Korn Die Weltreise einer Fleeceweste
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26268-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine kleine Geschichte über die große Globalisierung
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-446-26268-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie lässt sich die Globalisierung erklären? Zum Beispiel anhand einer Fleeceweste. Von den Erdölfeldern am Persischen Golf über die Textilfabriken in Bangladesch und ein Warenhaus in Deutschland bis zu einem Flüchtlingsschiff vor den Kanarischen Inseln – Wolfgang Korn erzählt die spannende Geschichte einer Fleeceweste und macht Hintergründe und Zusammenhänge der Globalisierung anschaulich.
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KAPITEL 2
Ölreichtum in Dubai oder:
Kann man mit Geld eigentlich alles kaufen?
In der Nacht vom 10./11. August 2005. Das Erdöl tritt zutage, aus dem einmal meine Fleeceweste wird. Doch wo befinden wir uns? Auf dem Meer, aber in Sichtweite der Küste. Und obwohl Nacht ist, weht eine warme Brise über dem Wasser. Und um uns herum erheben sich Lichtertürme wie Riesenweihnachtsbäume aus dem Meer. Das sind Förderinseln, auf denen 24 Stunden am Tag Erdöl gefördert wird. Auch die ganze nahe gelegene Küste ist erleuchtet. Damit scheiden die Erdölfelder an Land (wie in Sibirien) und im Norden (vor Norwegen beispielsweise) aus, ebenso die afrikanischen Ölfelder wie die vor dem Sudan oder südamerikanische wie die vor Venezuela — es bleibt eigentlich nur der Nahe Osten. Denn hier leuchten nicht einzelne Lichter, es strahlt wie auf einem Mega-Jahrmarkt — selbst in 10.000 Metern Höhe verrenken sich die Passagiere nächtlicher Flugzeuge die Hälse, um hinunterschauen zu können. Die meisten von ihnen erkennen in den Lichterketten direkt vor der Küstenlinie eine riesige, von einem Kreis umschlossene Palme. Diese Palme ist unverwechselbar: Wir befinden uns am Persischen Golf, vor dem Scheichtum Dubai. Es gehört zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, die durch ihre riesigen Erdölvorkommen innerhalb der letzten zwanzig bis dreißig Jahre nicht nur reich, sondern superreich geworden sind. Diese Beleuchtung ist keine Festtagsbeleuchtung, sondern Alltag. Wer so gewaltige Erdgas- und Erdölvorkommen hat, kümmert sich nicht um seine Stromrechnung. 20. August 2003, früher Morgen. Ein Bohrer sticht auf einer Ölplattform in Dubai den unterirdischen Erdölvorrat an. Das Erdöl schießt sogleich durch die Bohrleitung in die Höhe. Nach 150 Millionen Jahren in den hermetisch abgeschlossenen Gesteinsschichten ist ein Erdölgemisch entstanden, das vor sich hin gärt, dabei eine Menge Gas freisetzt und deshalb mächtig unter Druck steht. Früher bildeten sich dann große Erdölfontänen, die häufig sogar Feuer fingen. Heute wird das Öl gleich aufgefangen und abgeleitet. Tag für Tag … Doch wie ist dieses Erdölgemisch eigentlich entstanden? Dazu müssen wir 200 bis 900 Millionen Jahre zurückgehen. Zu dieser Zeit gab es nur ein riesiges Meer, den Urozean, und alle heute existierenden Kontinente bildeten noch eine einzige zusammenhängende Landmasse. Um diese Landmasse herum gab es riesige Gebiete, an denen das Meer ziemlich flach war — wie bei uns heute das Wattenmeer. Und gerade in diesen Gebieten tummelten sich die ersten Lebewesen. Das waren vor allem Rot- und Grünalgen, aber auch schon kleine Tiere: quallenartige Wesen, Ringelwürmer, erste Korallenarten und Stachelhäuter — die Vorläufer von Seeigeln und Seesternen. Da der Erdmantel noch nicht so fest war wie heute, sondern sich immer noch hin und her und auf und ab bewegte, wurden immer wieder größere Meeresbecken vom offenen Meer abgetrennt. In diesen Becken lebten große Mengen an Lebewesen, und als sie starben, wurden sie nicht ins offene Meer abgetrieben, sondern sanken zu Boden. Es waren so große Mengen, dass sie weder gefressen noch von Bakterien zersetzt wurden. Ohne Sauerstoff konnten sie allerdings auch nicht verwesen — es entstand eine Art moorige Masse. Im Laufe der Jahrmillionen lagerten sich über dieser moorigen Masse nicht nur Sand und Schlamm ab, auch ganze Erdschollen schoben sich darüber. Dort, wo undurchlässige Schichten diese von allen Seiten einschlossen, bildeten sich unter Hitze und großem Druck Hunderte von Kohlenwasserstoffverbindungen. Druck und Hitze und dazu wahrscheinlich einige Bakterien waren dann auch an der weiteren Zersetzung beteiligt, bis das Erdöl entstanden war. Letztlich ist die Entstehung des Erdöls immer noch ein Geheimnis. Wie dieser Prozess genau funktioniert, ist bis heute nicht erforscht. Am Ende steht jedenfalls ein kleines