Konst | Der Wintergarten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 380 Seiten

Konst Der Wintergarten

Eine deutsche Familie im langen 20. Jahrhundert

E-Book, Deutsch, 380 Seiten

ISBN: 978-3-95890-270-1
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fast hundert Jahre alt wird Hilde Grunewald. 1902 im sächsischen Meißen geboren, wächst sie unter Kaiser Wilhelm II. auf. Sie heiratet in der Weimarer Republik, ihre Kinder kommen in der Zeit des Nationalsozialismus zur Welt. Hilde erlebt den Aufstieg, aber auch den Zusammenbruch der DDR - und schließlich die friedliche Revolution von 1989, durch die sie Bürgerin der Bundesrepublik wird. Ihr Leben ist von Umbrüchen gezeichnet. Sie überlebt zwei Weltkriege und hat mit den Folgen wirtschaftlicher Krisen zu kämpfen. Aus eigener Erfahrung weiß sie, wie es in höheren Kreisen zugeht - aber auch, was es bedeutet, auf finanzielle Unterstützung angewiesen zu sein. Die russische Besatzung prägt ihr Leben ebenso wie der Kalte Krieg, der Bau der Berliner Mauer und die Wende. Mit historischer Präzision und erzählerischem Geschick blickt Literaturwissenschaftler Jan Konst in 'Der Wintergarten' auf das bewegte Leben seiner Schwiegerfamilie. Hildes Geschichte, aber auch die ihrer Eltern, Kinder und Enkel gerät dabei für den Leser zu einer faszinierenden Zeitreise durch das lange 20. Jahrhundert vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Eine einzigartige Familienchronik über vier Generationen und hundertfünfzig Jahre deutscher Geschichte.

