Koenig / Karnagel / Benz | Im Vorhof der Vernichtung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 182 Seiten

Reihe: Die Zeit des Nationalsozialismus ? »Schwarze Reihe«

Koenig / Karnagel / Benz Im Vorhof der Vernichtung

Als Zwangsarbeiter in den Außenlagern von Auschwitz
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-560953-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Als Zwangsarbeiter in den Außenlagern von Auschwitz

E-Book, Deutsch, 182 Seiten

Reihe: Die Zeit des Nationalsozialismus ? »Schwarze Reihe«

ISBN: 978-3-10-560953-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wer sich dem Unrecht des NS-Systems nicht allein durch wissenschaftliche Analyse annähern will, sondern nach authentischen biographischen Zeugnissen sucht, dem sei dieser Bericht eines jüdischen Zwangsarbeiters empfohlen. Als Student in Paris meldete sich Ernest Koenig 1939 als Freiwilliger, um mit der französischen Armee gegen Hitler zu kämpfen. Er wurde jedoch bald interniert und 1942 in den Osten deportiert. Es folgten Jahre als Zwangsarbeiter bei namhaften deutschen Firmen, die in Auschwitz billige Arbeitskräfte rekrutierten. Über die beiden hier beschriebenen Außenlager »Laurahütte« und »Blechhammer« ist nur wenig bekannt. In »Blechhammer« wurde die größte Anlage zur Gewinnung von Treibstoff aus Kohle gebaut, die zu den damals kriegswichtigen »Oberschlesischen Hydrierwerken« gehörte. Nur durch Zufall konnte der Autor seiner physischen Vernichtung entgehen und wurde schließlich 1945 befreit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Ernest Koenig, 1917 in Wien geboren, in Mähren aufgewachsen, studierte in Prag und Paris. 1940 wurde er von der französischen Polizei verhaftet und mit deren Hilfe 1942 nach Auschwitz deportiert. Dort überlebte er die Zwangsarbeit für die deutsche Industrie. 1947 wanderte er über London in die USA aus. Neben diversen Jobs setzte er in Abendkursen an der New School for Social Research (New York) sein Studium der Volkswirtschaft fort; 1950 schloss er mit einem M. A. ab. 1951 trat er in das US-Landwirtschaftsministerium ein, zunächst als Civil Servant im Rahmen des Marshallplan-Programms. Ab 1959 arbeitete er in Europa: als Stellvertretender Landwirtschaftsattaché in Bonn, ab 1964 bei der EWG in Brüssel und von 1974 bis 1979 bei den GATT-Verhandlungen. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Zentrale in Washington D. C. war er von 1983 bis 1987 Botschaftsrat in Paris. 1987 kehrte er endgültig in die USA zurück, wo er 2005 starb.
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Misslitz: Eine glückliche Kindheit in Mähren


Ich verbrachte meine Kindheit und einen Teil meiner Jugend in Misslitz (Miroslav), einem kleinen Städtchen oder »Marktflecken«, wie man es im Österreichischen nannte, etwa achtzig Kilometer nördlich von Wien. Dieser Teil Österreichs wurde nach dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie der Tschechoslowakei einverleibt. Das Städtchen hatte zwischen 3500 und 4000 Einwohner. Die meisten waren Bauern, einige Handwerker, die auch Landwirtschaft betrieben, einige Kaufleute, die auch Handwerker waren.

