E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Flottmann und Hilgersen
Kramer Das Flüstern im Watt
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-96041-279-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Küsten Krimi
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Flottmann und Hilgersen
ISBN: 978-3-96041-279-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mit akustischem Spürsinn auf der Fährte des Bösen – ein Krimi, der die Melodie der Nordsee einfängt.
Hauptkommissar Flottmann hat sich vom Rheinland nach Norddeutschland versetzen lassen, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Doch die währt nicht lange. Eine Entführungsserie hält die Region in Atem, die Täter gehen mit äußerster Brutalität vor. Als die Ermittlungen ins Stocken geraten, greift Flottmann zu ungewöhnlichen Mitteln: Er sucht Unterstützung bei Leon Gerber, einem Musiker mit hochsensiblem Gehör. Kann dieser den entscheidenden Hinweis liefern?
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1
Waldemar Flottmann hatte seinen Lieblingsort gefunden. Hier an der Halbmondwehle tankte er die notwendige Energie für die Arbeit. Eine innere Unruhe, die er nicht begründen konnte, hatte ihn früh aufwachen lassen. Jetzt stand er auf der Fußgängerbrücke, die über den Sielzug führte. In der Ferne grasten Gallowayrinder zwischen Windkraftanlagen, deren Flügel sich mühsam drehten. Die ersten Sonnenstrahlen versuchten den Nebel zu durchdringen und verzauberten die Landschaft – ein seltenes Schauspiel um diese Jahreszeit. Regen hatte die Temperatur über Nacht spürbar absinken lassen. Flottmann zog den Kragen seiner Jacke enger und sog die salzige Seeluft geräuschvoll durch die Nase ein. Das Schöpfwerk spiegelte sich im ruhigen Gewässer. Er stieß mit dem Fuß einen Kieselstein von der Brücke, und von einer Sekunde auf die andere stimmte das Spiegelbild nicht mehr mit der Realität überein. Das Gebäude krümmte sich und zerfloss vor seinen Augen. Nach einiger Zeit ordnete es sich erneut. Manchmal, so ging es dem Kriminalbeamten durch den Kopf, fügten sich auch die Puzzlestücke langwieriger Ermittlungen auf ähnlich wunderbare Weise zu einem stimmigen Bild. Er lehnte sich über das Geländer und blickte in sein eigenes Antlitz: Hauptkommissar Waldemar Flottmann, geschieden, seit einem halben Jahr bei der Husumer Polizei, siebenundvierzig Jahre alt, kaum graue Strähnen in den schwarzen, zurückgekämmten Haaren, maximal zwanzig Kilogramm zu viel auf den Rippen. Aber ein aufrechter Kerl, der den Kollegen in Bonn nur wenige ungeklärte Fälle zurückgelassen hatte. Alles in allem war er an diesem Morgen mit sich zufrieden. Die kühle Nordseeluft hatte seine innere Unruhe hinweggeblasen und neue Lebensgeister geweckt. Er warf einen letzten Blick in Richtung Schöpfwerk. Erst jetzt nahm er eine Gestalt wahr, die reglos am Ufer der Wehle kauerte. Er setzte das Fernglas an: eine junge Frau mit blonden, schulterlangen Haaren, viel zu dünn gekleidet für den kühlen Morgen. Flottmann verließ die Brücke und ging die schmale Straße entlang. Sie bemerkte ihn nicht einmal, als er vor ihr stand. Sein Blick fiel auf ihre linke Hand, die auf dem Knie ruhte. Vom Ringfinger war nur ein fleischiger Stumpf zu sehen. Ihr T-Shirt war mit Blut getränkt. Er wollte etwas sagen, doch der Anblick raubte ihm für einen Moment die Sprache. Als Kriminalist hatte er so manches erlebt, aber die Szene hatte etwas, das ihn tief berührte. Die Frau drehte langsam den Kopf zur Seite. Ihre glasigen Augen starrten ihn an. Dann stieß sie einen Schrei aus, der nicht enden wollte. Er stolperte rückwärts auf die Straße. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick. Aber es dauerte nicht lange, bis professionelle Routine die Gefühle in den Hintergrund drängte. Er zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte die 112. Mit präzisen Worten übermittelte er die erforderlichen Informationen an die Rettungsleitstelle. Flottmann traute sich nicht, erneut auf die junge Frau zuzugehen und sie anzusprechen. Er stand wie angewurzelt am Straßenrand und ließ sie nicht aus den Augen. Nur ab und zu ging sein Blick Richtung Bundesstraße, aus der der Rettungswagen kommen würde. Erleichtert atmete er auf, als die Hilfe endlich eintraf. Aus dem Fahrzeug stiegen ein junger Mann in Sanitätskleidung und eine Ärztin mit strohblonden Haaren und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Sie stellte sich als Lena Abendroth vor. Nachdem Flottmann die Situation geschildert hatte, ging sie auf die Patientin zu und setzte sich neben sie. Vor der Ärztin schien die junge Frau keine Angst zu haben. Flottmann beobachtete die Szene aus der Entfernung. Er konnte nicht hören, was gesprochen wurde, hatte aber den Eindruck, dass es Lena Abendroth gelungen war, eine Verbindung zu ihr aufzubauen. »Sie ist gut«, sagte der Sanitäter. »Sie versteht etwas von Menschen und bleibt immer ruhig, egal, was passiert.« Nach einigen Minuten kamen die beiden Frauen zu ihnen herüber. Als das Mädchen in den Transporter stieg, traf Flottmann ein Blick, traurig, verstört, hilfesuchend. Der Blick verfolgte ihn noch während der Fahrt ins Büro und brachte Erinnerungen aus seinem langen Berufsleben hervor, die er hatte zurücklassen wollen. Fast immer waren seine Ermittlungen mit Schicksalen verbunden gewesen, die für die Beteiligten nur schwer zu ertragen gewesen waren. Und so manches Mal hatte er nicht die notwendige Distanz zu den Ereignissen aufgebracht. Aber das hier war etwas anderes. Das Mädchen lebte und würde voraussichtlich genesen. Trotzdem war ihm die Begegnung nahegegangen, mehr, als er es für möglich gehalten hätte. Er bog in die Finkhauschaussee ein und beschleunigte seinen Wagen. Die Strecke bis zur Dienststelle in der Poggenburgstraße legte er zurück, ohne die Umwelt und den Straßenverkehr bewusst wahrzunehmen. Stattdessen verfolgten ihn die inneren Bilder, verbunden mit mehr oder weniger passenden Geschichten über das, was geschehen sein konnte. Als er auf den Parkplatz fuhr, versuchte er in den Arbeitsmodus umzuschalten. Das Mädchen war in guten Händen, und auf ihn warteten dringende Aufgaben. Den Bericht über den Einbruch in die Apotheke hätte er bereits vor Tagen fertigstellen müssen, um zehn Uhr stand die Vernehmung eines Zeugen in der Brandstiftungssache Papiercontainer an, und mit dem Cannabisanbau in der Kleingartenanlage musste er sich ebenfalls befassen. Zu allem Überfluss landeten zurzeit Vorgänge auf seinem Schreibtisch, die Sache des Dienststellenleiters gewesen wären. Aber der lag wegen Herzproblemen im Kieler Universitätskrankenhaus. Der Kollege und Mitarbeiter Gustav Hilgersen schlürfte aus einem Becher mit der Aufschrift »Plattschnacker«, als Flottmann das gemeinsame Büro betrat. Die beiden waren nicht nur äußerlich recht verschieden. Der zehn Jahre jüngere Hilgersen war einen Kopf kleiner als Flottmann und von drahtiger Statur. Seine dunkelblonden, kurz geschnittenen Haare wiesen symmetrische Geheimratsecken auf. Seine Nase war leicht gebogen und die Gesichtshaut etwas rötlich, als hätte er einen Schluck zu viel getrunken. Er war meistens redselig und konnte anderen mit seiner Art so manches Mal auf die Nerven gehen. Jedenfalls empfand Flottmann das so. »Moin«, grüßte dieser und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Moin. Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?« »Was?« »Ich erkenne den Gemütszustand eines Menschen an der Art, wie er das Moin ausspricht.« »Was für ein Quatsch«, brummte Flottmann. »Na ja, vielleicht funktioniert das bei dir wegen deines rheinischen Akzents nicht.« Flottmann hatte keine Lust, etwas zu entgegnen. Das Mädchen von der Halbmondwehle spukte immer noch in seinem Kopf herum. Die Hand mit dem Fingerstumpf, das Blut – das war kein Unfall gewesen. Er blätterte eine Zeit lang in der Akte »Cannabis«, ohne einen zusammenhängenden Satz aufzunehmen. Schließlich klappte er die Mappe zu. »Ich muss noch mal weg. Du übernimmst den Zeugen. Er kommt um zehn«, rief er Hilgersen im Gehen zu. »Welchen Zeugen?« »Papiercontainer, Brandstiftung. Du weißt Bescheid. Der Vorgang liegt auf meinem Schreibtisch.« Hilgersens Antwort hörte er nicht mehr. In der Klinik fragte er nach der Ärztin. Sie holte ihn am Empfang ab und führte ihn in einen Aufenthaltsraum. Flottmann zeigte seinen Dienstausweis. »Setzen Sie sich bitte. Sie sind von der Polizei? Dann hat Sie heute Morgen jemand benachrichtigt?« »Ich war rein zufällig vor Ort. Das heißt, ich bin oft dort, um mich sozusagen auf den Tag einzustimmen.« »Eine Art von Meditation?« Sie lächelte und neigte dabei den Kopf ein wenig zur Seite. Flottmann schätzte sie auf Anfang vierzig, aber ihre Ausstrahlung und Gestik wirkten jugendlich unbekümmert. Das passte so gar nicht in das Bild, das er von den Vertretern ihres Berufsstandes hatte. »Ja, das könnte man so sagen. Der Anblick der Natur hilft manchmal, Dinge ins rechte Licht zu rücken. Wie geht es Ihrer Patientin?« »Ich bin nicht die behandelnde Ärztin. Aber ich bin informiert. Sie heißt Katrin Lehrbach. Die Eltern wurden benachrichtigt. Sie sind hier.« »Wissen Sie, was passiert ist?« »Nein. Sie ist kaum ansprechbar und wird auch in den nächsten Tagen keine Fragen beantworten können.« »Der Finger?« »Wurde mit einer stumpfen Klinge abgetrennt. Der Knochen ist zersplittert. Wir werden sie operieren müssen. Eine Wiederherstellung ist natürlich nicht möglich. Selbst wenn wir den Finger gefunden hätten, wäre eine Replantation kaum erfolgversprechend.« »Ich würde gerne mit ihren Eltern sprechen.« »Im Moment ist das ungünstig. Sie werden sicher noch einige Stunden bei ihrer Tochter bleiben. Das Wichtigste ist jetzt die psychologische Betreuung. Das Mädchen muss ein traumatisches Erlebnis gehabt haben.« Flottmann nickte. »Hat sie weitere Verletzungen?« »Nein, und um Ihre nächste Frage zu beantworten: Es gibt keine Hinweise auf eine Vergewaltigung.« Flottmann ließ sich die Adresse der Eltern geben und verabschiedete sich. Das Lächeln der Ärztin gefiel ihm. Als er in den Flur trat, konnte er endlich wieder normal atmen. Es hatte ihn angestrengt, unablässig den Bauch einzuziehen. »Wie lief die Befragung?« Flottmanns Drehstuhl quietschte, als er sich niederließ. »Der Fall ist fast abgeschlossen«, sagte Hilgersen. »Der Rentner hat den Täter eindeutig erkannt. Es war ein Bengel aus der Nachbarschaft. Die Aussage liegt bei den Akten. Wer schreibt den Bericht?« »Du natürlich. Es sind deine Lorbeeren.« »Sehr großzügig.« »So bin ich.« »Wie lief es bei...