Jan Konst ist Literaturwissenschaftler und Niederlandist. Seit 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Niederländische Philologie (Literaturwissenschaft) an der Freien Universität Berlin. Seine Publikationen widmen sich der frühmodernen Literatur, den niederländisch-deutschen Literaturbeziehungen und der Gegenwartsliteratur in den Niederlanden und in Flandern. In seinem gefeierten Buch 'Der Wintergarten' beleuchtet Jan Konst die Geschichte seiner Schwiegerfamilie aus einer reflektierenden und zugleich von Empathie geprägten Position.
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KAPITEL 2
Vielleicht ist es sogar eine Afrana-Nähmaschine
17. Januar 1903 – In Peking wird ein Denkmal für den ermordeten Diplomaten Clemens von Ketteler eingeweiht. 27. März 1907 – In Berlin öffnet das riesige KaDeWe, das Kaufhaus des Westens, seine Pforten. 12. Januar 1912 – Die SPD wird mit 35 Prozent bei den Reichstagswahlen stärkste Fraktion. 28. Juni 1914 – Franz Ferdinand von Österreich wird in Sarajevo von Gavrilo Princip ermordet. 27. September 1917 – Der Unternehmer Alwin Bauer erwirbt für 1,9 Millionen Mark Schloss Weesenstein. Am 5. Mai des Jahres 1900 ist es so weit: Emil Grunewald heiratet Hedwig Paul. Sie wird 1872 als Tochter des Fabrikantenehepaars Ernst und Johanna Paul geboren (Abb. 3). Emil kennt das Mädchen schon seit der Grundschule, aber er scheut sich lange, ihr seine Liebe zu gestehen. Das liegt sicher auch am Standesunterschied. Emils Vater, der kleine Gemüsegärtner, steht für den Bauernstand. Als Besitzer einer Firma, die sich auf die Fabrikation von Stoffen verlegt hat, ist Hedwigs Vater jedoch ein Angehöriger des Bürgertums. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erkennt auch Familie Paul die Möglichkeiten, die ihr die industrielle Revolution bietet. Hedwigs Großvater investiert in moderne Webstühle und kauft eine Dampfmaschine. Es entsteht eine kleine Fabrik, in der fünfzehn Menschen Arbeit finden. Die Familie kann sich einen gewissen Wohlstand erlauben und bewohnt ein Haus an einem ruhigen Plätzchen am Ortsrand von Seifhennersdorf. Emil weiß nicht, ob er Hedwig denselben Lebensstandard wird bieten können. Doch nachdem er sein Abschlusszeugnis vom Lehrerseminar Löbau schon einige Zeit in der Tasche hat, fasst er sich ein Herz. Er ist überrascht, dass Hedwig seine Zuneigung gleich erwidert. Sie werden ein Paar und beginnen Pläne für eine gemeinsame Zukunft zu schmieden. Bevor diese Zukunft aber mit einer Hochzeit besiegelt wird, vergehen noch gut acht Jahre. Für ein Leben als Familienvater muss Emil auf eigenen Beinen stehen. Deshalb ist es kein Zufall, dass er gleich nach dem Ende seines ersten Schuljahrs in Meißen heiratet. Die feste Stelle am Franziskaneum sichert ihm nicht nur beruflichen Erfolg und Sozialprestige, sondern legt auch die materielle Basis für eine eigene Familie. Emil feiert Hochzeit, als er schon fast dreißig ist. Das mag spät erscheinen, war allerdings in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Weil Männer erst einen Hausstand gründen, nachdem sie eine gewisse finanzielle Sicherheit erreicht haben, sind sie in der Regel dreißig Jahre oder gar noch älter. Emil ist ein Selfmademan: Seine Stellung hat er sich selbst und seinen eigenen Anstrengungen zu verdanken. Damit unterscheidet er sich von Männern im vorindustriellen Deutschland. Als Fabrik und Eisenbahn das Leben noch nicht im Griff hatten, beruhte eine Ehe oft auf einem Erbe (dem Familienbauernhof oder der väterlichen Firma). Die Generation 1870 hatte dagegen Möglichkeiten, auf eigenen Füßen zu stehen und finanziell unabhängig zu werden. Das Wissen, dass er sich seine Stellung erkämpft hat, erklärt das Selbstbewusstsein, mit dem Emil durchs Leben geht. Der Junglehrer weiß, was er kann. Das will gelernt sein
Schon als junges Mädchen hat Hedwig die etwas breiten Backenknochen, die sie ihren zwei Töchtern vererben wird. Manchmal meine ich sie noch im Gesicht meiner Schwiegermutter, ihrer einzigen Enkeltochter Brigitte, zu erkennen. Hedwig trägt nie die Tracht ihrer Heimatregion, der Oberlausitz, weil das nicht mehr zu ihrem sozialen Status zu passen scheint. Mit ungefähr fünfzehn Jahren kleidet sie sich schon wie eine Frau mittleren Alters. Ihr Lieblingsschmuck ist eine Goldkette mit einem großen Kreuz (Abb. 4). Hedwig ist religiös und bleibt ihr Leben lang Mitglied der evangelisch-lutherischen Gemeinde, anfangs im Kirchspiel der Kreuzkirche in Seifhennersdorf, danach der Johanneskirche in Meißen. Hedwig wird als typisches Mädchen aus besseren Kreisen erzogen. Die höheren Töchter wachsen wohlbehütet auf, bekommen aber nur wenig Unterricht. Hedwig geht auf die achtjährige Grundschule, die auch Emil besucht hat. Danach ist Schluss mit dem Schulbesuch. Sie wird zu Hause auf ein Leben an der Seite eines Mannes vorbereitet und hilft ihrer Mutter, den großen Haushalt zu führen. Und das will gelernt sein: der Umgang mit den Lieferanten, die Führung des Hauspersonals und die Verwaltung der zur Verfügung stehenden Gelder. Die höheren Töchter – und Hedwigs familiärer Hintergrund ist im Vergleich zu dem anderer Mädchen aus gutem Hause noch relativ bescheiden – lernen keinen Beruf und müssen nicht im Familienunternehmen mitarbeiten. Für sie steht an erster Stelle, sich mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten wie Nähen und Sticken, Backen und Kochen vertraut zu machen. Leg deinen Kummer in ein Lächeln
