Kordsaia-Samadaschwili | Sinka Mensch | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Kordsaia-Samadaschwili Sinka Mensch


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-627-02285-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-627-02285-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es war einmal eine Stadt, deren Bewohner schworen, sie sei die schönste der Welt und in ihr wu?rden Dinge passieren, von denen andere Städte nur träumen könnten. Genau in dieser Stadt, am ehemaligen Revolutionärsplatz Nummer eins, wohnt der verkru?ppelte, in einem Kinderheim aufgewachsene Musiker Aleksi Adamiani, dessen Nachname schlicht 'Mensch' bedeutet. Auch wenn das Schicksal ihm ein sehr schweres Leben beschieden hatte, lächelte es ihm auch zu und schenkte ihm das treue Akkordeon 'Raviata', seine zwei engsten Freunde Kotiko und Data, die heimlich in ihn verliebte Tamriko und ein vermeintliches Enkelkind: Sinka Adamiani - Sinka Mensch. Verschrobene, warmherzige, eigentu?mliche und vom Leben gezeichnete Charaktere - es ist ihre bittersu?ße Geschichte, die Anna Kordsaia-Samadaschwili in ihrem neuen Roman erzählt. Sie alle nehmen ihr zumeist sehr hartes Schicksal an, und viele von ihnen werden an ihm scheitern, aber nicht, ohne ihm zuvor ihren Anteil am Glu?ck abzutrotzen und die hellen Momente des Lebens zu feiern. In den wundersamen, auf den ersten Blick unglaublichen Begebenheiten, die Kordsaia-Samadaschwili zu einem Märchen verwebt, sind Erdachtes und Wahres untrennbar miteinander verknu?pft. In ihnen spiegeln sich die Geschichten der Stadt Tbilissi in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, das alltägliche Leben genauso wie die großen Tragödien, glu?ckliche Fu?gungen und schwarze Tage, alles, was das Menschsein ausmacht. 'Anna Kordsaia schu?ttelt Anekdoten aus den Ärmeln ihrer weit geschnittenen Kleidung wie nichts. Tbilissi ist der Stoff, aus dem ihre Bu?cher gemacht sind. Dabei schreibt sie nicht nostalgisch, sondern schnell und pointiert, nah dran an den Menschen. Das flirrende Milieu ihrer Texte ist die Bohème, deren Liebling Tbilissi seit u?ber hundert Jahren ist.' (JUDITH LEISTER, NZZ)

Anna Kordsaia-Samadaschwili, geboren 1968, zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen georgischen Autorinnen. Sie lebt und arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Kulturjournalistin in Tbilissi und erhielt zahlreiche georgische Literaturpreise. Als Übersetzerin aus dem Deutschen ins Georgische, z. B. Ingeborg Bachmann, Rainald Goetz, Erich Maria Remarque, Bertolt Brecht u. a., wurde sie fu?r ihre Übersetzung von Elfriede Jelineks Liebhaberinnen vom Goethe-Institut Tbilissi ausgezeichnet. Anna Kordsaia-Samadaschwili lehrt an der Ilia State University in Tbilissi Literatur und Kreatives Schreiben. Zuletzt auf Deutsch erschienen ihre Romane 'Kinder von Schuschanik' (2018) und 'Wer hat die Tschaika getötet?' (2016).
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Am Ufer des Schwarzen Meeres

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Fortschrittliche Menschen lesen mit großem Stolz und großen Hoffnungen die Worte des Genossen N. S. Chruschtschow: Kommunismus bedeutet eine umfassende körperliche und geistige Entwicklung des Menschen.

Mitten in der Sonne, auf einem Stuhl, saß ein Mann, ein Junge hockte bei ihm, drei, vier Jahre alt, und hörte ihm aufmerksam zu.

»Zeig mir deine Hand«, sagte der Mann. »Nun sag mir mal, falls du das weißt: Wie viele Finger hast du an dieser Hand?«

»Fünf«, antwortete der Junge.

»Richtig«, bestätigte der Mann. »Und an der anderen?«

Das Kind streckte ihm die andere Hand hin:

»Da auch fünf.«

»Oh, so ein kluger Junge«, sagte der Mann. »Und nun, weißt du denn auch, wie viele Finger du an beiden Händen hast? Also zusammen. Nun?«

»Zehn!«, sagte der Junge stolz.

»Aha!« Der Mann konnte seine Begeisterung nicht verbergen. »Du bist ein sehr kluger Junge! Und weißt du denn auch, wenn wir deine und meine Hände zusammenzählen, wie viele Finger da insgesamt rauskommen?«

»Zwaaan-zig!«

»Das stimmt nicht!«, rief der Mann und stand auf. »Zähl mal nach!« Er streckte dem Jungen die Hände entgegen. An der Rechten hatte er nur noch zwei Finger – Daumen und Zeigefinger.

Das Kind staunte. Der Mann lachte.

»Genau. Nicht jeder hat fünf Finger. Und ich verrate dir noch was: Gleich kommt ein Mann, der hat sogar nur ein Bein.«

»Kann er laufen?«, flüsterte der Junge.

