E-Book, Deutsch, 320 Seiten, E-Book Epub
Koschmieder Schweinesystem
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8412-0818-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten, E-Book Epub
ISBN: 978-3-8412-0818-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alles hat einen Haken...
1979. Sie verbindet ein Lippenstift, eine heimliche Abtreibung und ein gemeinsamer Kampf: Ihre Unabhängigkeit. Zwei Jahre später ist Shirley tot und Elisabeth untergetaucht. Dabei hatte es ganz harmlos begonnen: Eine filmreife Affäre in der deutschen Provinz, ein verheißungsvoller Neuanfang in Iowa, ein paar unbedeutende Notlügen. Eigentlich unvorstellbar, dass sie zum Spielball der Geheimdienste werden könnten. Eigentlich.
'Ein Roman, der auf bezwingende Art zeigt, wie viel Liebe und Tapferkeit es braucht, dem konspirativen Gemurmel unserer Vergangenheiten zu lauschen.' Georg Klein.
'Temporeich und bös-komisch führt der Roman den Leser in den Geist der frühen 80er, in eine Zeit, in der das Wort Post noch nicht überwiegend mit -Moderne oder -Feminismus zusammengedacht wurde, sondern mit Brief und Porto. Christine Koschmieder montiert eine einzigartige Welt, in der Alles nach Befreiung zu gieren scheint, sogar das Popcorn.' Inger Maria Mahlke.
Christine Koschmieder, geboren 1972, lebt und arbeitet in Leipzig. Betreibt seit 2003 die Literaturagentur Partner + Propaganda für zeitgenössische Literatur aus Deutschland, Post-Jugoslawien und dem US-amerikanischen Hinterland. Sie hat nie im Schlachtbetrieb, als Terroristin oder Mary-Kay-Beraterin gearbeitet, fährt aber immer wieder nach Iowa. 2013 war sie Stipendiatin der Kulturstiftung des Freistaats Sachsen. Schweinesystem ist ihr Debüt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Die Waffen der Frotteerevolutionärin kommen per Luftpost
Waldhilsbach, 18.Januar 1980
Der Feind. Sie schlüpft in ihren Frotteebademantel, es ist helllichter Tag, da kann sie schlecht nackt zum Briefkasten gehen, der Feind kann in so vielerlei Gestalt vor einen treten. Heute zum Bespiel wird er die Gestalt ihres Schwiegervaters annehmen, dem sie in zwei Stunden lächelnd und im braven Schwiegertochterkostüm Kaffee in ihrem Rosenthal-Service servieren wird. Für den Staat hat der Feind eine andere Gestalt. Weil diese sich so häufig von den auf Fahndungsplakaten abgebildeten Terroristinnen unterscheidet, durchsucht der Staat bei Sicherheitskontrollen auf dem Flughafen vorsichtshalber auch mal die Hygieneartikel verdächtiger deutscher Studienrätinnen. »Nichts wird in den Achtziger Jahren so sein wie in den Siebzigern – nichts«, hat Helmut Schmidt zum Jahreswechsel angekündigt. Hoffentlich gilt das auch für den Fahndungsterror. Hagens Freunde mögen es als Auszeichnung verstehen, aber sie hätte gut darauf verzichten können, Gegenstand einer ›Maßnahme der Beobachtenden Fahndung‹ zu werden und zwei schmallippigen Bundesgrenzschutzbeamtinnen dabei zuzugucken, wie sie mit spitzen Fingern ihre Damenbinden aus dem Karton zupfen und auf Vordrucken vermerken.
