E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Koschmieder Frühjahrskollektion
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98568-160-0
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-98568-160-0
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christine Koschmieder, wurde 1972 in Heidelberg geboren und lebt in Aken/Elbe. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Literaturagentin. Im Kanon Verlag erschienen 2022 ihr Roman »Dry« und zuletzt »Schambereich. Über Sex sprechen«. Christine Koschmieder wurde mit einem Auszug aus »Frühjahrskollektion« zum Bachmann-Preis 2024 eingeladen.
Autoren/Hrsg.
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AJNGEMAHTEC I
HARRY (SEPTEMBER 1963)
»Die hot a Švips!«
Harrys Oberkörper versteift sich unter ihrem Gewicht, er muss sich zusammenreißen, den schweren Körper an seiner Brust nicht von sich zu stoßen und aufzuspringen, die weichen Arme, die sich mit unerwarteter Kraft in seinem Nacken festklammern, die geschliffenen bunten Glassteinchen ihrer Schmetterlingsbrosche, die sich durch sein Hemd drücken. Die schwitzende, schwere Frau, die wie ein Sandsack an seiner Brust hängt, hat mehr als nur einen Schwips. Sie riecht nach Calvados und Bénédictine-Likör, ihre Achselhöhlen sind viel zu dicht an seinem Gesicht, und die Gablonzer Modeschmuckbrosche an ihrem Diolenkleid wird ein Loch in sein Oberhemd reißen, wenn er nicht aufpasst. Er hat es kommen sehen und extra gewartet, bis sie sich alle an den reservierten Tischen in der Auberge niedergelassen hatten, und sich dann mit dem Rücken zu ihr an einen anderen Tisch gesetzt, für ihren Reiseleiter rücken sie gern ein bisschen auseinander. Völlig nutzloses Manöver bei einer von diesem Format. Zumal er es ja hat kommen sehen. Es ist immer eine dabei. Nur den Namen weiß man vorher nicht.
? Anderlitschka, Elisabeth
? Bergmann, Helga
? Borufka, Emmy
? Brentano, Edelgard
? Bravnitschek, Elisabeth
? Csokor, Lida
? Dittmann, Therese
? Eberle, Veronika
? Feidenhengst, Anna
? Gelinek, Heiderose
? Gertitschke, Ingeborg
? Hafenbradl, Gertrud
? Hajak, Elfriede
? Jarosch, Renate
? Johne, Irma
? Jurenka, Elli
? Kittel, Olga
? Kolepke, Hilda
? Loewe, Erika
? Meergans, Viola
? Musch, Charlotte
? Novak, Marie
? Ochsenhalter, Emma
? Petrik, Johanna
? Rindt, Maria
? Sackl-Walden, Clara
? Urban, Hedwig
? Wanka, Edith
? Zeleny, Martha
Sie steigen natürlich nicht alphabetisch ein, wenn sie morgens ab halb acht am Sammelpunkt in Kehl eintreffen und er beim Einstieg die Namen abgleicht, aber ein paar Anhaltspunkte bietet die Teilnehmerliste schon, Adressen und Geburtsjahrgänge, den Familienstand sowie das Verwandtschaftsverhältnis zu ihrem jeweiligen Toten. Anderlitschka, Borufka, Bravnitschek, Csokor, Feidenhengst, Gelinek, Hafenbradl, Hajak, Jarosch, Kittel, Kolepke, Loewe, Novak, Ochsenhalter, Petrik, Wanka und Zeleny haben zusätzlich den Vermerk »Sudetendeutsche Landsmannschaft«, Johne, Meergans und Urban den Vermerk »Ostzone«, und Bergmann war auch um zwanzig nach acht noch nicht am Sammelpunkt, das muss er der Geschäftsstelle melden, es besteigen also nur 28 Frauen den Bus. Die meisten von ihnen sind mit der Bahn angereist, als Eltern, Ehegatten, Geschwister und Kinder der gefallenen deutschen Kriegsteilnehmer haben sie beim Besuch von Kriegsgräbern Anspruch auf Fahrpreisermäßigung. Und auf jeder Fahrt gibt es eine Emmy Borufka. Eine, die schon beim Einsteigen, wenn er ihre Namen abfragt, um sie auf seiner Liste abzuhaken, stehenbleibt, ihren Blick auf seinen Jackettaufschlag mit dem Namensschild senkt, um ihm dann vertraulich die Hand auf den Arm zu legen. »Ich bitte Sie, lieber Harry – ich darf doch Harry sagen? –, ab jetzt bitte nur noch Emmy, keinen Widerspruch«, und das sagt sie so laut und so nachdrücklich und bleibt dabei so demonstrativ im engen Gang vor ihm stehen, dass auch die hinter ihr einsteigenden Frauen mitkriegen müssen, dass Harry sie jetzt nicht mehr mit Frau Borufka ansprechen kann, ohne dass sie es als Zurückweisung auffassen muss. Er lächelt sie an und bittet sie, durchzutreten und sich einen Platz auszusuchen.
