Kossdorff Leben spielen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-552-06322-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-552-06322-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jan Kossdorff, geboren 1974, lebt in Wien und Altmünster. Er ist ausgebildeter Drehbuchautor und arbeitet als Journalist und Werbetexter. Bisher erschienen die Bücher: Sunnyboys (2009), Spam! - ein Mailodram (2010); für Kauft Leute (2013) erhielt er die Buchprämie der Stadt Wien und den Samiel Award für den besten literarischen Schurken. 2016 ist bei Deuticke sein Roman Leben spielen erschienen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2
Es war Abend. Mischa saß in Valeries Wohnung in der Küche, sein Hund lag auf seinem Schoß und schlief. Valerie schälte Äpfel für einen Kuchen und hörte Radio. Sie trug ihre alte Wohnungshose mit einem Loch am Knie und einem am Hintern, dazu ein T-Shirt der Band Mudfuzz, die es längst nicht mehr gab. Die Haare hatte sie hochgesteckt, und ihr Blick bohrte sich gebannt in eine Ecke des Raumes, wo sich überhaupt nichts tat, während sie der Geschichte im Radio folgte. Mischa gähnte herzhaft, dann nahm er noch einen Schluck Weißwein, steckte sich ein paar Nüsse in den Mund und öffnete den obersten Knopf seiner Jeans. Seine Hosen wurden ihm eng. Valerie sah, dass die Decke, in die seine Füße eingewickelt waren, etwas verrutscht war, und richtete sie wieder. Die Therme knackte, der Hund zuckte kurz im Schlaf, es juckte ihn hinterm Ohr. Der Stundenzeiger der Küchenuhr wanderte Richtung neun, sonst tat sich nichts.
Er dachte an Otto und wie er seine Schüler zur Disziplin zu erziehen versucht hatte. Euer Körper und eure Stimme sind euer Instrument. Trainiert sie im selben Maße wie ihr sie schont. Otto verabscheute Alkohol, und er hasste es, sie betrunken zu sehen. Wenn sie bei einer Feier zu viel getrunken hatten, verließ er beleidigt das Lokal. Er wollte sie fürs Wandern und Schwimmen begeistern, aber sie wollten nur spielen. Spielen, lieben, trinken. Eine Bande von Schwererziehbaren. Noch schlimmer war es mit dem Essen. Er hatte einen Menüplan für sie entwickelt, eine Schauspieler-Diät. Er liebte Fisch, Gemüse, Kleie, die japanische und tibetische Küche. Sie kümmerten sich nicht darum. Wenn sie spielten, vergaßen sie aufs Essen, und wenn irgendwann der Hunger kam, schlangen sie alles in sich hinein, was gerade verfügbar war. Wenigstens vor der Premiere esst vernünftig, forderte er, aber gerade dann war es sinnlos, schon die Tage davor behielt man kaum etwas bei sich; am Premierentag selbst war Kotzen dann ohnehin unvermeidlich. Immer wieder riet er ihnen zu Yoga, und manche von ihnen probierten es und mochten es auch, aber keiner blieb dabei, sie waren zu unstet. Christa, sagte Otto zu Mischas Mutter, hier ist dein Junge stark, und er deutete auf sein Herz und seine Stirn, aber hier und hier sind seine Schwachpunkte, und er zeigte auf seine Knie und seinen Rücken. Das war zehn Jahre bevor er dort wirklich Probleme bekam.
Wenn ihr Schnaps trinken wollt, trinkt ein Bier. Wenn ihr Bier wollt, trinkt Limonade. Schaut nicht Tatort, lest Othello. Anstatt zu rauchen, öffnet das Fenster. Wenn ihr einmal um den Block gehen wollt, geht einmal um die Stadt. Verliebt euch, aber bitte erzählt mir nichts davon!
Als die Sendung, die Valerie hörte, zu Ende war und die Sound-Signation des Senders erklang, sagte Mischa: »Mein ehemaliger Schauspiellehrer ist gestorben!«
Valerie schaute auf und ließ das Schneidemesser sinken.
