E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Koschmieder Trümmerfrauen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96054-221-6
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Heimatroman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-96054-221-6
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Und während wir noch ironisch verharmlosen, tanzt das ›Neue Denken‹ wie Rumpelstilzchen ums Feuer. Heute hol ich mir den Heimatbegriff, morgen das Volk, und übermorgen setze ich in die Praxis um, was hinter der Rhetorik steckt."
Am Vorabend des Erntedankfestes besteigen Lou und Ottilie einen seniorengerechten Vier-Sterne-Reisebus, um eine Reise nach Thüringen und in die deutsche Vergangenheit anzutreten – zum Kyffhäuser-Denkmal. Lous zwanzigjähriger Sohn Anatol sitzt derweil betrunken in einem Flugzeug von den USA nach Deutschland und rekapituliert vor zwei Spielzeugnilpferden seinen Versuch, mit Hilfe einer Fruchtbarkeits-App eine Bilderbuchfamilie zu gründen. Und während die deutschtümelnde Leipziger Kleingartenanlage fu¨r das Erntedankfest aufrüstet, bereitet sich auch Karola auf die Verteidigung der Heimat vor, denn sie hat es satt, sich vom Kapitalismus ihre Geschichte diktieren zu lassen. 48 Stunden später kommt es zum Showdown: Anatol fesselt Karola an einen Baum, Kohlköpfe werden gesprengt und alle von ihrer eigenen Geschichte eingeholt, bis hin zur furchtbaren "Aktion Erntefest" 1943 im Generalgouvernement Polen.
Die Tür zwischen Fiktion und Realität ist in diesem rasanten Roman weit aufgerissen. Im Stil einer literarischen Kreissäge fräst sich "Trümmerfrauen" durch deutsche Geschichte und lässt Lebenswirklichkeiten aus Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit aufeinanderprallen. Eine kämpferische Erzählstimme, die trotz ihrer berechtigten Wut nie die Empathie fu¨r ihre Figuren verliert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Es geht alles vorüber
Die automatischen Glastüren schließen sich hinter ihr und das Senioren- und Pflegeheim Andersen Nexö empfängt sie in seiner gedämpften Welt. Es riecht nach Desinfektionsmittel, Carnaubawachs und Mittagessenvorbereitung (irgendwas mit Schmorzwiebeln). Auf Lous Stirn liegt ein dünner Schweißfilm. Sie spürt die Feuchtigkeit in ihrer Handfläche, als sie die Türklinke drückt. Die Wollmütze war ein Fehler. Mit dem Rücken zur Zimmertür sitzt Ottilie in ihrem Midcentury-Sessel am weit geöffneten Fenster, die Füße in blau melierten Ringelsocken auf der Heizkörperabdeckung, den Hals aufrecht über die flaschengrüne Sessellehne gestreckt wie über eine Wasseroberfläche, über der es die Frisur trocken zu halten gilt. Als Zeichen, dass sie Lous Eintritt zur Kenntnis genommen hat, wackelt sie in den Wollsocken mit den Zehen. Ottilie hat beschlossen, sich nicht bei lebendigem Leib austrocknen zu lassen. Sich von keiner Heimleitung, von keiner zentral gesteuerten Heizungsanlage abhängig zu machen. Eine wie Ottilie lässt sich weder austrocknen noch verdunsten. »Nicht auszuhalten«, hat sie bei ihrem Einzug befunden, als ihr klargeworden ist, dass hier ganzjährig geheizt wird. Die Anstaltsleitung hat auf ihre wiederholten Beschwerden mitgeteilt, dass die Anlage zentral gesteuert sei und man die Einstellungen bedauerlicherweise nicht eigenmächtig verändern könne. Eine Pflegeheimen und Seniorenresidenzen eigene Maßnahme, so hat Ottilie misstrauisch unterstellt, um die eigenen Bewohnerinnen auszutrocknen, den Altfrauenschweiß, die Inkontinenz, die künstlichen Darmausgänge und die Tränen. Bei Ottilie ist nichts auszutrocknen, Ottilie hat sich im Griff, und selbst wenn ihr Körper ihr immer häufiger klarzumachen versucht, dass