Einen Eindruck von Hedwigs intellektuellem Horizont bietet ihr Freundschaftsbuch: ein schön gebundenes kleines Poesiealbum mit unlinierten Seiten und Goldschnitt. Zwischen den Seiten liegen getrocknete Blumen. Verwandte und Freunde schreiben ihr Verse hinein. Meist mit einer Lebenslehre. »Tugend und Unschuld«, gibt einer Hedwig mit auf den Lebensweg, »wappnen sich mit Anspruchslosigkeit und Umsicht«. Ein anderer: »Leg deinen Kummer in ein Lächeln und all dein Sehnen in ein Lied!«. Und ein Dritter rät, nie den Kopf hängen zu lassen: »Dein Glück kannst du dir selbst erschaffen, wenn du nur die Hände regst!« Die meisten Sprüche haben sich nicht die Personen ausgedacht, die sie in zierlichen Buchstaben kalligrafiert haben, sondern sie stammen aus Zitat- und Textsammlungen, die in gedruckter Form im Umlauf waren – typischer Ausdruck der Moral eines wohlhabenden Bürgertums, das seine Ideale in Reimen und Sprüchen verankert. In dem optimistischen Unterton schwingt der wirtschaftliche Erfolg der industriellen Revolution mit. Der zentrale Gedanke ist einfach: Wenn du dein Leben selbst in die Hand nimmst, kannst du was draus machen, also – sich regen, bringt Segen. Das erste Gedicht in Hedwigs Poesiealbum ist mit 1885 datiert (»Zur Erinnerung an Deinen Vater«). Das letzte Gedicht wird 1898 dem Papier anvertraut, das Album hatte also die Fabrikantentochter von ihrem zwölften bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr begleitet. Fast alle Texte sind in Seifhennersdorf geschrieben – mit Ausnahme von einem Dutzend Beiträgen, die in der ersten Hälfte des Jahres 1889 in Dresden dazukommen. In diesem Jahr lebt die siebzehnjährige Hedwig in der sächsischen Hauptstadt, weil sie lernen soll, wie man sich in städtischen Kreisen bewegt. Sie wohnt bei Verwandten und besucht die Salons und Soireen der Stadt. Hedwig fühlt sich unter all den eleganten Damen und wohlerzogenen Herren unwohl. Ob sie die Kunst der dahinplätschernden Konversation jemals hinreichend beherrschen wird? Nach sechs Monaten kommt die Tochter des fleißigen Textilfabrikanten wieder nach Hause zurück und beginnt, inzwischen heimisch im großstädtischen Leben, nun ihrerseits, Verwandte zu kritisieren, die sich ihrer Meinung nach allzu bäurisch benehmen. Ist das der Hund des Fotografen?
Zwischen Schulabschluss und späterer Heirat liegen nicht selten etwa zehn Jahre, sodass eine recht lange Zeit überbrückt werden muss. Mädchen wie Hedwig sind Teil informeller kleiner Gruppen von Bürgertöchtern, die alle in derselben Lage sind: Gleichaltrige in einer Übergangsphase, junge Frauen, die darauf warten, dass die eigentliche Lebensreise beginnt. Hierauf werden sie spielerisch vorbereitet. In einem Fotoatelier dürfen Hedwig und ihre Freundinnen zeigen, dass sie wissen, wie es bei einem Damenkränzchen zugeht. So ein Kaffeeklatsch ist ein beliebter Zeitvertreib für Frauen aus besseren Kreisen, der zusätzlich noch eine wichtige soziale Funktion hat. Es sind Treffen mit festen Ritualen und eigenen Verhaltensregeln. Das begreifen die Mädchen. Sie setzen sich um einen Tisch. Offenbar fordert der Fotograf eine von ihnen auf – hier Hedwigs jüngere Schwester Anna –, direkt in die Linse zu sehen, damit sich der künftige Betrachter in die Szene einbezogen fühlt. Sie schenkt Kaffee aus einer Porzellankanne ein und hält dabei vorsichtig den Deckel mit der linken Hand fest. Ein anderes Mädchen führt gleichzeitig ihre Tasse an die Lippen – und hält sie, wie es sich gehört, am Henkel. Aufmerksam blättern zwei weitere Mädchen, die wie alle anderen modische Puffärmel tragen, in einem Buch. Eine fünfte hat eine Handarbeit auf dem Schoß. Hedwig, im weit fallenden Kleid, scheint dem Familienhund (der vielleicht einfach dem Fotografen gehört und nur mitspielt) etwas zustecken zu wollen. Alles wirkt sehr diszipliniert, sehr wohlerzogen. Ein Damenkränzchen wie aus dem Bilderbuch. Stich für Stich
Die Aussteuer...


Jan Konst ist Literaturwissenschaftler und Niederlandist. Seit 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Niederländische Philologie (Literaturwissenschaft) an der Freien Universität Berlin. Seine Publikationen widmen sich der frühmodernen Literatur, den niederländisch-deutschen Literaturbeziehungen und der Gegenwartsliteratur in den Niederlanden und in Flandern. In seinem gefeierten Buch "Der Wintergarten" beleuchtet Jan Konst die Geschichte seiner Schwiegerfamilie aus einer reflektierenden und zugleich von Empathie geprägten Position.


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