theorien vorgelegt. Sein Denken, das sich immer wieder »bei Gelegenheit von« entfaltete, charakterisiert vielmehr ein Widerwille gegen philosophische Systeme. Die Überschriften sollen eine erste Verortung in der heutigen wissenschaftlichen Landschaft ermöglichen und dürfen – wie die oben angesprochenen Straßenschilder – bei Bedarf produktiv vergessen werden. Vorausgeschickt sei auch, dass aus Platzgründen nur ein Bruchteil der umfangreichen Sekundärliteratur überhaupt erwähnt werden kann. Zu den angesprochenen Themen existiert also weitere Speziallektüre, die am besten über die im Anhang angegebenen Bibliographien zu erschließen ist.
Die Kapitel...