»Verdankste garantiert deiner blödsinnigen Gruppentherapiesitzung«, hat Hagen sie angeblafft, hätte ihr doch klar sein müssen, dass der Verfassungsschutz das Sozialistische Patientenkollektiv so schnell nicht aus den Augen lassen würde. Befa-Zielperson wird jeder, der nicht unmittelbar Objekt eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens ist, aber anderweitig Anlass für »Vorkehrungen zur Gefahrenabwehr« bietet. Jemand wie sie, eine Studienrätin im Frotteemantel mit zu kleinen Brüsten und streichholzkurzen Haaren. Vor dem Foto für die Befa-Terrorkartei hat sie am Flughafen nochmal den Lippenstift nachgezogen und in die Kamera gelächelt. Wenigstens eine lächelnde Terroristin soll es geben.
Partisanen, kommt nehmt mich mit euch, o bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao … »Oh bitte. Elisabeth. Überlass doch bitte die revolutionären Gesänge denen, die sich darum verdient gemacht haben. Zieh dich lieber an, in anderthalb Stunden stehen Mutti und Vati vor der Tür. Außerdem versuche ich gerade, die Soli-Erklärung für Volker aufzusetzen.« Wie sie seinen Politjargon hasst. Wer nicht weiß, dass Soli für Solidarität steht, gibt sich sofort als Nicht-Mitglied im Club der Revolutionäre zu erkennen. Dabei hat Hagen ja selber nur die silberne Mitgliedskarte. Volker, der hat Gold. Hagen wäre so gerne Volker. Aber Hagen ist nicht Volker, sondern Studienrat (nächstes Jahr wahrscheinlich sogar Oberstudienrat), Sozialdemokrat und seit Jahren im Ortschaftsrat. Hagen ist einer von denen, die Verständnis dafür haben, dass die RAF sich radikalisieren musste (»Nicht für die RAF. Für den Radikalisierungsprozess. Das ist ein himmelweiter Unterschied.«). 1968 wäre er beinahe selber auf die Straße gegangen. Hagen hat für fast alles Verständnis, nur nicht für die seinen. Nicht für sie. Seine Frau. Im Gegenteil, sie ist ihm peinlich. Besonders an Tagen wie heute, wo sie noch um elf im Bademantel rumläuft und Revolutionslieder singt. Jetzt haben sie Volker verhaftet. Dabei ist der nur Sympathisant, aber was heißt das schon, unter den Nazis waren ja alle nur Sympathisanten und durften sich nach ’45 damit den Arsch retten, aber heute, da ist es strafbar, Sympathisant zu sein. Dafür übt jeder, der für sein Sympathisantentum zahlen muss, auf Hagen diese magische Anziehungskraft aus, seine Augen fangen an zu glitzern und seine Stimme glitzert auch, und wenn er zum Schlussakkord ansetzt, springt er vom Stuhl auf, weil man es sich nicht bequem machen darf im falschen Leben. Nein, bequem ist es kein bisschen in diesem falschen Leben. Elisabeth nimmt den Briefkastenschlüssel vom Schlüsselbrett und schlüpft in die Gummistiefel. Obschon kein revolutionärer Weg, so will sie den Weg zum Briefkasten trotzdem nicht barfüßig antreten. Volker hat seiner Frau Jo einen Zettel dagelassen, hat ihn zwischen die Seiten seiner Free-Clinic-Dokumentation gelegt, und, damit auch ja kein Zweifel bleibt, welches Motiv ihn treibt, etliche Stellen fett mit Bleistift markiert.
Volker scheint die Widersprüche nicht mehr ausgehalten zu haben, morgens beim Leberwurstbrotschmieren die RAF-Meldungen im Radio und dann in die Praxis dackeln und die Kaputten reparieren. So lässt sich zumindest die zweite markierte Stelle lesen.
Volker hat Apfelschnitze für Karo, seine fünfjährige Tochter, gemacht, sie vor die Augsburger Puppenkiste gesetzt und dabei im Flur ein Bettlaken mit Parolen vollgepinselt, hat Jo Hagen am Telefon erzählt. Er hat Karo ins Bett gebracht, die Tür einen Spalt offen und das Flurlicht angelassen, damit sie sich nicht fürchtet. Seiner Frau hat er einen Zettel zwischen die Buchseiten gelegt:
Jo, bitte denk’ an die 50 Pfennig Laternenbastelgeld für Karo. Nudelauflauf im Ofen. In diesem Sinne: Right on!
