E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Köpf Kramer oder das Ziel aller Wünsche
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99200-390-7
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-99200-390-7
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der pensionierte Ministerialrat Dr. Theo Kramer stand sein ganzes Berufsleben im Schatten mächtiger Männer und lebt nun abgeschieden von der Welt ein verbittertes Dasein. Eine unerwartete Erbschaft gibt ihm plötzlich die Möglichkeit, endlich selbst jemand von Bedeutung zu sein. Als er entdeckt, dass sein eigener Name ein Palindrom zu 'Remark' bildet, fühlt er sich auf magische Weise mit seinem Idol, dem Schriftsteller und Lebemann Erich Maria Remarque, verbunden. Von da an vertieft er sich derart in Remarques Werk und dessen Biografie, dass die Welt des Autors allmählich seine eigene wird. Er kauft Remarques altes Auto, wandelt auf den Spuren dessen Lebens und gibt sich sogar als naher Verwandter des berühmten Schriftstellers aus. Immer tiefer verstrickt in seine Hochstaplerei und in Remarques Sog gezogen, verliebt er sich schließlich in die neue Besitzerin von Remarques Villa im Tessin - überzeugt, in ihr eine einstige Geliebte des Autors wiederzuerkennen ...
Gerhard Köpf, geboren am 19. September 1948, ehemaliger Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatrischen Klinik der LMU München; diverse Literaturpreise für sein literarisches Werk (u. a. 1983 Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann- Preis; 1989 Förderpreis Berliner Akad. der Künste, 1990 Raabe-Preis); spielte kleine Rollen in Film und Theater (Münchner Kammerspiele).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
5 Aus den Romanen war nach und nach ein Mensch herausgetreten, der Kramer half, mit den Zweifeln in der eigenen Welt nicht länger allein zu sein und zusammen mit einem anderen in den Abgrund der Zeit blicken zu können. Das leicht aus der Balance geratene seelische Gleichgewicht konnte dadurch stabilisiert werden. Die Hoffnungslosigkeit, die ihm bisher so schwer auf den Schultern lag, war leichter geworden. Er wurde aufmerksamer sich selbst und seiner Umgebung gegenüber. Der Verrohung seines Alltags konnte er den Glanz des Möglichen entgegensetzen. Kramer taumelte nicht länger durch die Korridore seiner Einsamkeit. Jetzt hatte er einen Weggefährten. Wirklichkeit und Vorstellung ließen sich durch Lektüre deckungsgleich übereinanderlegen. Zugleich wuchs der Mut zu selbstvergessener Unbesonnenheit. Ein Abenteuer zeichnete sich ab. Es machte ihn stolz, sich damit von dem intellektuellen Gesindel abzuheben, das ihn für gewöhnlich umgab und sich für das Salz der Erde hielt. Ministerialrat Kramer erkannte in Remarques Einsamkeit die seine wieder. Insbesondere Arc de Triomphe lehrte ihn das Geheimnis des Alleinlebens. Remarques Werte wurden zu Kramers Werten, seine Eigenschaften zu Kramers Eigenschaften, wenngleich diesem bewusst war, dass er bei Weitem nicht so gut aussah wie Remarque mit seinen glatt zurückgekämmten Haaren, den buschigen Brauen über leuchtend blauen Augen. Kramer übte vor dem Spiegel den leicht verhangenen Blick, hinter dem eine gefährliche Gier nach Leben zu lauern schien. Damit, glaubte er, könne er die Frauen beeindrucken. Immer wenn sich Kramer ungerecht behandelt oder einsam fühlte, wenn er sich einbildete, die Kassiererin im Supermarkt sei unfreundlich zu ihm gewesen, jemand habe ihn scheel angesehen und die Frauen verstünden ihn nicht, fühlte er Remarques Anwesenheit, die ihm Trost spendete. Das anfänglich nur schwärmerische Verhalten, wie es sich in einem Remarque-Schrein mit einem großformatigen Foto des Schriftstellers in Kramers Wohnzimmer ausdrückte, hatte