Köpf | Das Dorf der 13 Dörfer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Köpf Das Dorf der 13 Dörfer

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-99200-186-6
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-99200-186-6
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Reise, die einem langen Spaziergang gleicht, führt einen älteren Journalisten nicht nur geografisch aus der Hauptstadt in die Provinz, sondern auch zeitlich zurück in die beginnenden 1950er-Jahre, als die Republik noch im Entstehen war. Anhand der Erinnerungen an die unterschiedlichsten Menschen und Charaktere aus seiner Kindheit entsteht ein buntes und vielfältiges Bild einer
dörflichen Gemeinschaft, in der alles ganz nah beieinanderliegt: die verlorene Illusion neben den hoffnungsvollen Träumen von der Zukunft, die Schatten der Vergangenheit neben den sich neu eröffnenden Chancen auf ein besseres Leben. Private Erinnerung und kollektives Gedächtnis gehen hier eine eng verschlungene Verbindung ein, die sich erst im Rückblick erschließt und geleitet
wird von der Frage, wie wir wurden, was wir sind.

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Gleich nach dem Zusammenbruch wurde das Waschhaus der Gemeinde beseitigt und durch einen Bahnhofskiosk ersetzt, in dem es Eis am Stiel gab, Drops, Bärendreck, Stocknägel und Abziehbilder von Schloss Neuschwanstein. Der Kiosk durfte keine zwanzig Jahre alt werden, bis er bayrisch rautig weißblau bemalt und in einen Info-Point für die Touristen verwandelt wurde. Als das Häuschen, durch welches die Zeitläufte einen Riss vom First bis in die Grundmauern gezogen haben, noch die Waschküche der Gemeinde war, hat meine Großmutter Walburg darin die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes gewaschen. Mir ist, als trete sie gerade aus der Tür. Die Walburg ist eine Stille, eine ganz Bescheidene, die nicht viel Aufhebens von sich macht. Und sie ist fleißig, keine Arbeit wird ihr zu viel. Ihr Lebtag habe ich sie nicht klagen gehört. Walburg stammt aus Nesselwang. Sie ist Kaspars Frau und Mutter der Söhne Luis und Baptist und Firmian, welcher zur See fahren wird. Walburgs Lieblingslied ist das Lieblingslied des Prinzregenten Luitpold: Fein sein, beinander bleib’n. Fein sein, beinander bleib’n – das wollte Walburg immer. Sie ist meinem Großvater eine brave Frau und ihren Söhnen eine gute Mutter. Walburg kennt die Arbeit, nie hat sie einen Bogen um sie geschlagen, schon als Kind ist sie mit ihren neun Geschwistern ihrem Vater, einem Sattler und Stellmacher, zur Hand gegangen, hat ihm das Zaumzeug gehalten, das Leder eingefettet, als Älteste nach dem frühen Tod der Mutter den Haushalt geführt und die Geschwister großgezogen. Die Walburg ist dünn wie ein Stecken, aber sie kann zupacken. Es macht ihr nichts aus, im Bahnhofshotel in der Küche zu helfen, es macht ihr nichts aus, bei fremden Herrschaften zu putzen oder zur Verstärkung geholt zu werden, wenn ein Fest gefeiert wird, um aufzutragen und abzuspülen. Jeden Pfennig legt sie auf die Seite, jeden Groschen liefert sie bei Kaspar ab, der sich den Bau eines Häuschens in den Kopf gesetzt hat: fein sein, beinander bleib’n. Walburgs Geschichte beginnt lange vor dem Krieg. Da sucht nämlich der Leiter des Reichsarbeitsdienstlagers drunten im Meilinger Bad an der Vils eines Tages eine zuverlässige Kraft für das, was so anfällt an Wäsche von seinen Männern. Die Walburg rechnet im Kopf schnell nach, macht ein Angebot und erhält sogleich den Zuschlag. Schon wird im Gemeinde-Waschhaus auf dem Hof des Bahnhofrückgebäudes ein großer Kessel mit Ofenrohr