Erlebensorientierte Altenpflege mit Hilfe der Mäeutik
E-Book, Deutsch, 234 Seiten
ISBN: 978-3-456-75135-1
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zielgruppe
Altenpflegende
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1 Pflegetalent als gesellschaftlicher Wert 1.1 Auf der Suche nach dem Schatz Das Pflegetalent gleicht einem Schatz, der in der Erde verborgen liegt. Wer nicht weiß, dass es diesen Schatz gibt, der wird auch nicht nach ihm suchen. Genau wie in dem Film ‹Romancing the Stone› (Deutsch: Auf der Jagd nach dem grünen Diamanten). Darin suchen Michael Douglas und Kathleen Turner gemeinsam einen verborgenen Schatz, der nur unter größten Anstrengungen gefunden werden kann. Michael Douglas zieht Kathleen Turner auf ihren hohen Absätzen durch den Urwald, auf dem Weg zu einem Schatz, von dem sie nicht einmal mit Sicherheit wissen, ob es ihn tatsächlich gibt – eine wunderbare Story. Oder die Romane über die Goldfunde im Kalifornien des Jahres 1848. Die Leute zogen einfach so in die Berge, und da lag das Gold; man brauchte nur danach zu greifen. Wer würde sich da nicht auf den Weg machen? Und genauso liegt in unserem Gesundheitswesen ein Schatz verborgen, den man – wenn man erst einmal darauf aufmerksam geworden ist und in seinen Bann gezogen wurde – suchen muss. Und dieser Schatz ist die Zuwendung, mit der Pflegende tagein, tagaus für Menschen sorgen, die der Betreuung bedürfen. Ohne diese Zuwendung wäre unsere Gesellschaft ein ganzes Stück kälter, ärmer und kränker. Der Inhalt dieses Kapitels Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell steht in der Perspektive der Veränderungen, die im niederländischen und deutschsprachigen Gesundheitswesen vor sich gehen. Zwei Argumente hört man besonders häufig in den politischen Diskussionen, die diesen Veränderungen zugrunde liegen: die Notwendigkeit der Kosteneinsparung und der Wunsch nach einer «kundenorientierten» Betreuung. Dabei wird das Talent zum Pflegen und Betreuen als eine den Frauen angeborene Eigenschaft betrachtet. Und so wird Betreuung zu einer «natürlichen Ressource», die – genau wie die Sonne, der Wind und die See – immer zur Verfügung steht. Doch für Alte und chronisch Kranke, die in Abhängigkeit von der Zuwendung, dem Einsatz und dem Interesse anderer leben, sind Pflegende lebenswichtig. Betreuung ist kein «Produkt», das «geliefert» wird. Und Begriffen wie Effizienz und Ertrag stellen Altenpflegende Werte wie Fürsorge und Mitmenschlichkeit entgegen. 1.2 Thema und Reichweite Was erleben Pflegende1, was wollen sie erreichen und mit welchen Engpässen werden sie konfrontiert? Unter welchen Bedingungen können Pflegende Betreuung mit der von ihnen angestrebten Qualität realisieren? Was erwarten die Menschen, die von der Pflege abhängig sind, und was erwarten deren Angehörige? Wann werden sie ihrer Meinung nach gut betreut? Der Darlegung in diesem Buch liegt teilweise die Beschreibung des mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodells in meiner Doktorarbeit «Gewoon Lief Zijn?» zugrunde. Doch während dort die Begriffe vor allem in ihrer theoretischen Dimension beleuchtet werden, finden Sie im vorliegenden Buch eine eher praktische Beschreibung, sowie entsprechende Beispiele aus Abschlussarbeiten von Pflegenden, aus Artikeln, die in Fachzeitschriften erschienen sind, und anderer Fachlektüre. Einige Situationsbeschreibungen stammen von meinen Kolleginnen oder von mir selbst. Vielleicht fragt sich mancher von Ihnen, was an den hier beschriebenen Einsichten neu ist. Wir, meine Kolleginnen, Dozentinnen und ich, maßen uns nicht an, auf einmal – quasi wie ein Blitz aus heiterem Himmel – eine Lösung bieten zu wollen, die alles bisher Dagewesene entkräftet. Vielmehr wurden bereits vorhandene Entwicklungen und Intentionen in ein zusammenhängendes Ganzes integriert. Neu ist, dass das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell auf der Zuwendung basiert, die Pflegende den Bewohnern und Klienten2 entgegenbringen, und dass es von positiven Kontaktmomenten und kreativen Fundstücken Gebrauch macht. Die niederländische Fachzeitschrift «Tijdschrift voor Verzorgenden» ist voll davon, und somit ist das hier beschriebene Pflegemodell eigentlich eine Bestätigung aktueller Entwicklungen. Zugleich jedoch wurde es als ‹situationsverändernde Theorie› formuliert, wobei die praktische Umsetzbarkeit vornangestellt wird3. Es bietet konkrete Hilfsmittel, mit denen genau jene Veränderungen durchgeführt werden können, die vielen vorschweben: Pflegenden, Heimleitern und Mitarbeitern der Verwaltung. Es bleibt allein die Frage, ob auch die Menschen, die von Betreuung abhängig sind, die in diesem Buch dargelegten Auffassungen über Betreuung unterschreiben könnten. 