E-Book, Deutsch, Band 6, 378 Seiten, E-Book
Reihe: LIMES. Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien.
Krah Einführung in die Literaturwissenschaft. Textanalyse
1. Überarbeitete Nachauflage 2016
ISBN: 978-3-86935-302-9
Verlag: Verlag Ludwig
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 6, 378 Seiten, E-Book
Reihe: LIMES. Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien.
ISBN: 978-3-86935-302-9
Verlag: Verlag Ludwig
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Jahrgang 1961. Dr. phil. habil. Von 1989 bis 2002 Dozent an der Universität Kiel, seit 2002 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Neben dem literaturwissenschaftlichen Arbeitsbereich Schwerpunkt im Bereich Film und audiovisuelle Medien. Interesse und Instrumentarium orientieren sich primär an narrativen Strukturen und deren semantisch-ideologische Funktionalisierung. Verfolgt werden vor allem Fragestellungen um Genres und filmhistorische Phänomene, darüber hinaus auch solche um Aspekte und Probleme des Medienwechsels. Der Fokus liegt auf der mentalitätsgeschichtlichen Erforschung audiovisueller (wie textueller) Diskurspraktiken, insbesondere denen des öffentlichen Lebens/der Populärkultur. Herausgeber der Reihe LIMES - Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien - KIEL.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2 Bedeutungsorganisation
Das folgende, grundlegende Kapitel beschäftigt sich mit den Verfahren und Strategien, mit denen Texte ihre Bedeutung konstituieren und Bedeutung organisieren. Diese stehen als Beschreibungsinventare der Interpretation für den Akt der Rekonstruktion von Bedeutung als zentrale analytische Mittel zur Verfügung.
2.1 Textsemantik
2.1.1 Discours und Histoire/Oberflächenebene und Tiefenstruktur
In jedem Text können grundsätzlich zwei Ebenen unterschieden werden, die sich wechselseitig bedingen: und . Die Oberflächenstruktur besteht aus allen präsentierten Dingen und Geschehnissen in ihrer konkreten sprachlichen Verfasstheit und ihrer gegebenen syntagmatischen Abfolge, also aus den spezifischen Signifikanten, Zeichenverbindungen und -abfolgen eines Textes. Diese Oberflächenstruktur lässt sich als im Allgemeinen verstehen (vgl. noch Kap. 4). Discours ist dabei nicht mit Diskurs zu verwechseln, wie er in Kap. 7.2 eingeführt wird (hier liegt nur eine sprachlich-begriffliche Ähnlichkeit vor, keine konzeptionell-inhaltliche).
Die Tiefenstruktur bestimmt sich über die logisch-semantischen Kategorien, die Paradigmen, welche in bestimmten Relationen stehen und die die dem Text zugrunde liegende semantische Ordnung konstituieren. Sie bezeichnet also das Bedeutungsgeflecht eines Textes, das der Textoberfläche und dieser zu abstrahieren ist. Die hier relevanten Einzelaspekte können als Ebene der zusammengefasst werden. Konstruktionen der Textoberfläche können dabei durch Implikationen, die sich auf und aus der Tiefenstruktur ergeben, hinterfragt werden.
2.1.2 Textualität
Wenn es um die Bedeutung eines Textes und damit um die Bedeutung von Begriffen in einem Text geht, ist es wichtig, sich das Folgende zu vergegenwärtigen: In der linguistischen Verwendung des Begriffs ›semantisches Merkmal‹ bezeichnen die Merkmale die in einer Theorie explizit eingeführten, kleinsten Bedeutungseinheiten des Sprachsystems. In der literaturwissenschaftlichen Verwendung sind es dagegen von Fall zu Fall zu bestimmende, eben durch keine Theorie vorgegebene kleinste Bedeutungseinheiten des Textes oder eines textkorpusspezifischen Systems, die mit den linguistischen übereinstimmen können, aber nicht müssen. Über die Primärbedeutung des Sprachsystems hinaus können Begriffen zusätzliche Merkmale durch den Äußerungsakt zugewiesen und/oder ihre Bedeutung modifiziert, verschoben sein. Diese kann auf verschiedenen Ebenen und über verschiedene Verfahren/Strategien erfolgen. Merkmale können Begriffen zum einen natürlich aufgrund der dem Text voraus liegenden Sprachstruktur zugewiesen sein. Sie können dies aber auch aufgrund einer expliziten oder impliziten Zuordnung im Text selbst sein. Und schließlich kann eine solche Zuordnung auch aufgrund von Informationen gesteuert sein, die über den konkret vorliegenden Text hinausgehen (siehe dazu Kap. 7). In diesem Kapitel soll auf die Verfahren eingegangen werden, die sich aus dem textuellen Kontext – dem Sprachmaterial und der Textstruktur – ergeben und sich auf diesen beziehen.
Wie unterschiedlich ein und derselbe Begriff in verschiedenen Texten verwendet wird und verwendet werden kann, mögen zunächst die folgenden Beispiele zur Semantik des Begriffs ›Freiheit‹ demonstrieren.
Marquis.
[…] Alle Könige
Europens huldigen dem Spanschen Namen.
Gehen Sie Europens Königen voran.
Ein Federzug von dieser Hand, und neu
Erschaffen wird die Erde. Geben Sie
Gedankenfreiheit. –
[…]
Sehen Sie sich um
In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit
Ist sie gegründet – und wie reich ist sie
Durch Freiheit. Er, der große Schöpfer, wirft
In einen Tropfen Tau den Wurm, und läßt
Noch in den toten Räumen der Verwesung
Die Willkür sich ergetzen – Schöpfung,
Wie eng und arm!
