Wie Menschen sich entfalten können. Top-Down war gestern
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-82682-5
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kohlhaas veranschaulicht sie zusätzlich durch ihre eigene Geschichte: von ihrem Professjubiläum auf einer Baustelle über den Umgang mit Altlasten, über Machtkämpfe und Schattenspiele hin zur Beteiligung aller in der Entscheidungsfindung. Sie weiß, was die entscheidenden »Gamechanger« auf diesem Weg sind und zeigt: Top-Down war gestern.
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BASICS
Nachdem der Start gelungen ist, steige ich in den eigentlichen Lernprozess ein. Wie geht Leitung? Was funktioniert – und was nicht? Und warum – oder auch warum nicht? In diesem Kapitel geht es um das elementare Know-how, ohne das Leitung nicht gelingen kann. Ich beschreibe fünf Basics, die für mich bis heute unverzichtbar geblieben sind. Am Anfang steht dabei die Frage, wie ich irreparablen Schaden verhindern kann. Deeskalation als Haltung
Kaum einige Monate im Amt, erlebe ich die folgende Situation. Es ist ein hoher Feiertag, noch recht früh am Vormittag. Gerade habe ich gefrühstückt und gehe in die Küche, um den Teig für die Pizza zu machen, die ich zum Mittagessen für alle backen will. Da geht das Telefon. Eine mir bekannte Schwester, die ebenfalls eine Gemeinschaft leitet, meldet sich. Sie fragt: „Hast du meine Mail gefunden?“ Ich verneine und erkläre, dass ich meinen Computer noch gar nicht hochgefahren habe. Später sehe ich, dass diese Mail weit nach Mitternacht geschrieben wurde. Mein Gegenüber bittet mich darum, eine Schwester jetzt sofort vorbeibringen zu dürfen, die eigentlich zu einem späteren Zeitpunkt eines unserer Gästezimmer für eine mehrwöchige Auszeit erhalten sollte. Mir liegt die erstaunte und auch leicht genervte Rückfrage auf den Lippen: „Jetzt?!“ – aber die hohe Emotionalität, die mir entgegenkommt, hindert mich daran, etwas zu sagen. Ich spüre, dass es besser ist, jetzt zu schweigen und sie einfach kommen zu lassen. So geschieht es auch. Noch vor der Messe, dem zentralen Gottesdienst des Tages, liefert die Priorin die Schwester bei uns ab, und es ist nicht zu übersehen, dass die Atmosphäre explosiv ist. Was ich in den kommenden Wochen und Monaten nach und nach erfahre, ist ein klassisches Drama der Eskalation. Was geschieht bei einer solchen Eskalation, wenn ein Konflikt aus dem Ruder läuft? Bei meinem Studium in Frankfurt hatte ich kurz zuvor das Glück, Prof. Dr. Friedrich Glasl persönlich zu erleben, dessen Konzept der Konflikteskalation längst zum Basiswissen im Bereich der Konfliktforschung und -bewältigung gehört. Die Eskalationsstufen nach Friedrich Glasl sind in vielen Varianten in der Literatur zu finden.[7] Dennoch sollen sie hier kurz noch einmal beschrieben werden. Es sind neun Stufen, verteilt auf drei Blöcke, die jeweils einen qualitativen Unterschied im Konfliktgeschehen markieren. Auf den ersten drei Stufen der Eskalation ist es noch möglich, aus eigener Kraft aus der Konfliktsituation wieder herauszukommen, und zwar so, dass beide Seiten das als Gewinn erleben (win-win). Am Anfang, auf Stufe 1, steht ein latenter Konflikt, der sich spürbar verhärtet. Spannung liegt in der Luft, zeigt sich in Körpersprache und Verhalten. Ärger und Genervtsein ist bei den Beteiligten spürbar und führt auch bereits zu ersten unbeherrschten Reaktionen. Auf Stufe 2 kommt es zum offenen Streit mit immer schärferen Argumenten und in schärfer werdendem Ton. Rechthaberei und Schwarz-Weiß-Denken sind für diese Phase typisch. Auf Stufe 3 hat sich der Streit so verhärtet, dass es bereits zu abwertenden Gesten, zum Beispiel Augenverdrehen, kommt oder auch zum Abbruch des Gesprächs, durch Abwenden oder Rauslaufen. Die Konfliktparteien versuchen ihre Sicht durchzudrücken, gegebenenfalls auch durch Aktionen. Im zweiten Block auf den Stufen 4–6 ist der Konflikt schon so eskaliert, dass es Hilfe von außen braucht, um aus der Konfliktsituation wieder herauszufinden, in der Regel durch Mediation. Die Konfliktpartner sind jetzt davon überzeugt, dass sie nur siegen können, wenn der Gegner verliert (win-lose). Auf Stufe 4 hat sich der Streit auf die persönliche Ebene verlagert. Der oder die andere wird als Person abgewertet und es wird an ihm oder ihr kein gutes Haar mehr gelassen. Beide Seiten suchen Verbündete. Stufe 5 zeichnet sich aus durch öffentliche Beschimpfungen, totalen Vertrauensverlust und Rachegedanken. Auf Stufe 6 findet ein offener Machtkampf statt. Mit Drohungen wird versucht, den anderen niederzuzwingen. Im dritten Block geht es nicht mehr ums Gewinnen, sondern darum, dem Gegner zu schaden. Es gibt jetzt nur noch Verlierer (lose-lose). Hier gibt es nur dann einen Ausweg, wenn von außen ein Machteingriff erfolgt, der die Gegner trennt. Auf Stufe 7 wird der andere nicht mehr wie ein Mensch behandelt, sondern wie ein Ding. Es geht längst nicht mehr um das ursprüngliche Anliegen, das den Konflikt ausgelöst hat, sondern