»Wie denn und wann?«, fragte sie, und er konnte hören, dass sie sich nicht sicher war, ob sie wissen müsse, ob oder wie sehr ihn das mitnahm. Auch sein Hund war plötzlich aufgewacht und sah ihn erwartungsvoll an, als hätte Mischa einen Spaziergang in Aussicht gestellt.
»Ich weiß gar nichts«, sagte er, »ich hab nur eine Einladung zu der Abschiedsfeier bekommen.«
»Wie alt war er?«, wollte Valerie wissen.
Er musste überlegen. »Schwer zu sagen, so Anfang siebzig vielleicht. Aber er ist ja immer unheimlich fit gewesen. Sein Körper war sein Tempel, er hat wirklich auf sich achtgegeben.«
Valerie machte damit weiter, Äpfel zu schälen.
»Magst du mir von ihm erzählen?«
Er zögerte, er wusste nicht, ob er das wollte, aber dann kam es einfach aus ihm heraus:
»Er war ein spiritueller Mensch. Er hat sich seine eigene Religion zusammengebastelt. Großteils aus dem Buddhismus-Baukasten, aber auch aus dem Hinduismus und sogar aus dem Islam. Für ihn waren die Rollen eines Schauspielers die Inkarnationen, die er durchmachen muss, bevor er das Nirwana oder die Seligkeit erreicht. Er hat in geborene Rollen und gebaute Rollen unterschieden. Die großen Schauspieler gebären ihre Rollen, die anderen bauen sie nur. Das eine ist Schöpfung, das andere Handwerk. Er hat auch seine Schüler in jene unterteilt, die Rollen gebären, und die, die sie bauen. Aber du darfst dir nicht vorstellen, dass es nur ernst zugegangen ist, er war ein witziger Typ, es wurde viel gelacht im Unterricht. Er hat Improvisation, Masken und Experimente geliebt. Ich glaube, je älter er wurde, umso weniger hat er an gut strukturierte Dramen, sondern an den Zauber des Moments, Chemie, Nonsense geglaubt. Ausnahme war natürlich Shakespeare, ihn nannte er nur den Alten Barden. Er war ein Groupie, wirklich. In den Siebzigern hat er eine Zeit in London gelebt und sein Geld als Straßenmusiker verdient. Er hat jeden Cent ins Theater investiert. Angeblich hat er damals in einem Pub John Cleese kennengelernt, und sie haben lange über Buddhismus gesprochen!«
Valerie hatte das Messer wieder hingelegt und starrte Mischa nun fassungslos an.
»Was ist denn?«, fragte er sie.
»O mein Gott, du erzählst mir wirklich mal etwas von damals! Ich dachte, das passiert nie!«
»Was redest du da, ich hab dir schon oft von früher erzählt!«
»Und das klingt dann so: Ja, ich hab da mit Soundso in diesem Stück gespielt, und es ist nicht wirklich toll angekommen, und kurz darauf hat sich die Gruppe aufgelöst, na ja, was soll’s.«
»Aber genau so ist es ja auch dauernd gewesen!«
Valerie griff wieder zu ihrem Schneidemesser und sagte: »Mehr!«
Er wunderte sich wirklich, warum Valerie so aus dem Häuschen war, aber er erzählte weiter:
»Otto hat uns gezeigt, dass wir uns nicht davor fürchten müssen zu spielen, weil wir es schon unser ganzes Leben hindurch getan haben. Weil es alle tun! Wir alle spielen eine Rolle, übertreiben, lügen, versuchen, Emotionen zu verstecken oder vorzutäuschen. Zu sein ist zu spielen, die einen können es besser, die anderen schlechter. Interessanterweise nehmen wir Menschen, die wenig Talent für dieses Spiel haben, die sagen, was ihnen einfällt, und ihre Emotionen ausleben, als seltsam oder verrückt wahr.«
Er nahm einen Schluck Wein und schubste, weil ihm warm geworden war, den Hund von seinem Schoß.