»Na klar!«, versicherte ihm der Mann. »Und wie!«

Das Kind rief »Oh!« und versuchte wegzulaufen, rannte aber direkt in Aleksi, der Zeuge des Gesprächs geworden war. Aleksi versuchte, den Jungen aufzuhalten, der aber schaute verängstigt auf dessen Beine, war, obwohl er deren zwei sah, trotzdem nicht erfreut, sondern rief noch mal »Oh!« und nahm Reißaus.

»Hat der sich erschreckt«, sagte der Zweifingrige bedauernd und streckte Aleksi die Hand entgegen: »Kotiko. Hallo.«

Dann kam der andere, Data, und Data hatte wirklich nur ein Bein, lief wirklich fix und benutzte seine Krücke ziemlich geschickt. Data und Kotiko hatten im selben Haus wie Aleksi ein Zimmer gemietet. Data und Kotiko waren Georgier, aus Georgien.

Warst du schon mal in Georgien? Nein, nie. Ich weiß, sehr schön ist es dort. Ich? Keine Ahnung woher … aus der Sowjetunion. Ich wurde eingeladen. Dann komm doch mit nach Georgien. Laden wir dich eben ein. Es ist doch nicht weit von hier. Im Prinzip ist Sotschi auch Georgien. Und dann folgte eine lange Geschichte darüber, wie groß Georgien einst gewesen war und so weiter und so fort …

Sie saßen im Hof, am Feigenbaum, tranken Kwass und plänkelten herum. Es war ein herrlicher Tag, heiß, klarer Himmel, kalter Kwass, die pummelige, lächelnde Haushälterin, die unverhohlen kokettierte, die Aussicht auf Arbeit und zwei Wochen in der wunderschönen Kurstadt Sotschi.

Es heißt, in der Stadt Sotschi seien die Nächte dunkel.

Aleksi gefielen diese Typen, Kotiko und Data. Nur konnte er die Männer, die wie aus heiterem Himmel aufgetaucht waren, auf Anhieb recht schwer auseinanderhalten – nicht wegen ihres Aussehens, denn sie glichen einander überhaupt nicht, sondern wegen ihrer Geschichten. Sie erzählten Geschichten, die der eine begann und der andere beendete, sie nahmen sich gegenseitig das Wort aus dem Mund, neckten einander und kamen einem vor wie ein einziger Mensch, nur in Form von zweien.

Sie sind im Krieg gewesen, klar. Data hatte nicht viel auf die Reihe bekommen, gleich im ersten Kampf war er verwundet worden. Hatte ein Bein verloren. In Kertsch. Hat man so was je gehört? Aber so war’s. Ja, Data hat Glück gehabt. Nur, dass du’s weißt, er ist in Finnland gewesen und der Erste, der den Finnen je Mandarinen zu essen gegeben hat, war Data. Die waren aus dem Häuschen, die Finnen. Haha, das stimmt natürlich nicht, als ob Data jemals in Finnland gewesen wäre, wir erzählen das nur so, weil’s lustiger klingt. Nun, die Geschichte von Kertsch erzählen wir ja lieber nicht … Er hatte Mandarinen dabei, aus Natanebi, das ist so ein Dorf in Gurien, und von dort hat er sie im Rucksack herumgeschleppt, und als er dann in Kriegsgefangenschaft geriet, ließ er die finnischen Soldaten davon probieren. Die Leute waren aus dem Häuschen! Wegen dieser Mandarinen wuchs er den Finnen so ans Herz, dass sie ihn herausschmuggelten, durch den dichten Wald. Und in dem finnischen Wald, wo es Fichten gab, so weit das Auge reichte, und brusttiefen Schnee, geriet Data in eine Bärenfalle! Da staunst du, was? Was sollte er machen, er konnte ja nicht dortbleiben, in Karelien oder Finnland, im Wald und in eisiger Kälte. Er hat seinen Dolch rausgezogen und sich das Bein abgeschnitten. Haha, das fragen uns alle, wo gibt’s denn so viele Mandarinen, und wir antworten, dass Natanebi Mandarinen hervorbringt, in Natanebi gedeihen nur Mandarinen und die bei ihren Schwiegermüttern eingenisteten Schwiegersöhne. Hahaha! Und? Und Data ist bis zum Krieg nie in Natanebi gewesen, Natanebi ist das Dorf seiner Frau, außerdem das Heimatdorf ihrer Mutter, der Krieg war schon lange vorbei und dann erst hat er sie kennengelernt, und dann hat die arme Frau diesen Invaliden hier geheiratet.

Warum arm?, fragte Aleksi irritiert, und Data antwortete, Ach, lern mich nur kennen und dann weißt du, was ich meine. Die Arme, sagte Kotiko, zwei Kinder hat sie bekommen und dabei jedes Mal gebetet, lieber Gott, mach, dass meine Kinder nicht nach dem Vater geraten, gib ihnen zwei Beine. Hahaha! Ein bisschen dumm ist sie schon, ja, aber eine sehr gute Frau, du wirst schon sehen, zum Verlieben ist sie.