sein Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, Ottilie würde es nie einfach laufen lassen. Ottilie riecht nach Lavendel, hat die Haare immer schön und die Bluse nie falsch geknöpft. Während Lou irgendwann dazu übergegangen ist, Ottilie nur noch im T-Shirt zu besuchen, hat Safeta, Ottilies bosnische Pflegerin, kurzerhand ihren Schwager angeschleppt, der sich mit Heizungen und Sensorsystemen auskennt. Seitdem liegt die Temperatur im Zimmer Nr. 113 des Pflegeheims Andersen Nexö verlässlich zwischen 17 und 20 Grad, wenn das Fenster geschlossen ist. Oder, wenn es wie jetzt weit geöffnet ist und der Geruch der auf dem Boden vor dem Gebäude verrottenden Blätter nach oben dringt, bei sieben Grad Celsius. Die Mütze war kein Fehler. »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai …« Leise knackend dreht sich die Schallplatte auf dem Plattenspieler. Der Plattenspieler war Ottilies erster Staatsakt, gleich in der Woche nach ihrem Einzug hat sie den Hausmeister beauftragt, den vom Heim gestellten Fernseher abzuholen, und hat sich von Lou ihren Plattenspieler aus der Laube bringen lassen. Und das verfilzte Lammfell, das zwischen der Sessellehne und ihrem Rücken klemmt. Als Anatol klein war und Ottilie noch im Schneidersitz sitzen konnte, haben sie auf diesem Lammfell vor dem Sofa gekauert und sich kringelig gelacht, wie dämlich Kater Tom mit absoluter Berechenbarkeit immer wieder auf die Tricks von Maus Jerry reinfällt. Nur der beheizbare Fußsack, in dem Ottilies Füße nicht stecken, weil sie auf dem Heizkörper liegen, der nicht heizt, weil Safetas Schwager sich mit Sensorsystemen auskennt, der ist neu. Den gab es in der Laube noch nicht. Lou setzt den Rucksack mit den Heliumflaschen, den Luftballons und den Partytellern ab. Was auch immer Ottilie mit der albernen Kindergeburtstagsimitation bezweckt, sie hat keine Lust auf Kindergeburtstag im Pflegeheim. Und überhaupt steigt die Wut in ihr auf. Ottilies Füße gehören in Wanderstiefel, nicht in einen beheizbaren Fußsack. »Doch endlich kommt auch mal die Zeit, auf die sich der Landser schon freut, denn beim Spieß da liegt schon sein unterschrieb'ner Urlaubsschein, dann ruht er bei Hanne zu Haus im Federbett gründlich sich aus.« Eine fleckige Hand kommt hinter der Sessellehne hervor und dreht Lale Andersen den Ton ab. »Und wann ruht die Hanne sich mal aus? Wann ruht die sich mal gründlich aus von ihrem Leben zwischen Trümmern, Bombenangriffen und Durchhalteparolen, mit der einquartierten schwangeren Schwägerin, ihren zwei kleinen Kindern und der hysterischen Mutter, die alle versorgt sein wollen?« Ottilies Gesicht schiebt sich hinter der Sessellehne hervor. Mit den hohen Wangenknochen über den eingefallenen Wangen wirkt sie wie eine lebendig gewordene Barlachskulptur. Ihre Augen wandern an Lous Körper auf und ab. »Wollmütze, hmm?« Ihre Finger, die sie längst wieder bewegen kann, schließen sich um ein henkelloses Kaffeeschälchen. Wie eine Kostbarkeit hält sie den winzigen Becher in ihren Händen. Lou mag den Geruch und die langstielige Kanne, von der sie weiß, dass sie Džezva heißt, und auch wenn Ottilie, als sie mit dem Kaffeetrinken angefangen hat, schon längst in einem Land gelebt hat, in dem der Kaffee aus elektrischen Kaffeemaschinen mit Warmhalteplatten und schwenkbarem Filteraufsatz kommt, legt sich ein fast kindlicher Ausdruck über ihr Gesicht, als Safeta ihr nachschenkt. Bosanska Kava, gebraut aus Kaffeepulver, das eine leicht verklumpte, viel staubigere Konsistenz hat als deutscher Kaffee, zusammen mit einem Brocken bosnischem Würfelzucker in der langstieligen Kanne versenkt und mit kaltem Wasser aufgefüllt, dreimal muss er