darum, dem Gegner zu schaden. Auf Stufe 8 kommt es zu physischer oder psychischer Gewalt, die dauerhaften Schaden zur Folge hat. Stufe 9 bedeutet den „totalen Krieg“. Die eigene Vernichtung wird in Kauf genommen, wenn damit nur der Gegner zerstört wird. Wo ist der genannte Konflikt einzuordnen? Es war mir nicht möglich herauszufinden, was der ursprüngliche Auslöser des Konfliktes war. Das bedeutet in sich schon „Alarmstufe Rot“ – mindestens Eskalationsstufe 7. Da behandeln sich Menschen, in der Regel unbewusst, längst wie Dinge: Ein Problemfall wird „entsorgt“. Und auch Elemente der Selbstschädigung sind darin bereits enthalten. Denn für ein System, das einen hohen Anspruch an die eigene Gemeinschaft hat – Liebe, Friede, Versöhnung –, bedeutet der berichtete Vorgang an sich schon einen öffentlichen Imageschaden. So zeigte sich dann auch bald, dass der „Point of no Return“ längst überschritten war und als Lösung nur noch eine Trennung infrage kam. Auch aus der Vergangenheit meiner eigenen Gemeinschaft erinnere ich mich lebhaft an krisenhafte Situationen, die ich rückblickend einfach nur als destruktiv im Gedächtnis behalten habe. Nicht jeder Austritt aus dem Kloster ist falsch, genauso wenig wie jede Kündigung oder jede Ehescheidung. Aber es gibt darunter auch immer wieder Geschichten, die nie zur Ruhe kommen, weil sie in einer Eskalation geschehen sind und nicht auf der Basis einer tragfähigen Entscheidung. Solche Erfahrungen hinterlassen auf beiden Seiten Wunden. Weitgehend geschlossene Systeme, wie es Klöster tendenzweise sind, sind besonders anfällig für Eskalationen. Das Gleiche gilt für alle Gruppen und Organisationen, in denen es enge persönliche Beziehungen sowie einen hohen Grad an Identifikation gibt und deshalb viel Emotion bei allen Beteiligten im Spiel ist – dazu gehören auch Partnerschaften und Familien. Anfällig sind auch Systeme, die sich insgesamt in der Krise befinden. Eine Firma, deren Existenz durch die Coronakrise bedroht ist, ist da viel gefährdeter als eine Firma, die sich gerade im Aufschwung befindet. Es dauerte nicht lange, und die erzählte Begebenheit wiederholte sich mit einer anderen Schwester aus einem anderen Orden, die sich eines Tages bei mir meldete und um Hilfe bat. Die erlebte Eskalation hatte hier bereits zu dauerhaftem Schaden geführt (Stufe 8). Diese Schwester litt an einer Traumatisierung, Angstzustände und Albträume waren die Folge. In den vergangenen zwölf Jahren habe ich etliche solcher Geschichten gehört. Manchmal gelang es, Lösungen zu finden und einen Weg der inneren Heilung und Versöhnung mitzugehen. Wie kann ich solche Situationen verhindern? Diese Frage bewegte mich von Anfang an als Priorin, und ich wollte eine Haltung der Deeskalation einüben. Wie kann das gehen? Zunächst einmal braucht es natürlich Achtsamkeit gegenüber solchen Vorgängen. Wenn ich sie nicht wahrnehme, kann ich auch nichts dagegen tun. Zum Identifizieren des Problems ist eine Eskalationsskala wie die genannte sehr hilfreich. Sie zeigt, wie schnell und wie oft Konflikte schon weit eskaliert sind, ehe wir anfangen, ihnen bewusst und absichtsvoll unsere Aufmerksamkeit zu schenken, um einen Ausweg zu suchen. Spannungen und Streit am Arbeitsplatz oder im Verein, an denen wir nicht unmittelbar beteiligt sind, stören und nerven uns zwar, aber die meisten Menschen halten sich dann raus. Es ist aber wichtig, kritische Schwellen früh genug zu erkennen. Als Leitung gehört es zu meiner Aufgabe, solchen Problemen nachzugehen. Meine Fürsorgepflicht verlangt von mir, darauf zu achten, dass niemand in einem Konflikt Schaden nimmt und dass möglichst eine Win-win-Lösung gefunden wird. Zwei Schwellen in der Skala erscheinen mir da besonders wichtig. Die erste Schwelle liegt an dem Punkt, wenn aus einem sachlichen Konflikt persönliche Angriffe und Kränkungen werden, und der zweite kritische Punkt ist erreicht, wenn sich nicht mehr über das ursprüngliche Problem, sondern nur noch über den Streit gestritten wird. Als ich mich im Studium mit den Grundregeln der Mediation, der Streitschlichtung, befasst habe, habe ich eine hilfreiche Grundhaltung kennengelernt. Wer Konfliktparteien helfen will, gemeinsame Lösungen zu finden, darf keine Partei ergreifen. Das ist klar. Aber es geht dabei nicht um Unparteilichkeit, sondern um Allparteilichkeit. Ich finde, das ist ein großartiges Wort. Ich bleibe nicht auf Distanz, sondern wende mich allen Perspektiven gleichermaßen zu, bin allen gegenüber empathisch. Indifferent zu bleiben und mich rauszuhalten, lässt sich dagegen leicht als Gleichgültigkeit, als ein Sich-Rausziehen, ein emotionales Unberührt-Bleiben verstehen und verändert keine Konfliktsituation zum Besseren hin. Wichtig ist auch, den existenziellen Druck von Menschen in Konflikten zu erspüren. Es gibt bei jedem Menschen eine individuelle Schmerzgrenze, die nicht überschritten werden darf, weil sonst Kontrollverlust und dauerhafter Schaden drohen. Oft geht es zunächst darum, innerlich und...