Sie sprachen so mit ihm, als wäre Sotschi wirklich Georgien und als wären sie abends zu Datas Schwiegermutter nach Natanebi eingeladen worden. Aleksi fand das super und war über sich selbst erstaunt, als er die Männer sogar zum Tanz einlud. Am Abend. Am Strand. Was sagt ihr dazu? Tja, Data, du kannst zwar nicht tanzen, aber warum nicht? Ich lade euch doch nicht zum Tanzen ein. Tanzen kann ich doch selber nicht. Ich spiele. Auf dem Akkordeon.

Schau mal einer an! Kotiko war auch Musiker gewesen, er hatte Violine gespielt, bevor ihm die Finger abgefroren waren. Nein, doch nicht im Krieg, bis Warschau war es für ihn ein Spaziergang gewesen, und er kam sogar kraftstrotzend wieder, hatte zwar ein bisschen Grips eingebüßt in diesem Warschau … Na ja, nun gut, nicht nur ein bisschen, aber immerhin hatte er da noch alle Finger gehabt. Kotiko hatte Glück, ja. Nur eins sollst du wissen, während ich in Finnland war, ist Kotiko in der Mandschurei gewesen, wo er sich den Partisanen anschloss. Es gab da einen mongolischen Jungen, auch so ein Partisan, klein und hübsch, ein mutiger Kämpfer dazu, und dieser Junge vertraute Kotiko an, er sei weder ein Mongole noch ein Junge, sondern ein usbekisches Mädchen. Wie kam es denn dazu, fragst du dich jetzt sicher. Hahaha! Der Feind hat meine Eltern umgebracht, ich wurde Waise, es ist keiner mehr da, der mich liebt, klein und bedauernswert wie ich bin, sagte das Mädchen. Und damit das usbekische Mädchen nicht verhungerte und um außerdem der Liebsten Heldentaten zu zeigen – natürlich hatte er sich verliebt –, schnitt sich Kotiko jeden Tag einen Finger ab und überschritt im Rücken des Feindes die Grenze, tauschte ihn bei den Menschenfresser-Interventionisten gegen Reis ein. Das stimmt natürlich nicht, als ob Kotiko jemals in der Mandschurei gewesen wäre, wir erzählen es nur so, dass er seine Frau kennengelernt hat, als er Partisan war. Nein, sie ist keine Usbekin, sondern aus Tschughureti, und eine Waise ist sie auch nicht, sogar noch heute hat sie eine Mutter und Tanten – das wünscht man nicht mal dem ärgsten Feind! Sie sieht nur aus wie eine Usbekin. Erinnerst du dich an das Bild »Ein usbekisches Mädchen geht zur Schule«? So eine ist das, außerdem genauso tüchtig und streng. Klar, freilich kennt sie die Geschichte, wir erzählen sie immer in ihrem Beisein, und jedes Mal, wenn sie sie hört, tobt sie vor Wut, hahaha …

Am Abend, auf dem Tanzplatz, kreuzten wirklich Kotiko und Data auf, in den gleichen weißen Hemden und den gleichen grauen Hosen, wie Kotiko für den ganzen Platz vernehmbar verkündete, gaben siebzehn Finger und drei Beine Aleksi die Ehre. Aleksi gefiel’s und er winkte den Männern zu, dann legte er los:

»Meine Damen und Herren! Mädchen und Jungs! Ich bin Aleksi Mensch. Dieses Akkordeon heißt Raviata. Heute spielen die Raviata und ich erstmals in Sotschi, von dem es heißt, hier gäbe es die dunkelsten Nächte.«

… Am Ufer des Schwarzen Meeres …

Data setzte sich auf die weiße Balustrade, lehnte die Krücke daneben, und schon nach wenigen Minuten hockte sich das erste Mädchen, dann ein zweites neben ihn, und schon nach wenigen Minuten war ein lebendiges Gespräch im Gange. Er erzählt ihnen von Finnland, dachte Aleksi und lachte in sich hinein. Kotiko war nicht mehr zu sehen, und auch darüber musste Aleksi lachen.

… Am Ufer des Schwarzen Meeres …

Es war eine heiße Nacht, sternenklar und glücklich. Der Tanzplatz war von Lichterketten beleuchtet, ein fahles Licht, aber dennoch schön, feierlich. Aleksi freute sich, worüber, darüber dachte er nicht nach, er fühlte sich pudelwohl. Zwei Wochen in...


Anna Kordsaia-Samadaschwili, geboren 1968, zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen georgischen Autorinnen. Sie lebt und arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Kulturjournalistin in Tbilissi und erhielt zahlreiche georgische Literaturpreise. Als Übersetzerin aus dem Deutschen ins Georgische, z. B. Ingeborg Bachmann, Rainald Goetz, Erich Maria Remarque, Bertolt Brecht u. a., wurde sie fu¨r ihre Übersetzung von Elfriede Jelineks Liebhaberinnen vom Goethe-Institut Tbilissi ausgezeichnet. Anna Kordsaia-Samadaschwili lehrt an der Ilia State University in Tbilissi Literatur und Kreatives Schreiben. Zuletzt auf Deutsch erschienen ihre Romane "Kinder von Schuschanik" (2018) und "Wer hat die Tschaika getötet?" (2016).



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