»Wir lernen, uns den Vorstellungen, die die Leute von Normalität haben, anzupassen, um von ihnen akzeptiert zu werden. Paradox daran ist, dass wir diesen Prozess der Angleichung nur bei uns selbst bemerken – bei anderen nehmen wir ihn nicht wahr. Wir sehen nicht, dass es sie genauso viel Mühe kostet wie uns, den Schein zu wahren! Wie überrascht sind wir, wenn uns Freunde einmal einweihen, wen sie heimlich lieben, wem sie Gewalt antun wollen oder wovon sie träumen. Unsere Fähigkeit, Normalität vorzutäuschen, hilft uns nicht dabei, sie bei anderen als Maske zu entlarven.«
»Also war Otto auch eine Art Psychologe?«
Er dachte kurz nach, bevor er antwortete: »Das war er eigentlich überhaupt nicht. Ich glaube, er hatte relativ wenig Einfühlungsvermögen. In Figuren, in diverse Menschentypen konnte er sich gut hineindenken, aber wie es seinen Schülern ging, wie sie mit Erfolg und Misserfolg umgingen, das interessierte ihn entweder nicht sehr, oder er hatte einfach kein Händchen für ihre Sorgen.«
»Ging es dir auch so mit ihm?«
»Nein, das ist es ja. Mich mochte er. Sehr.«
»Also gehst du zu der Abschiedsfeier?«
»Ich bin mir noch nicht sicher.«
Valerie setzte sich auf seinen Schoß und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Ein paar Minuten lang sagten sie nichts. Draußen bellten ein paar Hunde, von oben hörten sie leise den Schleudergang einer Waschmaschine, das Radio spielte eine Oper. Er dachte an Otto mit seinen indischen Hemden, den Sandalen und dem Tattoo des »Dharma-Rads« auf der Brust und überlegte, welchen Zustand er jetzt wohl erreicht hatte.
»Wann ist denn die Abschiedsfeier?«, fragte Valerie.
»Samstag.«
»Da ist die Sponsion von meinem Bruder!«
»Dann geht es sowieso nicht. Und eigentlich hab ich mich auch schon von ihm verabschiedet.«
Am Samstag, dem Tag der Abschiedsfeier von Otto Alessi, den in Theaterkreisen jeder gekannt hatte und der den Ruf hatte, große Talente zum Strahlen und kleine zum Verlöschen zu bringen, saß Sebastian zu Mittag vor seinem Computer und sah sich die Antwortschreiben an, die er auf sein Inserat in der Zeitung bekommen hatte. Es hatten sich einige Leute gemeldet, allerdings zeigte sich, dass alle mehr Information zu dem Projekt wollten. Da er aber keine Unterlagen besaß und eigentlich auch nicht konkreter werden konnte, bot er den Leuten einfach an, sie persönlich auf einen Kaffee zu treffen und ihnen seine Idee vorzustellen. Vielleicht ergab sich auf diese Weise ein Auftrag.
Später am Nachmittag saß er in dem alten Ohrensessel, den er an den einzigen Fleck in seinem Wohnzimmer geschoben hatte, wo im Winter noch die Sonne hinreichte, und versuchte, an seinem Stück zu arbeiten. Der Raum war eine Baustelle, wobei der Begriff die Situation nicht treffend beschrieb – hier wurde eben nicht gebaut. Er hatte die Eigentumswohnung von seinem Onkel geerbt und sie vor etwa drei Jahren zu renovieren begonnen, bis ihm kurz darauf das Geld ausgegangen war. Seitdem lebte er im Schutt. Nur Schlafzimmer, Bad und Küche waren verwendbar, die restlichen sechzig Quadratmeter zeigten sich mit rausgerissenen Böden und Kabeln, außerdem waren sie nicht beheizbar und im Winter entsprechend ungemütlich. Er wusste nicht, ob er jemals das Geld besitzen würde, um die notwendigen Arbeiten durchführen zu lassen. Derzeit...