sich gesteigert, sodass irgendwann unmerklich die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit überschritten worden war und sich über die Monate eine regelrechte Besessenheit eingestellt hatte. Ein warnendes Beispiel wie das des Lennon-Mörders Mark David Chapman, das ihm ein wohlwollender ehemaliger Kollege vor Augen geführt hatte, ließ Kramer nicht gelten. Natürlich führte der Ministerialrat ein Scheinleben. Das war ihm umfassend bewusst. Aber auch ein Schriftsteller wie Remarque führte ein Scheinleben, er war geradezu dazu verpflichtet, das Leben nachzuahmen und in seiner Intensität zu erfassen, es zu beobachten. Die Gefahr für Kramer bestand darin zu glauben, daran teilnehmen zu müssen. Davor war Kramer gerade wegen seiner Bürgerlichkeit nicht gefeit. Der Verlockung, das Scheinleben in die Realität zu überführen, war zu groß. Um in Richtung Resignation und Tod zu schielen, würde später immer noch Zeit genug bleiben. Vielleicht würde an einem trüben Abend im Herbst, nach tagelangem Regen, die Sehnsucht nach einem Menschen hinter dieser Nebelwand unerträglich werden. Im Augenblick galt es, nichts vom Leben in der Möglichkeitsform zu versäumen. Wie sonst hätte er sich diese neue Welt verständlich machen können? Mit der Arroganz eines Aristokraten schwor sich der Ministerialrat, nichts preiszugeben von jener Welt, in die er neuerdings eintauchen konnte. Mit nichts und niemandem würde er sie teilen wollen, auch nicht mit der schönsten Frau. Auf der Suche nach Remarque-Reliquien war er eines Tages im Internet auf ein besonderes Angebot gestoßen – Remarques geliebten Lancia Dilambda. Der Ministerialrat wusste, dass der berühmte Autor schon als Werbetexter bei der Hannoveraner Reifenfirma Continental und später als Redakteur der Zeitschrift Sport im Bild ein Autonarr gewesen war. Jetzt wollte er es ihm auch auf diesem Gebiet gleichtun. Der Schriftsteller hatte in zahlreichen Artikeln und Kurzgeschichten das Hohe Lied von Rennwagen gesungen und sie nachgerade zu mystischen Tieren überhöht. Jetzt fühlte sich Kramer an der Reihe. Alles hatte er unmittelbar vor sich: Das Gaspedal, das Aufheulen des Motors, den Geruch von Benzin, die Mechaniker und die Boxenluder. Endlich könnte er den Dandy am Steuer spielen. Um die Sache stilecht zu gestalten, kaufte sich Kramer ein Paar rehlederne Rennfahrerhandschuhe. Kaum hatte er sie übergestreift, fühlte er sich bereits an der Seite von Filmschönheiten beim Grand Prix in Monaco. Er und andere Champions würden sich anschließend im Palast der Grimaldis zum Empfang des Fürsten treffen und den neuesten Klatsch austauschen. Der Lancia würde den Circuit meistern wie kein anderer Wagen und wie maßgeschneidert zu seinem neuen Lebemann-Image passen. Kramer kannte den berüchtigten Stadtkurs, der in der klassischen Variante Start und Ziel auf dem Boulevard Albert I. hatte. Die erste Rechtskurve befindet sich an der Einmündung der Rue Sainte-Dévote. Danach zieht sich die Strecke auf der Avenue d’Ostende bergauf und passiert Beau Rivage. Weiter geht es auf der Avenue de Monte-Carlo, eine Linkskurve schließt sich an, zügig wird das Casino von Monte-Carlo passiert. Viel Schalten ist erforderlich, denn am Place du Casino folgt ein Rechtsknick auf die Avenue des Spélugues. Hier ziehen die Fahrer nach rechts, am Mirabeau Haute folgt ein weiterer Rechtsknick, die Avenue des Spélugues treibt den Pulk abwärts zur Haarnadel am Grand Hotel Hairpin. Das ist die langsamste und deshalb gefährlichste Stelle, die einzige im ersten Gang gefahrene Kurve aller Formel-1-Rennstrecken. Da kommt es entscheidend auf eine fein justierte Lenkübersetzung an. Der Kurs führt weiter über die Avenue Princess Grace, eine doppelte Rechtskurve