Er hat es hauptsächlich mit Frauen zu tun, anfangs Witwen und Mütter, seit ein paar Jahren melden sich auch immer mehr Töchter an, die die Gräber ihrer Brüder und Väter besuchen wollen. Seit 1956 arbeitet er als Reisebetreuer für die Volksbund-Geschäftsstelle in Kassel. Er beantwortet ihre Anfragen und teilt ihnen mit, wenn die Suchkartei einen Treffer ergeben hat. Er tippt die Zwischenaufenthalte in die Anmeldungsformulare (Andilly ab Kehl über Strasbourg – Zabern – Saarburg – Toul – Nancy – Andilly – zurück über den Donon – Schirmeck), korrespondiert mit Reisebüros und Busunternehmen, stempelt Quartiervermittlungsscheine, bearbeitet Anträge auf Fahrpreisermäßigung sowie Sonderwünsche und Grabschmuckaufträge. Manchmal muss er sich Beschwerden über die zugeteilten Zimmer anhören, fast immer über die dünnen, am Fußende unter der Matratze festgestopften Laken, er hat sich daran gewöhnt, aber für viele, die erstmals an einer Kriegsgräberfahrt nach Frankreich teilnehmen, sind die französischen Betten eine Zumutung, als wollten die Franzosen die Deutschen noch im Schlaf demütigen, und das Croissant, das sie dann morgens in der Pension statt eines ordentlichen Frühstücks zum Kaffee gereicht kriegen, macht es natürlich nicht viel besser. Auch über die französischen Autobahnraststätten und ihre Toiletten mit den im Boden eingelassenen Löchern darf er sich oft Beschwerden anhören. Aber spätestens nach dem Besuch der Gräberstätten geht es dann um die Ehre und das Ansehen der Toten. Sind ja immer auch 131er dabei oder Witwen von 131ern. Und mindestens eine Emmy Borufka ist auch bei jeder Fahrt dabei, Gräberschatten nennen sie solche Kaliber in der Zentrale unter der Hand.
Am Anreisetag sind sie meistens praktisch gekleidet, aber wenn sie am zweiten Tag den Bus vor dem Hotel zum zweiten Friedhofsbesuch besteigen, haben sie sich oft feingemacht, dann riecht der ganze Bus nach Haarspray und Kölnisch Wasser, und er sieht Perlenketten und Hirschkopfbroschen an ihren Blusen und Pullovern und Jackenkragen, viel Trachtenfilz und Loden, die meisten haben vernünftiges Schuhwerk gewählt, die Wege auf dem Friedhof sind nicht gepflastert, und die Grabkreuze stehen in endlosen Reihen auf der Wiese, es gibt keine Wege, sie müssen über den unebenen Boden laufen. Emmy Borufka trägt keine Lodenjacke. Emmy Borufka trägt ein senfgelbes Etuikleid aus Diolen mit passendem Jäckchen, am Revers eine auffällige Brosche in Schmetterlingsform.
»Nein, ist das etwa Gablonzer Bijouterie?« Gertrud Hafenbradl, stellt sich heraus, kommt nicht nur aus Gablonz, dem einstigen Mittelpunkt der nordböhmischen Schmuckwarenindustrie, sondern gehörte auch zum Heer der jungen Frauen, die an langen Tischen in einer der 4.000 Gablonzer Bijouterie-Manufakturen mit einer Pinzette winzige geschliffene Facettensteine auf kleinen Ziervögeln befestigt haben. Neben dem beliebten Christbaumschmuck war die Schmetterlingsbrosche an Emmy Borufkas Revers einer der Gablonzer Verkaufsschlager, aber auch die mit Glassteinchen beklebten Ziervögel, von denen sie erzählt, kennt Harry. Nach der Vertreibung ist Gertrud Hafenbradl dem Unternehmen nach Neugablonz hinterhergezogen, aber es war dann nicht mehr dasselbe, und außerdem wollte ihr Mann nicht, dass sie weiter arbeitet. Zärtlich betrachtet sie die leuchtend violetten und strahlendgelben Steine, und auch in Harry rufen die polierten Glassteine eine warme Erinnerung wach, die dunkelviolette Oberfläche erinnert ihn an die Fruchtdrops mit Johannisbeergeschmack im Handschuhfach von Lilos VW-Käfer, die Vorstellung lenkt ihn lange genug ab, um den Anschluss zu verpassen, sodass er nicht weiß, wie Emmy Borufka das Gespräch so schnell von einem nordböhmischen Schmetterling in die Vereinigten Staaten von Amerika verlagert hat.
»Stellt euch das mal vor, der Marlboro-Mann mit einem Cowboyhut aus Neutitschein. Hat dann aber doch nicht geklappt.« Emmy Borufka kommt aus dem Kuhländchen und hat vor dem Krieg in Neutitschein für Hückel’s Söhne im Staffiersaal gearbeitet, als Neutitschein noch zu Deutschmähren gehört hat und die Hutindustrie von Neutitschein weltberühmt war. »Bis nach Übersee haben wir geliefert, und unterm Kaiser waren wir sogar k.u.k. Hof-Hutfabrikant.« Unterm Kaiser hat sie natürlich noch nicht im Staffiersaal gearbeitet, aber der Staffiersaal, erklärt sie den anderen Frauen, die nicht so vertraut mit der Hutmacherei sind, ist der Ort, an dem die Garnitur an die Hüte kommt, also Futter, Leder, Einfass- und Bindband. Auch in Belgrad hat man die Haarfilzhüte vom ehemaligen k.u.k. Hof-Hutbarikanten Hückel’s Söhne aus Neutitschein im gehobenen Sortiment der Herrenkonfektion geführt, aber das behält Harry für sich, er wird sich hüten, Emmy Borufka weitere Angriffsfläche zu bieten. »Nach dem Kriege musste der Herr Hückel ja weg aus Neutitschein, ist mit seinen Söhnen ausgewandert und hat versucht, in Kanada die Familientradition fortzusetzen, dort haben die ja auch mit Pelztierfellen gearbeitet, sogar mit der Firma Stetson hat er...