E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Reihe: Atrium Zündstoff
Konieczny / Stoßberger Arbeit und das gute Leben
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-03792-235-4
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie wir Wohlstand neu erfinden
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Reihe: Atrium Zündstoff
ISBN: 978-3-03792-235-4
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Zukunft der Arbeit liegt in der Sorge füreinander
Arbeit ist das halbe Leben, sagt uns ein Sprichwort. Doch was trägt Arbeit eigentlich zu einem guten Leben bei? Und wo liegt der Schlüssel zu Glück und gesellschaftlichem Wohlstand? Esther Konieczny und Lena Stoßberger wollen im Angesicht von individueller Erschöpfung, gesellschaftlicher Spaltung und Klimakrise Arbeit radikal neu denken. Um echten Wohlstand zu erreichen, sollten wir die Fürsorge für Mensch, Gesellschaft und Planeten zum Ausgangspunkt unternehmerischer Tätigkeit machen. Wie dies möglich ist, zeigen die Autorinnen am Beispiel der sogenannten Caring Companies, die den Verführungen eines wachstumshungrigen Kapitalismus widerstehen – und neue Standards für Zeit- und Beziehungswohlstand setzen.
Autoren/Hrsg.
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1 Wie die Fürsorge verschwand
Der Philosoph Jean-Pierre Wils schreibt in seinem Essay über die Corona-Pandemie: »Das Virus mutierte zur eigenwilligen Aufklärungsinstanz: Covid-19 zeigte wie unter einer Lupe auf den instabilen Zustand unseres Zusammenlebens.« Aufklärerisch wirkte das Virus, weil es einem Begriff, der bis zu diesem Zeitpunkt vor allem in feministischen und pädagogischen Kreisen verhandelt wurde, eine steile Karriere ermöglichte: In Anbetracht von geschlossenen Schulen und Kindergärten, überlastetem Pflegepersonal, vereinsamten Menschen in Altenheimen und gelockdownten Eltern fiel das Scheinwerferlicht auf all die fürsorgenden, pflegenden und kümmernden Tätigkeiten, die wir als oder Fürsorgearbeit bezeichnen.
Das Fürsorgende und die damit verbundene Arbeit fristeten bis zum Ausbruch der Pandemie ein eher stilles, schattenhaftes Dasein in unserer umtriebigen Gegenwart. Erst der pandemische Stillstand, das Erleben von Vereinzelung, Einsamkeit und radikaler Verunsicherung lehrten uns den eigentlichen Wert von Fürsorge. Fürsorge ist dabei nicht nur eine , die man abarbeitet wie die Punkte einer To-do-Liste. Fürsorge ist Arbeit, Fürsorge braucht Zeit, ist Beziehung und als solche ein menschliches Grundbedürfnis. In seiner wie Form ist Fürsorge überlebenswichtig, allgegenwärtig und nicht auf Lebensphasen wie Kindheit oder Alter begrenzt. In unserem Verständnis ist Fürsorge auch weit mehr als fürsorgliche Tätigkeiten im familiären Kontext. Wir können sagen: Die Sorge füreinander ist das, was uns im Kern als Menschen ausmacht und uns im gesellschaftlichen Zusammenhang ein friedliches Miteinander erst ermöglicht. Einer anderen Person aus einer schwierigen Lage zu helfen, so wird die bedeutende US-amerikanische Kulturanthropologin Margaret Mead häufig zitiert, sei der eigentliche Beginn der Zivilisation.
Wenn die Pandemie den »instabilen Zustand unseres Zusammenlebens« so deutlich zeigte, wie Wils schreibt, dann wohl genau deshalb: weil sie wie keine andere Krise zuvor offenbarte, dass wir als gesellschaftlichen Wert aus dem Blick verloren haben.
Die Vernachlässigung von Fürsorge ist folgenreich für die Art, wie wir unser gesellschaftliches Miteinander gestalten, für unseren Begriff von Wohlstand und für unser Verständnis dessen, was wir als das »gute Leben« bezeichnen.
Wenn wir verstehen wollen, wie die Fürsorge aus unserem Wertekanon verschwand, müssen wir zurückblicken.
It’s for free! … oder doch nicht?
Der Entwertung von Fürsorge geht eine Geschichte der Trennung voraus, die mit der Industrialisierung ihren Anfang nahm: Mit der Entstehung von Städten und Fabriken im industriellen Zeitalter war die Idee der Lohnarbeit geboren, die die Menschen von Haus und Hof weglockte, um in den Fabriken die eigene Arbeitskraft gegen Geld einzutauschen. Die noch in der Agrargesellschaft so relevante wirtschaftliche Einheit »Haushalt« – eine Gemeinschaft, die sich auch unabhängig von Verwandtschaftsverhältnissen dem Ziel der gemeinsamen verschrieb – zerfiel in zwei Teile. Der Haushalt war geboren, dem von nun an der öffentliche Markt gegenüberstand.
Die Trennung war folgenreich, denn mit ihr wurde das System Wirtschaft aus der Idee einer fürsorgenden Gemeinschaft entlassen. Arbeit wurde von nun an zweigeteilt, in einen sogenannten Teil, der als Erwerbsarbeit in der Sphäre des Marktes stattfindet, und einen , der als sorgende Tätigkeiten im Privaten erfolgt.
Die kapitalistische Industriegesellschaft hat also eine Ordnung geschaffen, die uns bis heute glauben macht, dass nur in einer der beiden Sphären von Tätigkeiten, nämlich in der Sphäre des Marktes, durch Arbeit »Mehr-Wert« geschaffen werde und so »Wertschöpfung« entstehe.
Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich auch sprachlich wider: Wer heute von »Arbeit« spricht, meint in aller Regel arbeit. Zahlreiche andere Tätigkeiten, die dem (für-)sorgenden, privaten Bereich zugeordnet sind wie Haus- und Familienarbeit, aber auch Formen der Freiwilligenarbeit wie etwa politisches oder gemeinnütziges Engagement, tauchen in unserer Bedeutungswelt von Arbeit kaum auf. Der Wirtschaftstheoretiker Friedrich List spöttelte schon vor mehr als 170 Jahren über diese unterkomplexe Zweiteilung von Arbeit und die marktverliebte Überbetonung von Erwerbsarbeit, als er schrieb: »Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.«[6]
Was die Erzählung der Zweiteilung von Arbeit verschleiert: Jede marktseitige Wertschöpfung ist immer erst möglich, weil andere fürsorgende Arbeiten im Privaten erledigt werden. Auf diese vermeintlich kostenlose Ressource greifen Markt und Unternehmen immer wieder »maßlos und sorglos«[7] zurück. Der private Raum, den die Marktökonomie geschaffen hat, ist ein sozialer Raum, in dem Kinder aufwachsen und umsorgt werden, in dem Kranke genesen und Alte gepflegt werden, in dem Leistungsfähigkeit überhaupt erst hergestellt und erhalten wird. Und zugleich ist dieser Raum ein Krisenpuffer für die emotionalen, physischen wie psychischen Kollateralschäden, die der Markt erst erzeugt.
Jede Form von Care ist damit zwar eine unentbehrliche Ressource und Voraussetzung für den Markt – und so selbst ein produktiver Akt –, doch ihr Wert für die Geld- und Marktwirtschaft bleibt bis heute und trotz Corona weitestgehend unsichtbar: Weder in ökonomischen Modellen noch in Wirtschaftsrechnungen oder volkswirtschaftlichen Kennzahlen findet sie Niederschlag. Zwölf Milliarden Stunden unbezahlte Sorgearbeit werden laut der OXFAM-Studie »Im Schatten der Profite«[8] täglich weltweit in der privaten »Schattenwirtschaft« geleistet. Und sie werden größtenteils von Frauen und Mädchen geleistet. Denn mit der kapitalistischen Marktökonomie wurde Sorgearbeit nicht nur zur Ausbeutungsressource; mit ihrer Entwertung wurde zugleich eine Geschlechterhierarchie festgeschrieben: Die (sorgende) Frau wurde zur heimlichen Dienerklasse des (erwerbstätigen) Mannes, wie es John Kenneth Galbraith, einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, beschrieb. Er bezeichnete diese (Unter-)Ordnung sarkastisch als eine ökonomische Leistung ersten Ranges.[9]
Der faktischen Trennung von Haushalt und Wirtschaft folgte also ein normatives Über- und Unterordnungsverhältnis, das einerseits den »Wert« von Arbeit bestimmt und andererseits diese Wertzuschreibung mit einer geschlechtlichen Diskriminierung verknüpft. Die Vorstellung, dass Frauen für das Sorgen und Umsorgen von Menschen, für solche »Akte aus Liebe«, besser geeignet seien als Männer und dass diese Arbeit, eben weil sie »aus Liebe« erfolge, nicht wirtschaftlich bewertet werden solle, hält sich bis heute hartnäckig und kann von feministischen Bewegungen nur unter großer Anstrengung Stück für Stück abgetragen werden.
In der Lebensrealität von Frauen wiegt dieses Über- und Unterordnungsverhältnis, das wir auch als eine patriarchale Ordnung von Arbeit beschreiben können, bis heute schwer bis existenziell bedrohlich. Die unterschiedlichen Gender-Gaps bringen den Einfluss deutlich zum Ausdruck: Angefangen bei der nach wie vor bestehenden Lohnlücke von rund zwanzig Prozent zwischen den Geschlechtern über die Lebenseinkommenslücke, die Frauen mit der Geburt des ersten Kindes meilenweit hinter das Lebenseinkommen von Männern zurückwirft , bis hin zur Sorgearbeitslücke – Frauen bleiben in der patriarchalen Ordnung wirtschaftlich auf der Strecke. Auch das heutige Nebeneinander von Erwerbs- und Care-Arbeit hat den wenigsten Frauen eine Absicherung beschert, die mit den Standards von Männern vergleichbar ist. Die Geringschätzung von und Leistungen zeigt sich für viele Frauen im Rentenalter: In Deutschland erhalten sie durchschnittlich 46 Prozent weniger Rente als Männer, in der Schweiz 37 Prozent (2020)[10] und in Österreich beträgt die Lücke zwischen Männern und Frauen 42 Prozent (2019) – zulasten der Frauen, versteht sich.[11] Damit ist Deutschland im Vergleich zu allen anderen OECD-Ländern Spitzenreiter bei einer weiteren geschlechtsspezifischen Lücke, dem . Im Jahr 2021 ist laut Statistischem Bundesamt jede fünfte Frau im Rentenalter armutsgefährdet,[12] Tendenz steigend, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt.[13]
Die Gender-Gaps – oder besser: Gender-Gräben –, die sich hier auftun, verdeutlichen, dass die kapitalistische Marktökonomie nicht nur auf der menschlicher und sozialer Ressourcen fußt, sondern gleichzeitig die entstehenden Folgekosten dieser Ausbeutungsverhältnisse , also auslagert. Die Pfandflaschen sammelnde Rentnerin, die in Armut lebende alleinerziehende Mutter oder die geschiedene Ehefrau, die nach 25 Jahren Care-Arbeit...