hinein in die Uferstraße, den Boulevard Louis II, und er mündet im spektakulären Tunnel unter dem Fairmont-Hotel. Hier müssen die Piloten mit dem scharfen Lichtwechsel zurechtkommen. Der schnellste Abschnitt wartet nach der Tunnelausfahrt. Auch die nächste Kurve kann flott durchfahren werden. Es lauert jedoch bereits die Schikane, gefolgt von der Schwimmbad-Kurve. Die Streckenführung geht weiter auf die Rascasse zu, wo die Restaurantgäste direkt an der Leitplanke sitzen können. Die Doppel-Rechtskurve 16 leitet zurück zur Einmündung auf die enge Boxengasse oder zurück auf den Boulevard Albert I zu Start und Ziel. Kramer sehnte den tosenden Applaus der Motorsport-Verrückten herbei, gierte nach den zahllosen Fachgesprächen und brannte darauf, vom Geruch nach Benzin und Öl in der Luft eingehüllt zu werden wie vom Weihrauch eines Hochamtes. Sogleich nahm er sich vor, wie der legendäre Tazio Nuvolari die Mütze verkehrt herum mit dem Schild im Nacken aufzusetzen. Selbst ein saftiger Unfall in der Schwimmbad-Kurve könnte seinem Image nichts anhaben. Im Gegenteil. Es würde ihm so ergehen wie Alberto Ascari, der einst mit seinem Lancia ins Hafenbecken gestürzt war, um von Matrosen des Reeders Aristoteles Onassis jedoch unversehrt aus dem Wasser gefischt zu werden. Vier Tage später verlor er bei einer Testfahrt sein Leben. Kramer sah den Wagen vor sich: vier Liter Hubraum, acht Zylinder statt bisher vier, 100 PS, grau mit hellgrauem Verdeck, zweitürig, offene Karosserie. Das Fahrgestell von der Karosseriefirma Voll & Ruhrbeck. Diesen Wagen musste er unbedingt haben, koste es, was es wolle. Um Platz in seiner Garage zu schaffen, verkaufte er seinen soliden Volvo an einen Bulgaren und schenkte ihm obendrein noch einen Satz neuer Winterreifen. Dem Angebot im Internet nach war der generalüberholte Lancia in tipptopp Zustand im Besitz eines italienischen Film-Requisiteurs in Monza bei Mailand. Kramer nahm Kontakt auf. Er nannte sich Remark und spielte diskret auf den verwandten Schriftsteller an. Monza und Motorsport sind untrennbar miteinander verbunden. Deshalb wunderte sich Kramer überhaupt nicht, dass der Lancia ausgerechnet hier stand. Monza war eine ideale Kulisse für einen Lebemann und Rennfahrer, für Männerfreundschaften, schwärmerische Frauen und mondänes Gesellschaftsleben. Der Verkäufer des Lancia war, wie Kramer erfahren hatte, in finanzielle Turbulenzen geraten, weil ihm ein Konkurrent einen fetten Auftrag für Cinecittà weggeschnappt hatte. Die Summe, die der Filmausstatter für Remarques Wagen verlangte, war zwar astronomisch, doch wofür sonst sollte Kramer die unverhoffte Erbschaft von Tante Olgi verwenden, als sich seine kühnsten Wünsche zu erfüllen? Die Sache habe nur einen Haken: Zwar sei das Auto voll funktionsfähig und könne jederzeit gestartet werden, doch bestand der Verkäufer, offenbar ein Autonarr, darauf, den Lancia eigenhändig über den Brenner zu bringen. In Innsbruck könne ihn Kramer dann übernehmen. Kramer willigte widerwillig ein, handelte dabei noch einen kleinen Preisnachlass heraus sowie die Zusage, als Beifahrer von Anfang an dabei zu sein. Anderenfalls würde er tausend Tode aus Sorge um die kostbare Reliquie sterben. Kramer hielt den Filmausstatter Fabio Torriani für einen sensiblen Menschen, denn als Ausstatter war er nicht nur für die Beschaffung der Requisiten – von der Türklinke bis zum Gemälde an der Wand – verantwortlich, sondern er musste sich auch darum kümmern, dass jedes Detail stimmte. Das war zweifellos auch Remarques Lancia zugutegekommen, nahm er an. Kramer wollte glauben, dass derjenige, der diesen Beruf ausübt, fundiertes Wissen in vielen Bereichen haben muss, von Stil- und Kunstgeschichte bis hin zu alten...