aufwallen. Eigentlich natürlich auf dem Gasherd in der Laube, hier muss eben eine Campingkochplatte den Job übernehmen. Selbstverständlich ist eine elektrische Kochplatte in einem Pflegeheimzimmer nicht vorgesehen. Aber nach der Manipulation des Heizungssensors fällt die Kochplatte auch nicht mehr ins Gewicht. Auf den acht Quadratmetern, die Ottilies Reich im Leipziger Pflegeheim Andersen Nexö ausmachen, gelten die Regeln der Überlebenden. Die Regeln einer Dreiundachtzigjährigen mit Barlachgesicht, die nach einer Kindheit in Bosnien jedes Mal den Aufenthaltsort gewechselt hat, wenn die Deutschen wieder durch ihr Leben getrampelt sind, und ihrer dreiundfünfzigjährigen Pflegerin, deren Ausbildung am Musikkonservatorium in Belgrad 1991 ihre bosnische Herkunft beendet hat und die nach dem Krieg nie dorthin zurückgekehrt ist. Safeta ist auch so eine, die den Kopf in die Höhe reckt, um nicht unter Wasser zu geraten. Sie hat Ottilie eine CD mit traditionellen bosnischen Sevdalinkas gebrannt und manchmal singt sie mit, während sie das Bett aufschüttelt oder ihr die Haare macht. Auch Safeta kennt den bosnischen Kaffee aus ihrer Kindheit. Auch Safeta hat nach Jahren ohne den dreimal in der Džezva aufgewallten Kaffee längst ein Schraubdeckelglas mit löslichem Kaffee neben Ottilies im Kleiderschrank verstecktem Wasserkocher stehen, Lou weiß das, weil sie sich manchmal auch daraus bedient, wenn sie Ottilie besucht. Zwanzig Jahre ist es her, dass sie angefangen hat, Ottilies Rasen im Schrebergarten zu mähen, genauso lange streicht sie sich die geköpften Grashalme von den Waden, denn natürlich hat Ottilie einen Spindelrasenmäher mit rotierender Klinge und ohne Grasfangsack. Zwanzig Jahre lang hat sie jeden Juni die riesige Holzleiter an den Walnussbaum gewuchtet und, den Kopf in den Nacken gelegt, Ottilie Sprosse für Sprosse tiefer im Geäst verschwinden sehen. Zwanzig Jahre lang hat sie den Atem angehalten, wenn Ottilie waghalsig weit ins Geäst gebeugt die Zweige zu sich gebogen hat, um die unreifen Walnüsse abzupflücken, solange die grüne Schale sich noch mit einer Stricknadel durchbohren lässt. Zwanzig Jahre, in denen kein Juni vergangen ist, in dem Ottilie nicht tagelang gelbe Finger gehabt hätte, von der Gerbsäure, die beim Durchbohren der Nüsse aus der Schale tritt. Nur dieses Jahr, dieses Jahr hat Ottilie nicht mit gelben Fingern in ihrer Hollywoodschaukel gesessen. Hat keine Stricknadel durch unreife Walnüsse gebohrt. Diesen Sommer hat die Physiotherapeutin mit Ottilie geübt, die Finger um eine Kaffeetasse zu schließen, sich das Nachthemd über den Kopf zu ziehen und die Schritte zwischen Bett, Fensterbrett und Waschbecken aus eigener Kraft zu bewältigen. Quittenraki haben sie natürlich trotzdem getrunken. Nur eben nicht mehr in der Hollywoodschaukel unter dem Walnussbaum. Sondern auf der Terrasse des ehedem größten Feierabendheims der DDR. Mit Blick auf die Außenvoliere mit Sittichen, Meerschweinchen und Kaninchen. Die erfreuen die Bewohnerinnen mit ihrem Treiben. Letzte Woche hat eine der Bewohnerinnen auf Ottilies Flur sich den Tropfzugang aus dem Arm und die Kleider vom Leib gerissen und ist schreiend nackt durch den Flur gerannt, vorbei an der staubsaugenden Reinigungskraft, vorbei an der Servicekraft mit dem Teewagen. Safeta, die gerade um die Ecke gekommen ist, hat geistesgegenwärtig die Tischdecke von einem der niedrigen Beistelltische gerissen und der alten Dame um die nackten Schultern gelegt. Hat sie in den Arm genommen und sie zurück in ihr Zimmer geführt, über die auf dem Boden verstreuten Lesezirkelzeitschriften hinweg, vorbei an der ungerührt staubsaugenden Reinigungskraft, vorbei am...