Right on, klar, Männer dürfen sich gnadenlos aus dem Fundus revolutionärer Phrasen bedienen, aber sie nicht, sie darf hier bitte schweigend in Gummistiefeln an ihren Balkonkästen und Cotoneasterrabatten vorbei die Treppe runterstapfen und für den Mann, der 1968 beinahe auf die Straße gegangen wäre und jetzt mit seiner Chef-Schürze in der Küche steht, irische Folksongs pfeift und panierte Parasolscheiben auf Salatblättern arrangiert, die Vorwärts aus dem Briefkasten holen.
Volker hat sich in die Straßenbahn gesetzt, ist an der Endhaltestelle ausgestiegen, die letzten 300Meter querfeldein gelaufen und übers Geländer geklettert. Da haben sie schon auf ihn gewartet. Jetzt sitzt er in U-Haft, seine unscheinbare Frau ist über Nacht zur Staatsfeindin avanciert und Hagen feilt an seiner Solidaritätserklärung. Aber wenn hier jemand eine wirklich revolutionäre Haltung an den Tag legt, dann doch sie, Elisabeth-ohne-Brust, die Zugezogene, die Akademikerin, die den lokalen Dialekt nicht beherrscht und die Dorfordnung gefährdet, wenn sie morgens um elf im Frotteebademantel, unter dem sie kein Nachthemd trägt, zum Briefkasten wankt, eine Stunde bevor ihr Schwiegervater frisch rasiert seinen Altherrenduft verbreiten, seinen Blick über ihre Midcentury Modern Wohnlandschaft gleiten lassen und ihr einen Bund Moosröschen überreichen wird. Die sie natürlich nicht im Frotteebademantel entgegennehmen kann, also noch eine Dreiviertelstunde hat, um das Wanken einzustellen, den Frotteebademantel gegen die Zuchtperlenkette einzutauschen und mit Odol zu gurgeln.
Wenn ich sterbe, oh ihr Genossen, bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao – unwahrscheinlich, dass Hagen das bis in die Küche hört. Ihr Pathos vorwerfen, aber selber nach der dritten Flasche Wein mit den Genossen die Internationale grölen und ab der dritten Zeile nur noch lalala wissen. Völker, hört die Signale, fällt ihr dazu nur ein, wütend stößt sie den Briefkastenschlüssel ins Schloss. Das Gewicht der Post drückt ihr die Klappe entgegen, mit Schwung fliegt alles zu Boden. Sie geht in die Knie, um das dicke Zeitungsbündel, den rot-weiß geränderten Luftpostbrief und den Quellekatalog aufzusammeln, gerät ins Schwanken und landet auf dem Po. Selbst der dicke Frotteestoff kann die abfälligen Blicke nicht abfedern, die von gegenüber aus dem ersten Stock des Nachbarhauses auf sie zielen. Hat der fette alte Drachen wieder was gegen sie in der Hand, seit Jahren kandidiert ihr Mann erfolglos gegen Hagen im Ortschaftsrat. Jetzt kann sie hämisch im Dorf verbreiten, dass dessen magersüchtige Frau am helllichten Tag im Bademantel zwischen verstreuter Post auf dem Boden sitzt. Deswegen soll sie ja auch an einen Ort geschickt werden, wo sie den ganzen Tag im Frotteebademantel herumwanken darf. Die Kostenübernahmezusage von der Debeka hat sie schon, Erschöpfungszustände hat man ihr attestiert, sie wartet nur noch auf die Zusage der Kurklinik, hoffentlich irgendwo im Allgäu, in der Nähe der Berge.
In den Schatten der kleinen Blume, o bella ciao,...