E-Book, Deutsch, 450 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
Koenig Hurentochter - Die Distel von Glasgow
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-98541-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 450 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
ISBN: 978-3-492-98541-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Prolog
Glasgow, November 1859 Margery Gallaham musste so sehr lachen, dass sie Gefahr lief, sich eine Rippe in ihrem engen Korsett zu brechen. Ihr schallendes Lachen drang durch die nebligen Straßen von Glasgow und übertönte beinahe den mitternächtlichen Glockenschlag der St. Mungo’s Kathedrale. Arm in Arm taumelte sie mit Higgins, ihrem Liebhaber, die Hafenpromenade entlang. Higgins summte die Melodie aus der Oper, die sie gerade besucht hatten. Zwar ziemlich falsch, doch mit purer Begeisterung. Vor einem imaginären Publikum verbeugte er sich so tief, dass er das Gleichgewicht verlor und strauchelte. Gerade noch rechtzeitig erwischte Margery einen Teil seines Fracks, sodass ihm ein peinlicher Sturz erspart blieb. Sie kicherte, überrascht über ihre eigene Reaktion, denn sie war mindestens genauso betrunken wie er. »Bravo, bravissimo, mein Liebster. Was für ein Tenor. Lass uns gleich in die Oper zurückkehren und bekannt geben, dass wir die neue Besetzung für Alfredo Germont gefunden haben.« Higgins musste nun seinerseits lachen, bis er nach Luft schnappte und ein röchelndes Pfeifen von sich gab. »Lieber nicht, das könnte niemand ertragen. Außerdem würdest du nur eifersüchtig werden, wenn ich dann von meinen unzähligen Verehrerinnen umworben werde.« Higgins hob tänzelnd seinen Gehstock in die Höhe und wackelte mit dem Hintern. Spöttisch schnalzte Margery mit der Zunge. »Verehrerinnen, in deinem Alter! Was für ein stolzer Gockel du doch bist.« »Ich erinnere dich nur allzu gerne daran, dass ich in der Tat ein Junggeselle bin. Im Gegensatz zu dir, die einem Trunkenbold von Ehegatten entflohen ist.« Margery wollte auf den Seitenhieb etwas erwidern, doch Higgins ließ ihr keine Gelegenheit dazu und fuhr fort: »Ja, ich gebe zu, ich habe meinen Zenit längst überschritten, aber ich fühle ich mich großartig. Ich habe meine Liebste ausgeführt und werde mit ihr gleich eine schöne Nacht verbringen.« Die prüfenden Augen des erfahrenen Geschäftsmannes ruhten auf ihr. »Dir hat die Oper doch auch gefallen?« In seinem Ton lag ein Hauch von Unsicherheit. Margery seufzte und beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben. »Ganz nett, aber der Wein war mehr nach meinem Geschmack.« »Aber Liebes, das war La Traviata, die Oper des Jahrzehnts! Eine Frau deiner Profession als Hauptrolle. Das muss dich doch angesprochen haben.« »Vielleicht ein wenig. Aber ich finde, die Hure gehört ins Bett und nicht auf die Bühne oder ins Publikum. Du hast gesehen, wie die Leute tuschelnd ihre Köpfe zusammengesteckt haben, als sie uns sahen.« Higgins kräuselte seine Lippen und blähte seine Nasenflügel auf. »Bah, Hure. Was für ein groteskes Wort. Du bist schon lange keine Hure mehr. Es gibt einen Unterschied zwischen gebrauchen und begehren. Du bist eine Kurtisane, meine Geliebte! Und nur du denkst, dass du in meinen Kreisen nicht willkommen bist.« Er hob lehrerhaft den Finger. »Aber eines kann ich dir sagen, mein Mädel: Mit Geld öffnen sich alle Türen, auch für eine Hure.