aufgestellt, schon schichten die Söhne Luis und Baptist und Firmian das Schürholz auf, schon wächst die Holzbeige, schon wird die Waschküche hergerichtet für die schmutzige Wäsche aus dem Lager. Ich höre, wie der erste Lastwagen heranrollt, wie die Männer in ihren Knobelbechern von der Ladefläche springen, wie sie Körbe prallvoll mit Unterhosen und Unterhemden, Jacken, Socken, Leibchen und Pullovern, Uniformblusen und Sonntagshemden vom Lkw hieven, indes Walburg ein Seil spannt kreuzquer über die Wiese. Die Frau füllt den großen Kessel Schaff um Schaff, bereitet eine Lauge, heizt und schürt, bis die Lauge kocht, in die sie die Schmutzwäsche wirft, um mit einem schon ausgebleichten breiten Holz langsam umzurühren und die einzelnen Stücke aus dem brodelnden Laugenwasser zu holen. Nie hat es ihr bislang etwas ausgemacht, anderer Leute Dreck aufzuräumen oder fremder Leute Wäsche zu waschen. Aber als sie die stinkenden Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes in die Nase bekommt, als diese Beize aufsteigt und sich einfrisst, da spürt sie einen Widerwillen, da muss sie schlucken, dass es ihr nicht hochkommt. Von der ersten Wäsche an widersteht ihr alles, was mit dem Reichsarbeitsdienst zusammenhängt. Aber sie traut sich nicht, es Kaspar, ihrem Mann, zu sagen. Sie glaubt, das sei nur eine Empfindlichkeit, die ihr nicht zustehe, sie denkt an den Wäschepfennig und was sie bekommt pro Kilo und daran, wie der Pfennig in das Häuschen wandert, das Kaspar mithilfe seiner Söhne bauen will: fein sein, beinander bleib’n. Zeitweilig nimmt das Häuschen die Form einer Sparbüchse an, aber das ist der Walburg bloß recht. Sie weiß genau, was ihr Hausvorstand hält von Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit und dass man es damit zu etwas bringen kann, wenn man nur will. Deshalb schluckt sie und versucht, nicht länger an die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes zu denken. Sie will sich die Männer auch gar nicht vorstellen: weder bei ihrer Arbeit noch abends, wenn sie die verschwitzten Füße lüften, die Socken ausziehen, Tarock spielen und ab und zu mit den Fingern zwischen den Zehen popeln oder die Fußnägel wegreißen. Nein, das will sich die Walburg gar nicht erst ausmalen, weil sie sonst sofort wieder schlucken muss, und das will sie nicht, weil sie die Socken wegen des Häuschens waschen muss, weil sie die verseichten Unterhosen in die Brühe tauchen muss, weil sie die Wäsche aufhängen muss auf der Leine hinter dem Haus, Tag für Tag, für das Reichsarbeitsdienstlager, wegen des Häuschens, das da auch an der Leine hängt und im kochenden Kessel schwimmt wie die Hemden und die Fußlappen mit ihrem beizenden Geruch, der nicht mehr aus der Nase will: als wäre sie eine Fischverkäuferin. So stellt sich die Walburg eine Fischverkäuferin vor: die Finger eisblau und ewig stinkend. Ewig. Aber die Walburg will keine Fischfrau sein. Wenn sie die schmutzige Wäsche gewaschen hat, will sie den Gestank der Fußlappen nicht aus der Waschküche in die Wohnung tragen, sie will nicht das Essen damit berühren, das sie ihren vier Männern kocht. Es soll ihr keiner anmerken, wie sehr ihr die Wäscherei widersteht, wie ihr zuwider ist, was sie da auf sich genommen hat, bloß weil es in dem schönen Lied heißt: fein sein, beinander bleib’n. Wie viele Dachziegel kann man vom Waschpfennig kaufen, wie viele Kilo Rafennägel, wie viele Schalbretter? Obgleich die Pläne für das kleine Häuschen immer schmächtiger werden und bescheidener, denkt die Walburg beim Umrühren des großen Kessels gerne daran, wie sie die Küche einrichten wird, wo das Sofa stehen