Köppe / Kindt | Erzähltheorie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 205 Seiten

Reihe: Reclams Studienbuch Germanistik

Köppe / Kindt Erzähltheorie

Eine Einführung - Köppe, Tilmann; Kindt, Tom - 11358
2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2022
ISBN: 978-3-15-962057-2
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Einführung - Köppe, Tilmann; Kindt, Tom - 11358

E-Book, Deutsch, 205 Seiten

Reihe: Reclams Studienbuch Germanistik

ISBN: 978-3-15-962057-2
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was ist eine Erzählung? Wie sind Aufbau und Präsentationsweisen von Erzähltexten zu beschreiben? Ausgehend von diesen Grundfragen bietet das Studienbuch eine umfassende Einführung in die Erforschung des Erzählens: Welche Besonderheiten hat das Erzählen in unterschiedlichen Medien? Haben fiktionale Erzählungen immer einen Erzähler? Was ist eine Figur? Wie lassen Schilderungen den Eindruck der Unmittelbarkeit entstehen? Und wovon hängt die Zuverlässigkeit einer erzählerischen Darstellung ab? Das Studienbuch stellt die Voraussetzungen, Strukturen und Funktionen des Erzählens vor, gibt einen Überblick über die Kernprobleme der Erzähltheorie und erläutert Verfahren der Einzeltextanalyse. Tabellen, Infoboxen, Analysebeispiele und Literaturempfehlungen runden den Band ab. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Tilmann Köppe, geb. 1977, ist Professor für Analytische Literaturwissenschaft am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Fiktions- und Erzähltheorie sowie analytische Ästhetik. Tom Kindt , geb. 1970, ist Professor für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg, Schweiz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Erzähltheorie, Komikforschung, Literatur der Moderne und Geschichte der Germanistik.
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[9]1 Erzähltheorie


1.1 Die Bedeutung des Erzählens und die Anfänge seiner Erforschung


Wer sich vergegenwärtigen will, welch große Bedeutung das Erzählen für den Menschen und das menschliche Zusammenleben besitzt, der sollte den Versuch unternehmen, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der nicht erzählt wird. Ein entsprechendes Vorhaben stellt unser Vorstellungsvermögen vor eine schwierige Aufgabe. Vermutlich liegt das nicht zuletzt daran, dass uns für ein solches Gedankenspiel die Vorbilder fehlen; wir wissen von keiner vergangenen Kultur, die ohne das Erzählen ausgekommen ist, und wir kennen weder eine gegenwärtige Gesellschaft noch eine erdachte Welt, in der dies der Fall ist. Wo immer Menschen zusammenleben, so lehrt die Erfahrung und bestätigen Geschichtsschreibung, Ethnologie und Soziologie, da wird auch erzählt. Es handelt sich beim Erzählen, kurz gesagt, um Anthropologische Universalie eine .

Die Schwierigkeiten, die das skizzierte Gedankenspiel bereitet, erklären sich allerdings nicht allein daraus, dass das Erzählen – mit Roland Barthes gesprochen – »international, transhistorisch, transkulturell« (Barthes 1966, S. 102) ist.1 Entscheidend scheint noch etwas anderes zu sein: Erzählt wird nicht nur in allen Gesellschaften, sondern zudem in fast allen Bereichen jeder einzelnen Gesellschaft. Menschen erzählen sowohl in der Dichtung als auch im Alltag, unabhängig davon, ob sie allein sind oder in Gemeinschaft, schon in früher Kindheit und noch in hohem Alter, bei der Arbeit oder beim Essen, vor Gericht, in Film und Fernsehen, aber auch in Kirchenpredigten und im Wirtschaftsleben, wenn sie einen Arzt besuchen oder Sport treiben, Kaffee trinken oder Kinder ins Bett bringen, beim Spazierengehen ebenso wie in der Schule und in den Wissenschaften. Das Erzählen ist eine anthropologische Universalie, die im menschlichen Zusammenleben Ubiquitäres Phänomen ein .

Versucht man also, sich eine Gesellschaft ohne Erzählen vorzustellen, bemerkt man, was in den vergangenen Jahren zusehends in den Blick gekommen ist – dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem Erzählen und dem Menschsein überhaupt gibt. Man wird vielleicht nicht so weit gehen wollen [10]und aus den umrissenen Beobachtungen folgern, dass der Mensch als ›das erzählende Tier‹ einzustufen ist, wie in den letzten Jahrzehnten immer wieder vertreten wurde, zuletzt etwa von dem Schriftsteller Henning Mankell: »Eine angemessenere Bezeichnung für unsere Spezies als scheint zu sein, […] wir sind Geschichten erzählende Wesen« (Mankell 2011; ähnlich schon Fisher 1984). Peter Brooks’ nüchterner Erläuterung der Bedeutung, die das Erzählen für den Menschen besitzt, kann man aber rückhaltlos zustimmen: »Die Erzählung ist eine der allgemeinen Kategorien und Methoden des Verstehens, die wir in unserer Auseinandersetzung mit der Realität nutzen, insbesondere in unserer Auseinandersetzung mit dem Problem der Zeitlichkeit, mit der menschlichen Zeitgebundenheit« (Brooks 1984, S. xi). Erzählen mag nicht das zentrale Wesensmerkmal des Menschen sein – ein markantes Alleinstellungsmerkmal ist es ohne Frage (vgl. vertiefend den Infokasten »Wo wird erzählt?«).