Innerhalb des Städtchens hatte sich eine Marktwirtschaft entwickelt, wie man sie heute nur mehr selten in West- und Mitteleuropa findet. Am Donnerstag und Sonntag gab es große Märkte, an denen viele hundert Menschen teilnahmen. Schon am Morgen rollten die Bauernwagen, von Pferden oder Kühen gezogen, aus den Nachbardörfern heran. Die Bauern wurden von ihren Familien begleitet. Sie verkauften ihre Erzeugnisse und kauften hernach industrielle Bedarfsgegenstände. Ich erinnere mich, wie die Getreidekaufleute die Körner durch die Finger gleiten ließen, um das Getreide zu prüfen, das sie kaufen wollten. Wenn Preis und Menge vereinbart waren, wurde der Kauf abgeschlossen. Mit dem Erlös gingen die Bauern in die umliegenden Geschäfte, oft nicht ohne vorher ein Glas Bier und ein Paar Würstel mit einer Semmel auf einem Wurststand gekauft zu haben. Die Bauern hatten wenig Bargeld. Ich erinnere mich einer Bäuerin, die auf der Stiege des Hauses meiner Tante Schwämme anbot. Sie lagen in einem großen karierten Taschentuch, das die arme Frau aus drei Fußmarschstunden Entfernung zu Markte brachte, um ein paar Münzen zu verdienen. Der Pferdehandel war unter den vielen Tauschgeschäften, die auf dem Markte stattfanden, am amüsantesten. Die Verkäufer priesen die hohe Qualität ihrer Pferde, was die Käufer auf jede Weise bestritten. Nach oft stundenlangem Feilschen kam es zum Einvernehmen, das mit einem Handschlag besiegelt wurde.

Misslitz ist uralt. Es wird im Jahre 912 erstmals erwähnt und war wahrscheinlich – aus dem tschechischen Namen »Miroslav« zu schließen – vor den Religionskriegen ursprünglich tschechisch und wurde nachher allmählich deutsch. Die meisten Einwohner waren Deutsche; eine starke Minderheit war tschechisch. Der größte Teil der Bevölkerung war katholisch, ein viel kleinerer Teil evangelisch und weniger als ein Zehntel der Einwohner jüdisch.

Die jüdische Gemeinde – zu meiner Zeit eine religiöse Körperschaft – war in der alten Monarchie auch eine politische Verwaltung gewesen mit Stadtrat, Bürgermeister, Polizei und Nachtwächter. Es gab also früher quasi ein jüdisches und ein nichtjüdisches Städtchen. In diesem wohnten auch Juden, die Bürgerrechte in diesem Stadtteil hatten, in jenem gab es auch Nichtjuden, die natürlich nicht zur religiösen, aber zur politischen Gemeinde gehörten und hier ihre Bürgerrechte hatten. Die Juden betrachteten sich nicht als Angehörige einer jüdischen Nationalität, sondern als Deutsche oder Österreicher – zumindest in der alten Monarchie.

Für uns Kinder, ob aus armen oder wohlhabenden Familien, war das Landleben ein Paradies. Etwa vom sechsten Lebensjahr an hatten wir praktisch unbegrenzte Freiheit außerhalb der Schule, da es außer möglichen Verletzungen durch Maschinen oder gar Haustiere weit und breit keine Gefahr gab. Wir durften daher im Walde, auf den Feldern und auf den Hügeln unbeaufsichtigt und ungehemmt herumschweifen.

Wir waren stets von Haustieren umgeben, derer es so viele gab, daß sie unser Denken und unsere Phantasie stimulierten. Da war der gewaltige Gemeindestier, der so böse und tückisch zu sein schien, daß er mit einem Nasenring versehen und mit verbundenen Augen an einem Strick durch die Dorfstraße geführt werden mußte. Wir zitterten beim Gedanken an das Unheil, das er anrichten würde, wenn er sich losrisse, was er auch einmal tat. Er brach in eine Greißlerei ein. Da waren die Gänse, Enten, Hühner und Truthähne, Hunde, Katzen und Tauben, die es alle selbst im Hofe meines Vaters, der kein Bauer war, gab. Dann gab es die Ziegen und Böcke, die die armen Leute in Ermangelung anderen Futters am Wegrand der Straßen und in den mit Gras bedeckten Straßengräben ihr Futter suchen ließen.

Die Geschichte meiner Familie läßt sich ungefähr vierhundert Jahre zurückverfolgen. Es scheint, daß sie, woher sie auch ursprünglich gekommen sein mag, in und um Wien gelebt hat. Der urkundlich beglaubigte Stammvater, Jakob Iritz, lebte im siebzehnten Jahrhundert. Einer seiner Enkel hieß König, ein anderer Schäfer, ein späterer Nachkomme Kramer. Meine väterlichen und mütterlichen Großmütter stammten in langer Linie von den zwei letzteren ab, vielleicht sogar von allen dreien. Mein Großvater König stammte trotz der Namensgleichheit nicht aus dieser Familie. Einer der Nachkommen von Jakob Iritz hieß Raphael König. Er war der erste Jude in der Monarchie, der vor 1848 außerhalb des Ghettos das Schlossergewerbe ausüben durfte. Eine Gedenkplatte für ihn befindet sich heute noch im Misslitzer Schloß.