« Margery sagte nichts mehr. Vom Hafen blies ihr ein kalter Novemberwind ins Gesicht und erinnerte sie daran, dass der Winter Einzug gehalten hatte. Higgins blieb stehen, legte seine Arme um ihre Hüfte und küsste sie. »Ich liebe deine mandelförmigen Augen. Sie leuchten wie der Mond. Und deine Haare! Sie machen aus dir eine Löwin.« Er schnappte sich eine ihrer ergrauten Locken und umwickelte seinen Zeigefinger damit. »Ich kann mich einen glücklichen alten Mann schimpfen.« Des vielen Lobes überdrüssig, schnitt sie eine Grimasse. Was auch immer er in ihr sah, sie würde es nie verstehen. Sie kannte seine Geschichte. Als Besitzer einer Baumwollfabrik hatte Higgins vor lauter Arbeit versäumt, eine Familie zu gründen. Lange galt er als klassischer Dandy, der den Damen den Kopf verdrehte und der auf keinem gesellschaftlichen Anlass fehlen durfte. Bis er mit siebzig von all dem Rummel auf einmal genug hatte. Da stand er nun. Erfolgreich, vermögend, aber auch einsam. Dann traf er sie, eine irische Hafenhure, die vor der großen Hungersnot geflohen war. Plötzlich war er wieder zu einem verspielten Jungen geworden, der sie mit seinem Geld in die höhere Mittelschicht katapultierte, sie mit Geschenken überhäufte und wie ein Liebestrunkener von Treue sprach – was in ihrem Gewerbe natürlich unsinnig war. Higgins seufzte. »Schon gut, schon gut, ich hab’s verstanden. Das alles beeindruckt dich nicht. Niemand kann dein Herz kaufen. Nicht einmal ich.« Er schürzte die Lippen wie ein reumütiger Schuljunge, und beide prusteten erneut los. Am Ende der Promenade schnappte Margery nach seiner Hand und zog ihren Gönner zu sich. »Es wird Zeit, dass wir zur Hauptstraße gehen und uns eine Droschke nehmen. Zu dir oder zu mir?« Higgins hob die Augenbrauen. »Liebste, ich habe dir das schönste Bordell der Stadt gebaut. Dann darfst du mich darin auch ab und an verwöhnen. Findest du nicht?« »Glaube ja nicht, ich hätte dich nicht durchschaut. Willst wohl wieder, dass ich eines der Mädchen hinzuhole?« Higgins hob die Hände und schüttelte hastig den Kopf. »Ich muss doch sehr bitten. Darf ein Gentleman nicht ganz anständig nichts Unanständiges beabsichtigen?« Margery lachte über die doppelte Verneinung, und etwas kleinlaut fügte Higgins hinzu: »Na ja, ein Versuch war’s ja wert.« »Meinetwegen, dann lass uns jetzt gehen.« Sie wollte gerade die Promenade überqueren, da blieb sie abrupt stehen und deutete auf eine Treppe, die zum Clyde hinunterführte. Auf einen Schlag war sie stocknüchtern. Im fahlen Laternenlicht sah sie eine zusammengesunkene Gestalt. Ungläubig zerrte sie an Higgins’ Arm. »Da liegt eine Leiche.« Er folgte ihrem Blick und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Bestimmt nur ein Betrunkener. Damit wollen wir nichts zu schaffen haben.« Ein harter Zug erschien auf ihrem Gesicht. »Das meinst du doch nicht wirklich? Wir müssen nachsehen.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, stieg sie die Treppe hinunter, wo ihr sofort der modrige und schlammige Geruch des Clydes in die Nase stach. »Alles in Ordnung?« Keine Reaktion. Margery fühlte Unbehagen aufsteigen, wollte jetzt aber nicht mehr umkehren. Sie nahm ihren Mut zusammen und packte die Gestalt an der Schulter. »Hallo?