Angesichts der großen Relevanz, die dem Erzählen im menschlichen Leben zukommt, kann es nicht überraschen, dass erste Ansätze zu seiner systematischen Reflexion und insofern Vorformen erzähltheoretischer Überlegungen in der Antike Vorformen erzähltheoretischer Überlegungen bereits in der Antike entstehen. Diese Ansätze nehmen das Erzählen freilich – und das sollte lange Zeit so bleiben – nur mittelbar und ausschnitthaft in den Blick. Betrachtet wird nicht das Phänomen als solches, im Fokus stehen vielmehr einzelne seiner Ausprägungen wie insbesondere das Erzählen in angesehenen literarischen Gattungen, und auch diese Ausprägungen nur insoweit, als sie in bestimmten systematischen Zusammenhängen interessant erscheinen, vor allem in Reflexionen zu den Formen der Dichtung und in der Theoriebildung zur Redekunst oder Geschichtsschreibung.

Einflussreiche Beispiele für entsprechende Überlegungen finden sich in Platons (um 380 v. Chr.) und Aristoteles’ (um 335 v. Chr.): Beide Werke machen das Erzählen selbst nicht zum Thema; sie liefern aber, im Kontext von Betrachtungen zur Dichtkunst und ihren Spielarten, einige Ausführungen zur Gattung des Epos, die sich aus heutiger Sicht als frühe Beiträge zu einer allgemeinen Charakterisierung des Erzählbegriffs verstehen lassen. Platon unterscheidet das Epos mit Hilfe des sogenannten Redekriteriums von anderen Gattungen, d. h. unter Bezugnahme auf die Frage, wer in einem literarischen Werk spricht; für ihn ist die epische Dichtung durch eine Art der Redegestaltung charakterisiert, bei der einerseits – wie im Gedicht – der Autor selbst und andererseits – wie in der Komödie und Tragödie – die Figuren zu Wort kommen (vgl. Platon, III 394a–c). Aristoteles bestimmt das Epos als diejenige der beiden Grundformen dichterischer Handlungsdarstellung, die nicht auf Figurenhandeln, sondern auf der entweder ungebrochen [11]oder in einer Sprecherrolle vorgetragenen Rede des Autors beruht (vgl. Aristoteles, 1448a).

Zwischen Antike und Moderne durchläuft das Verständnis des Erzählerischen eine Reihe von Wandlungen (vgl. Scheffel 2010; Contzen/Tilg 2019, Kap. 1–3); seine theoretische Thematisierung erfolgt aber durchweg in der indirekten und selektiven Form, die sich bei Platon und Aristoteles beobachten lässt. Das ändert sich erst im späten 19. Jahrhundert. Im Zuge der Institutionalisierung der Kulturwissenschaften im 19. Jahrhundert Institutionalisierung und Professionalisierung der Text- und Kulturwissenschaften kommt es nun zu einer Neuausrichtung der Beschäftigung mit literarischen Texten und anderen kulturellen Artefakten (vgl. Kindt/Müller 2008), die auch in der Auseinandersetzung mit Erzählungen ihren Niederschlag findet und im Wesentlichen durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: Zum einen wird das Erzählen jetzt als Forschungsgegenstand eigenen Rechts entdeckt, es kommt also nicht mehr nur im Kontext der Untersuchung anderer Phänomene und Probleme in den Blick. Und zum anderen entsteht eine Form von Erzählforschung, die sich an strengeren Maßstäben von Wissenschaftlichkeit auszurichten versucht und an die Stelle der normativen Betrachtung von Erzählungen deren Deskriptiv-empirische Erschließung von Texten deskriptiv-empirische Erschließung treten lässt.

Im Zeichen dieser Neuausrichtung beginnt sich um 1900 das Forschungsfeld »Erzähltheorie« herauszubilden, das Gegenstand dieser Einführung ist. Ein Überblick über die Geschichte des Gebiets seit seiner Herausbildung und über seine Wegbereiterinnen und Wegbereiter findet sich im Anhang des vorliegenden Bandes. Die folgenden Unterkapitel (1.2.1 bis 1.2.3) betrachten Aufbau, Aufgaben und Bausteine der Erzähltheorie sowie ihr Verhältnis zu anderen Bereichen der Literatur- und Kulturwissenschaften.

Drei Hinweise zur Terminologie

Erstens: Der Ausdruck ›Narratologie‹ wird im Folgenden als gleichbedeutend mit dem Term ›Erzähltheorie‹ verwendet. Anders als es gelegentlich vorgeschlagen wird, sollen die beiden Ausdrücke also nicht zur Bezugnahme auf unterschiedliche Traditionen der systematischen Reflexion des Erzählens genutzt werden (vgl. etwa Nünning/Nünning 2002b; Meister 2009), beispielsweise zur Abgrenzung der ›deutschen Erzähltheorie‹ von der ›französischen‹ bzw. ›anglo-amerikanischen Narratologie‹ (so etwa Darby 2001). Entsprechende Verwendungen der Bezeichnungen gehen an deren Gebrauch in den Text- und Kulturwissenschaften vorbei und verdecken überdies die grundlegenden Gemeinsamkeiten und zahlreichen Verbindungslinien zwischen den jeweils unterschiedenen Forschungstraditionen (vgl. auch Fludernik 2003).

Zweitens: Von ›Erzähltheorie‹ oder ›Narratologie‹ wird hier nicht schon dann gesprochen, wenn in einem Text Erzählvorgänge oder Erzählungen thematisiert werden, sondern nur dann, wenn dies in theoretischer Weise geschieht (vgl. Kap. 1.2.1). In Abgrenzung von einigen neueren Vorschlägen (so z. B. Herman 1999) soll also zwischen der Theorie des Erzählens und der mehr oder weniger theoriegeleiteten Praxis der Erzählanalyse unterschieden werden, die hier als ›Erzählforschung‹, ›Erzähltextanalyse‹ o. Ä. bezeichnet wird (vgl. zu dieser Unterscheidung auch Cornils/Schernus 2003; Nünning 2003).

Drittens: Entgegen einer verbreiteten...



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