soll, die Gautsche, wie man bei ihr daheim in Nesselwang dazu sagt, welches Bild über dem Ehebett hängen soll, ob es unser Herr am Ölberg ist oder die Darstellung der Muttergottes mit dem Schwert in der Brust. Ich sehe meine Großmutter auf der Veranda sitzen in einem Korbstuhl, ich sehe, wie sie Wolle aufwickelt, um einem der Buben einen Janker zu stricken, sehe, wie sie mit besonderer Aufmerksamkeit auf Firmian schaut, weil er so unruhig ist, immer ein Treibauf und jäh und gach, denn die Walburg kann nicht wissen, dass Firmian eines Tages Schiffsoffizier und Herr der sieben Meere werden wird. Auch bei Regenwetter muss für den Reichsarbeitsdienst gewaschen werden. Zweimal die Woche fährt der Lkw vor und lädt ab, zweimal die Woche wird meiner Großmutter schlecht vor dem Aufheizen des Kessels, der nur im Sommer im Freien steht, im Winter aber zwischen anderen seifenbleichen Schäffchen und Kübeln im Gemeinde-Waschhaus, in dem es nie richtig trocken wird, sosehr die Walburg auch lüftet. Kaspar hackt nach Feierabend das Holz, spaltet die Scheiter für den Waschkessel, während er die Söhne dazu anhält, sauber und ordentlich die Holzbeige zu errichten, denn Ordnung muss sein, wo kämen wir da sonst hin bei der Eisenbahn, bei der Kaspar beschäftigt ist als Reichsbahnassistent, weil er als Stuckateur keine Arbeit mehr gefunden hat. Immer wieder muss Kaspar auf seine Schweizer Uhr schauen, immer will er, der Eisenbahner, wissen, wie spät es ist, immer muss er auf Zeiger und Zifferblatt starren wie ein Firmling und seine Söhne heimlich stoppen: Welcher braucht am längsten für das Aufschichten des Kleingehackten, welcher macht es am ordentlichsten? Keine Frage: Es ist unser Baptist. Unser Baptist macht immer die schönsten Holzbeigen. Immer braucht er den Vater. Immer muss er gesagt bekommen, was er zu tun hat. Immer tut er, was der Stärkste von ihm verlangt. Walburg sieht mit Stolz und ein wenig Entsetzen, wie ängstlich ihr Baptist ist und wie ordentlich. Warum muss er immer gehorchen und sich nach den anderen richten? Warum sagt er nie, was er denkt? Warum tut er nie, was er denkt? Luis dagegen ist verschlossen. Er rennt einfach los, wenn es ihm zu viel wird. Luis wird Langstreckenläufer. Schon jetzt nennen ihn seine Freunde nicht bei seinem richtigen Namen Luis, sondern Nurmi. In aller Frühe kann man ihn auf die Berge rennen sehen. Je dünner die Luft wird, desto wohler fühlt er sich. Luis wird Langstreckenläufer und Bergführer. Die Touristinnen können sich auf seinen starken Arm verlassen. Luis weiß das. Firmian dagegen, der Jüngste, ist ein Hitzkopf. Die Feinmechanikerlehre passt ihm überhaupt nicht. Wie oft hat er schon mit der Feile auf das in den Schraubstock gespannte Eisenstück geschlagen? Wie oft hat ihm der Meister deshalb eine saftige Watschen gegeben? Firmian will hinaus. Sein Kopf ist in den Wolken. Von seinem ersten Lohn hat er sich einen Atlas gekauft. Er war schon überall, und überall kommt er hin mit dem Finger auf der Landkarte. Aber das reicht ihm nicht. Vorerst wird das Häuschen gebaut: Koste es, was es wolle. Kaspar muss sein...


Gerhard Köpf, 1948 geboren, ehemaliger Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprof. an der Psychiatr. Klinik der LMU München; diverse Literaturpreise für sein literar. Werk (u. a. 1983 Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Preis; 1985 Villa Massimo, 1989 Förderpreis Berliner Akad. der Künste, 1990 Raabe-Preis); spielt gelegentlich kleine Rollen
in Film (zuletzt Oliver Stone: Snowden) und Theater (Münchner Kammerspiele).



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