Wunder: ein Stoff, der fast nur aus Energie und anderen kostbaren Bestandteilen besteht. Wenn die Natur nicht vor Millionen Jahren riesige Mengen an Erdöl, Erdgas und Kohle hätte entstehen lassen, würde die Menschheit wahrscheinlich noch immer mit Pferdekutschen übers Land und mit Segelschiffen über die Gewässer reisen — die Globalisierung, wie wir sie heute kennen, hätte es nicht gegeben. Allerdings sind diese Rohstoffe auf der Erde sehr ungleich verteilt. Einige Länder haben gar keine oder nur wenige abbekommen, einige schwimmen regelrecht darin, wie beispielsweise die meisten arabischen Länder mit ihrem riesigen Erdölvorkommen. * Zurück in die frühen Morgenstunden des 11. August 2005. Das Erdöl tritt zutage, und in der Nähe der Förderplattform liegen einige Tanker vor Anker, darunter die 187 Meter lange Madras. Das Erdöl wird nicht gleich in den Tanker gepumpt, sondern wandert über eine Pipeline am Meeresgrund in ein Zwischenlager an Land. Denn was da aus der Tiefe hochkommt, ist zunächst einmal ein Gemisch aus Öl, Gas, Salzwasser und anderen Verunreinigungen. Es ist noch nicht für den Transport geeignet, da es noch zu viel wertlosen Ballast enthält. Deshalb wird dieses Gemisch zunächst in einen Behälter mit Unterdruck geleitet. Dabei entweicht das Erdgas und wird gleich weitergeleitet. Mit diesem Gas betreiben die Menschen in Dubai unter anderem ihre riesigen Elektrizitätswerke. In einem weiteren Tank sinkt das schwerere Salzwasser nach unten und kann abgepumpt werden. Durch Erhitzen, elektrische Spannung und die Zugabe von Chemikalien versucht man anschließend, das restliche Wasser und andere Beimengungen zu entfernen. Erst dann haben wir das eigentliche »Rohöl«, das sich in Tankschiffen oder per Pipeline problemlos transportieren lässt. Die meisten Tankschiffe ankern draußen vor der Küste, weil sie auf Aufträge warten — manche schon mehrere Wochen. Die Madras muss sich nur 72 Stunden gedulden. In den etwas kühleren Morgen- und Abendstunden steht Kapitän van der Valt stundenlang auf der Brücke und sucht mit seinem Fernglas die Küste ab. Jedes Mal wenn er Dubai ansteuert, hat er den Eindruck, nicht in den Nahen Osten, sondern auf die Raumstation aus irgendeinem Science-Fiction-Film geschickt worden zu sein. Die obersten Etagen mehrerer Wolkenkratzer leuchten blau und wirken wie unheimliche Köpfe. Andere sehen aus wie Andockstationen für Raketen: Diese Türme aus wandlosen Arbeitsdecks sind hell ausgeleuchtet und von Kränen umgeben. Doch Kapitän van der Valt weiß: Die »Raumschiff-Andockstationen« sind in Wirklichkeit die gut ausgeleuchteten Rohbauten und Gerüste künftiger Wolkenkratzer. 14. August 2005. Bei Sonnenaufgang kommt für die Madras endlich die Erlaubnis, den Ölanleger des Jebel Ali Port anzusteuern. Der neue Hafen von Dubai, der vor allem für Containerschiffe angelegt wurde, ist der größte Warenumschlagplatz des Nahen Ostens. Wegen des großen Tiefgangs der Tanker befindet sich der Ölanleger draußen vor dem Hafen. Gegen acht Uhr in der Frühe macht das Tankschiff endlich an der Auffüllstation fest. Dort hängen an drei Kränen riesige Schläuche, die auf das Deck herabgelassen und an das Rohrsystem des Schiffes angeschlossen werden. Schon bald wird das Rohöl in das Schiff gepumpt. Doch bis so ein Tanker von fast 200 Metern Länge abgefüllt ist, vergehen noch viele Stunden. Zur gleichen Zeit haben der Inder Sadek und seine Kollegen in ihrer armseligen Unterkunft am Stadtrand gerade ihr Frühstück beendet. Sie gehören zu den Gastarbeitern, die mehr als drei Viertel der Bevölkerung von Dubai ausmachen und die fast die ganze Arbeit hier erledigen: Sie arbeiten auf den Bohrinseln und Baustellen, sie kochen und kellnern in den Restaurants und bei reichen Dubaitis. Sie pflegen die Gärten, reinigen die Straßen und fahren die Taxen. Diese Gastarbeiter verdienen rund 150 bis 250 Euro im Monat — das meiste Geld davon schicken sie ihren Familien, die häufig nur von diesen Einnahmen leben müssen. Viel besser — mehr als den doppelten Lohn wie in ihrem Heimatland — verdienen die Gastarbeiter aus dem Westen: Bauleiter von Wolkenkratzern, Tierärzte auf Kamelzucht-Farmen oder Ingenieure auf Bohrinseln. Sadek dagegen arbeitet als Handlanger beim Be- und Entladen der kleinen Handelsboote am alten Hafen. Mit dem Fahrrad fährt er zum nahe gelegenen Creek. Der Creek ist ein langer Meeresarm, der fast zehn Kilometer weit in die Wüste hineinreicht. Er dient seit Jahrhunderten als natürlicher Hafen. Und seit Jahrhunderten liegen hier die Dhaus verankert, die traditionellen Holzboote der Golfaraber. Noch vor vierzig Jahren lag hinter dem Creek nur eine...