« Blitzartig erwiderte die Person den Griff und setzte sich heftig atmend auf. Margery erschrak so sehr, dass sie einen Satz nach hinten machte und beinahe ins Wasser gefallen wäre. Sie ruderte mit den Armen, hielt sich an einem Eisenring fest und landete mit ihren Knien in einer Pfütze aus Unrat. Hinter ihr stieß Higgins hörbar die Luft aus. Er lehnte sich oben über die Brüstung und sah herab. »Dieses Kleid ist aus handgewebter Seide aus Paris!« »Higgins!« »Ich sag’s ja nur.« Margery blickte in das verängstigte Augenpaar einer jungen Frau. Flehend krallte diese sich an ihrem Arm fest. »Bitte tun Sie mir nichts. Ich habe niemandem was getan.« »Haben Sie keine Angst«, beruhigte Margery sie und hielt ihre eiskalte Hand fest. »Warum sind Sie hier draußen? Es ist viel zu kalt.« Die Antwort war nur ein unverständliches Winseln. »Wir sollten sie ins Armenhaus bringen«, murmelte Higgins, der inzwischen zu ihnen heruntergekommen war und sich theatralisch die Nase zuhielt. »Nein, nicht ins Armenhaus«, bestimmte Margery. Es gab viele düstere Geschichten über die Armenhäuser, und wenn nur die Hälfte davon stimmte, war dies der letzte Ort, den jemand aufsuchen sollte. Sie wandte sich zur Unbekannten. »Sie unterkühlen sich hier. Kommen Sie, wir bringen Sie zu mir nach Hause.« »Was?«, fragte Higgins ungläubig. »Ja, du hast richtig gehört. Vor zehn Jahren hätte ich an ihrer Stelle hier sein können. Hättest du mich ins Armenhaus gebracht?« Es wäre unklug, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Das schien auch Higgins zu wissen, denn er hielt auf der Stelle seinen Mund. Vorsichtig griffen sie der Frau unter die Achseln und zogen sie hoch. Doch schon bei der kleinsten Bewegung schrie sie vor Schmerz auf und sackte sofort wieder zusammen. »Sind Sie verletzt?«, fragte Higgins. »Es ist die Schulter«, murmelte Margery. »Sie ist ausgerenkt.« »Das ist das kleinere Übel«, stöhnte die Frau. Oje, dachte Margery. Das kleinere Übel war also, dass sie vor lauter Schmerzen nicht einmal aufrechtstehen konnte. Sie sah zu Higgins hinüber, welchem wohl das Gleiche durch den Kopf ging. »Wie lautet Ihr Name?« Die Lippen der Frau zitterten, und ihre Gefühle schienen sie zu übermannen. »Das weiß ich nicht. Alles ist fort, meine ganzen Erinnerungen.« Sie brach in Tränen aus. »Nur ruhig. Wir werden eine Lösung finden.« Sorgsam berührte Margery ihre Schulter, während sie Higgins ein Zeichen gab. Sie hievten die Frau vorsichtig hoch. Dieses Mal blieb sie auf wackeligen Beinen stehen. Beim Bordell öffnete ihnen Amber, eines ihrer umsatzstärksten Mädchen, die Tür und sah sie fragend an. »Grundgütiger, was ist passiert?« »Eine Verletzte bei den Docks. Hilf uns, sie in eines der Zimmer einzuquartieren.« Zu dritt brachten sie die Frau ins Haus. Sollten die roten Laternen und die schweren Samtvorhänge auf der Straßenseite noch nicht ausreichend für sich gesprochen haben, dann musste die Verletzte spätestens jetzt begreifen, wo sie sich befand. Der Geruch von billigem Parfüm hatte sich längst in das edle Mobiliar eingefressen und Schwaden von Zigarrenrauch hingen unter der Decke. Im Salon spielte jemand Klavier. Überall hörte man Lachen und sinnliches Seufzen. Die Verletzte hob immer wieder den Kopf und sah sich um. Mal blieb ihr Blick auf einem Aktgemälde ruhen, mal auf einer leicht bekleideten...