1.3 Betreuung und Sinngebung Menschen, die bleibende Verluste verarbeiten müssen, die für immer einen Teil ihrer selbst verloren haben, brauchen Unterstützung auf der Suche nach einer neuen Perspektive, einer neuen Sinngebung. Individualität, Wahlfreiheit und Gegenseitigkeit verlieren nicht an Bedeutung, wenn Menschen von Betreuung abhängig sind. Jeder sucht auch weiterhin nach dem Sinn seines Lebens, egal, wie wenig er noch kann und wie viel Betreuung er auch benötigen mag. Chronisch Kranke berichten, wie entsetzlich sie es finden, der «Gnade anderer» ausgeliefert zu sein. Sie wollen anderen auch als Mensch etwas bedeuten. Doch je stärker sie in ihren Möglichkeiten eingeschränkt werden, desto schwieriger wird dies. Sie können niemanden besuchen, Bekannte und Freunde verschwinden aus ihrem Leben. Und sie lernen nicht viele neue Menschen kennen, die diese Lücken füllen könnten. Doch immerhin gibt es da die Pflegenden, die jeden Tag wiederkommen, jeden Tag aufs Neue die basalen Dinge tun, die so tief in die Privatsphäre eingreifen und zugleich so unverzichtbar sind. Und es sind die Pflegenden, die wissen, wie man das hilflose Gefühl der Abhängigkeit neutralisiert, indem man individuelle Gewohnheiten und Wünsche berücksichtigt. Pflegende bedeuten den Menschen, die von ihrer Betreuung abhängig sind, sehr viel. Ihre ‹Klienten› oder ‹Bewohner› erwarten sie bereits, erzählen ihnen ihre Sorgen, ihre Freuden, ihren Kummer. Und auch die Pflegenden berichten aus ihrem Leben, erzählen von den Kindern, vom Urlaub, vom neuen Haus. Die Bewohner nehmen Anteil, und leben durch eben diesen Kontakt selbst wieder ein wenig auf4. Natürlich ist es auch wichtig, dass Pflegende pünktlich kommen, flexibel sind und mit der Zeitplanung ‹schieben› können. Wenn der Umgang miteinander jedoch auf aufrichtigem Interesse am jeweiligen Gegenüber basiert, können sowohl von Seiten der Pflegenden Zugeständnisse gemacht werden als auch von Seiten des Klienten… solange nur alles in gemeinsamer Abstimmung und Harmonie geschieht. Selbstverständlich müssen Pflegende ihr Fach beherrschen, sich mit Krankheitsbildern und den Nebenwirkungen von Medikamenten auskennen, sie müssen Wunden behandeln und Stomas versorgen können. Doch gerade bei solchen Verrichtungen entsteht eine Vertrautheit, die für beide Seiten wertvoll ist. Für den Klienten oder Bewohner ist die Pflegende eine Person, die sich täglich oder jedenfalls regelmäßig intensiv um ihn kümmert. Er erwartet von ihr Interesse und Zuwendung. Auch wenn die Pflegende noch zehn weitere Bewohner zu betreuen hat: Wenn sie bei einem Bewohner oder Klienten ist, wird von ihr erwartet, dass sie ganz für diese eine Person da ist. Und so entstehen Pflegebeziehungen zwischen den Mitarbeitern und den zu betreuenden Personen. Diese Pflegebeziehungen waren lange Zeit mit einem Tabu behaftet. Sie galten als nicht professionell. Aus meinen eigenen Erfahrungen habe ich ein anderes Bild gewonnen. Zwar sind Pflegebeziehungen keinesfalls mit Privatbeziehungen gleichzusetzen, dennoch geht es um Menschen, die einander aufrichtig zugetan sind. Pflegende haben mir erzählt, dass sie gerade diesen Aspekt als das Wichtigste bei ihrer Arbeit empfinden. Und somit wäre es also geradezu unprofessionell, die Pflegebeziehungen zu ignorieren oder gar zu untersagen. Professionell dagegen wäre es, hier zu einem Gedankenaustausch zusammenzufinden und jeder für sich nach Wegen zu suchen. Tatsächlich verkörpert die Pflegende die Mutter, die Nachbarin, die Tochter, die Cousine… kurzum: die menschliche Fürsorglichkeit an sich. Selbstverständlich wird sie für ihre Arbeit bezahlt, doch was ihr im Beruf die meiste Erfüllung gibt, das ist der Kontakt mit den Menschen, die sie versorgt. Sie will etwas für Menschen tun – darum hat sie auch diesen Beruf gewählt. Das mag idealistisch klingen, doch es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen, die genau dies bestätigen. Es ist also eine Annahme, die sich wissenschaftlich erhärten lässt. Ob die Pflegenden ihre Absichten auch in die Tat umsetzen können, das ist eine andere Frage. Wie Zahlen belegen, ist die Zahl derer, die den Beruf frühzeitig verlassen groß. Weniger ausführlich wurde untersucht, was die Bewohner von den Pflegenden erwarten, und noch weniger die Art, wie Bewohner und Klienten sich schützend vor die Pflegenden stellen: «Die Mädchen haben so viel zu tun, sie laufen immer so schnell, sind immer am arbeiten, strengen sich wirklich an…». Darum ist es an der Zeit, dies auch auf...