Mein Vater war gebildet und bescheiden, belesen, sehr klug und von sehr gutem Urteil.[1] Er war sehr mutig und überstand alle Greuel der SS in Rußland, wohin man ihn mit meiner Mutter deportiert hatte, nach deren Ermordung und kam anscheinend erst im Jahre 1944 bei Lublin ums Leben. Meine Mutter war sehr hübsch, sehr wienerisch, voller Lieder und voller Liebe und Wärme zu meinem Bruder und mir und zu allen Verwandten und Bekannten. Meine Eltern waren sehr tolerant. Wir Kinder, die alle möglichen Bubenstreiche ausführten, wurden zwar dafür getadelt, aber fast nie ernstlich bestraft. Mein Großvater war ein strenger und aufrechter Mann. Er respektierte als einziger in der Familie die religiösen Gebräuche, behauptete aber, daß sie weitgehend sinnlos seien, man sie jedoch aus »Pietät« befolgen müsse, um die Tradition der Vorfahren zu ehren. Er sprach ebenso gut Deutsch wie Tschechisch und hegte Sympathien für den Präsidenten Masaryk, dessen Vater auf einem kaiserlichen Gut unweit Misslitz gedient hatte. Mein Großvater starb im Jahre 1941 als Zweiundneunzigjähriger. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte mit sechzehn oder siebzehn Jahren einen alten Mann geheiratet, der ihr zehn Kinder machte, dann das Vermögen verwirtschaftete und hernach starb. Aus Wien kam sie mit den vielen Kindern nach Misslitz zurück. Die Nazis ließen sie allein in Misslitz zurück, nachdem sie alle anderen Familienmitglieder verjagt hatten. Dann deportierten sie sie nach Wien und von dort nach Theresienstadt. Dort starb sie im hohen Alter eines natürlichen Todes. Bevor sie starb, rieb sie noch den Boden der Stube auf und erzählte meinem Onkel Gusti von den Plänen, die sie für die Familie habe, wenn alle nach dem Kriege wieder zusammenkommen werden.

Mein Onkel Hermann war Prokurist bei einem großen Unternehmen des Ortes und besaß eine außerordentliche Bildung. Er konnte lange Passagen aus Goethe, Schiller, Shakespeare und Heine zitieren und war in weiten Bereichen der Weltliteratur bewandert. Als kleiner Junge war ich oft nicht sicher, ob Onkel Hermann, wenn er Goethes »Zauberlehrling« rezitierte, nicht selbst ein Zauberer sei. Wenn er den »Türmer« von Goethe rezitierte, schien es mir, als befänden sich Gespenster in der Stube, und wenn er Goethes »Prometheus« vorlas, begannen wir zu begreifen, wie großartig der Mensch ist. Als ich fünfzehn Jahre alt wurde, schenkte mir Onkel Hermann den »Faust«, in den er folgende Widmung schrieb: »Aliud legent pueri, aliud viri, aliud senes« (Anderes lesen Knaben, anderes Männer, anderes Greise), und er erzählte mir, daß Peter Rosegger gesagt habe: »Als ich ein Knabe war, interessierte mich das Verhältnis Fausts zum Teufel. Als ich ein Jüngling war, das Verhältnis Fausts zu Gretchen. Als ich ein Mann war, interessierte mich das Verhältnis Fausts zu Helena, und nun, da ich ein Greis bin, interessiert mich das Verhältnis Fausts zu Gott.« Ich habe Onkel Hermann sehr viel zu verdanken und auch Tante Hedwig, die mit ihrer Liebe und Nachsicht unsere Kindheit bereichert hat.

Ich hatte noch viele andere Verwandte. Sie lebten zum Teil in Wien. Viele von ihnen waren in Misslitz aufgewachsen, und so gab es einen unaufhörlichen Strom von Besuchern aus Wien.