In dieser bekannten Rede des Marquis Posa aus Friedrich Schillers (1787) wird der Begriff ›Freiheit‹ zum einen als Gedankenfreiheit spezifiziert, und damit bedeutet Freiheit hier nicht soziale Freiheit, ökonomische Freiheit, politische Freiheit und auch dezidiert nicht Religionsfreiheit, zum anderen wird sie mit Natur verbunden und somit als etwas Nicht-Soziales, Nicht-Gesellschaftliches (also nicht vom Menschen ›Geschaffenes‹) gedacht, sondern stattdessen als ursprüngliches und göttliches Prinzip gesetzt. Ein weiteres Beispiel aus einem Drama Schillers:
Maria.
Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet
Ihr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel
Nun endlich naht, daß meine Bande fallen.
Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich
Auf Engelsflügeln schwingt zur ewgen Freiheit.
Da, als ich in die Macht der stolzen Feindin
Gegeben war, Unwürdiges erduldend,
Was einer freien großen Königin
Nicht ziemt, da war es Zeit, um mich zu weinen!
– Wohltätig, heilend, nahet mir der Tod,
Der ernste Freund!
Hier in (1800) bedeutet Freiheit etwas ganz anderes, obwohl es sich ebenfalls um ein klassisches Drama von Schiller handelt. Hier ist Freiheit mit dem Tod verbunden, der sich hinter dem Begriff der ›ewgen Freiheit‹ verbirgt. Innerhalb des Lebens ist Freiheit damit nicht zu realisieren. Wenn sie davon spricht, dass ihr Kerker aufgeht, dann ist damit nicht der reale Kerker gemeint, in dem sich Maria zum Zeitpunkt ihrer Rede befindet, sondern als Kerker wird hier ihr Leben insgesamt semantisiert, und damit kann hier auch keine Freiheit erreicht werden. Insofern kann aber dem Tod diese positive Qualität der Freiheit zugesprochen und der Tod positiv als Freund bezeichnet werden, der Heilung bringt, also eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustands.
Die folgenden beiden Repliken stammen aus demselben Text, aus Christian Dietrich Grabbes (1829); es sind Aussagen von den beiden sich bekämpfenden Parteien:
Gherardo.
[…] Was ihm gebührt,
Laßt uns dem Kaiser geben, heiß’ es Zoll,
Gefälle, Huld’gung der Vasallen – Aber
Mit Vögten nicht soll er die Freiheit binden
[…]
Alle Mailänder und Lombarden.
Wir brechen jubelnd auf zum Freiheitskriege!
Kaiser Friedrich.
[…] Und geh’n Millionen
In diesem Kampf’ um Geistesfreiheit unter –
Sie konnten nimmer schöner fallen, und
Ich sehe schon den Phönix, welcher sich
Aus ihrer Asche riesengroß [… ] wird erheben!
[…]
Ich kämpfte für der Völker Freiheit,
Und sucht’ ich zu vertilgen!
Beide Ausschnitte sind aus einem Text und in beiden wird die jeweilige Aktion, Krieg und Kampf, dadurch begründet, dass sie einen Zustand von Freiheit herstellen soll. Beide Parteien bekämpfen sich aber gegenseitig. Wenn für beide Seiten es aber ein Kampf um Freiheit ist, dann muss Freiheit für jeden etwas anderes bedeuten, etwas, das aber mit dem gleichen Begriff ausgedrückt wird. Für die Mailänder ist Freiheit mit dem Fehlen von Vögten gleichgesetzt, die für den Zustand der Unfreiheit als verantwortlich gelten; für den Kaiser dagegen ist Freiheit das Fehlen der kirchlichen Macht.
Die letzten beiden Textbeispiele stammen aus einem anderen historischen Kontext, der NS-Zeit. Zunächst ein Ausschnitt aus dem Roman (1934) von Josefa Berens-Totenohl:
Seit Jahren war ihm Margret, eine reiche Bauerntochter aus dem Kölnischen, zur Frau bestimmt. Da warf ihm das Schicksal eine wilde, schwarzhaarige Zigeunerhexe in die Arme, ein Mädchen mit Glutaugen und Feuersbrünsten, also, dass er im ersten Augenblicke seiner blonden und stillen Margret vergaß und das fremde Weib in seine brausenden Nächte hineinriß.
[…]
Schon trieb es ihn in manchen Nächten hinauf ins Gebirge, statt in ihre verführerischen Arme, trieb ihn auf die Spur von Luchs und Wolf, in Gefahr und Not und Tod, statt in die eigene übersättigte Gier seiner Sinne. Es schrie in ihm nach Freiheit, nach der stolzen Freiheit seines Wesens, die er verraten.
Hier findet sich eine ganz andere Konzeption von Freiheit: Freiheit ist mit dem Wesen der Person verbunden und bedeutet, so zu sein, wie man sein soll, von innen, von selbst heraus. Sie ist damit kein gesellschaftliches Phänomen und kein kollektives, ob nun kulturell oder naturbedingt. Unfrei wird man hier, wenn man gegen das Eigene verstößt. Zu diesem Eigenen, zu dem So-sein-wie-man-sein-soll, gehört hier inhaltlich, sich nicht mit Zigeunern einzulassen; dies wird als Verrat an sich selbst gesetzt. Die Vorstellung von dem, was Freiheit bedeutet, ist hier also in einem prinzipiell anderen Kontext situiert, wird letztlich sogar mit Eugenik und Rassenlehre in Zusammenhang gebracht.
Als letztes Beispiel dienen Ausschnitte aus dem Gedicht von Heinrich Lersch, 1938 in der Gedichtsammlung publiziert:
[…]
Wir sind frei, Vater, wir sind frei!
Tief im Herzen brennt das heiße Leben,
Frei wären wir nicht, könnten wirs nicht geben.
Wir sind frei, Vater, wir sind frei!
Selber riefst du...