Die Menschen standen unter dem Eindruck des Weltkrieges und des politischen und staatlichen Umsturzes, den der Zusammenbruch der österreichischen Monarchie mit sich gebracht hatte. Der Krieg war eine Quelle unsäglichen Leidens und unglaublicher Abenteuer gewesen. Die Erwachsenen wurden nicht müde, immer wieder davon zu erzählen. Wir Kinder lauschten diesen Erzählungen mit großer Spannung. Obwohl wir vieles nicht verstanden, vermittelten diese Erzählungen Eindrücke und Bilder, die wir zeitlebens nicht vergessen haben.

Von 1923 bis 1928 ging ich in die Volksschule. Obwohl ich den Lehrern mit Befangenheit begegnete, denn sie waren bedeutende »Respektspersonen«, hatte ich die Schule gern und war dort sehr glücklich. Die Lehrer waren durchweg Deutschnationale, d.h., sie waren gegen Tschechen und Juden. Sie waren aber sehr freundlich zu mir, und ich liebte meinen Lehrer, den Herrn Lehrer Reitinger. Er lehrte uns Schreiben, Lesen, Rechnen und Heimatkunde, die wir auswendig lernen mußten. Er flößte uns wahre Liebe zu unserer Heimat ein. Wir lernten einige Gedichte und Lieder, die der Lehrer, wenn wir sie sangen, auf der »Fiedel« – wie er sagte – begleitete. Vis-à-vis der Schule stand die Kirche, eher kalt und...


Koenig, Ernest
Ernest Koenig, 1917 in Wien geboren, in Mähren aufgewachsen, studierte in Prag und Paris. 1940 wurde er von der französischen Polizei verhaftet und mit deren Hilfe 1942 nach Auschwitz deportiert. Dort überlebte er die Zwangsarbeit für die deutsche Industrie. 1947 wanderte er über London in die USA aus. Neben diversen Jobs setzte er in Abendkursen an der New School for Social Research (New York) sein Studium der Volkswirtschaft fort; 1950 schloss er mit einem M. A. ab.
1951 trat er in das US-Landwirtschaftsministerium ein, zunächst als Civil Servant im Rahmen des Marshallplan-Programms. Ab 1959 arbeitete er in Europa: als Stellvertretender Landwirtschaftsattaché in Bonn, ab 1964 bei der EWG in Brüssel und von 1974 bis 1979 bei den GATT-Verhandlungen. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Zentrale in Washington D. C. war er von 1983 bis 1987 Botschaftsrat in Paris. 1987 kehrte er endgültig in die USA zurück, wo er 2005 starb.

Benz, Wolfgang
Wolfgang Benz, 1941 in Ellwangen/Jagst geboren, Dr. phil., Historiker, war bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte und von 1990 bis 2011 Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Zudem war er Herausgeber der im Fischer Taschenbuch erschienenen Buchreihe 'Europäische Geschichte'.

Ernest KoenigErnest Koenig, 1917 in Wien geboren, in Mähren aufgewachsen, studierte in Prag und Paris. 1940 wurde er von der französischen Polizei verhaftet und mit deren Hilfe 1942 nach Auschwitz deportiert. Dort überlebte er die Zwangsarbeit für die deutsche Industrie. 1947 wanderte er über London in die USA aus. Neben diversen Jobs setzte er in Abendkursen an der New School for Social Research (New York) sein Studium der Volkswirtschaft fort; 1950 schloss er mit einem M. A. ab.
1951 trat er in das US-Landwirtschaftsministerium ein, zunächst als Civil Servant im Rahmen des Marshallplan-Programms. Ab 1959 arbeitete er in Europa: als Stellvertretender Landwirtschaftsattaché in Bonn, ab 1964 bei der EWG in Brüssel und von 1974 bis 1979 bei den GATT-Verhandlungen. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Zentrale in Washington D. C. war er von 1983 bis 1987 Botschaftsrat in Paris. 1987 kehrte er endgültig in die USA zurück, wo er 2005 starb.
Wolfgang BenzWolfgang Benz, 1941 in Ellwangen/Jagst geboren, Dr. phil., Historiker, war bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte und von 1990 bis 2011 Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Zudem war er Herausgeber der im Fischer Taschenbuch erschienenen Buchreihe 'Europäische Geschichte'.



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