E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
Koenig Hurenmord - Die Rose von Whitechapel
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-98542-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
ISBN: 978-3-492-98542-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2. Kapitel
London, Juni 1888 »Fester, Mable.« »Sind Sie sicher, Madame? Ich habe Sie schon sehr stark eingeschnürt.« »Ja, Mable. Wenn es enger ist, dann habe ich weniger Luft zum Atmen, und dann weine ich nicht. Ich kann es mir nicht leisten, schon wieder in Tränen auszubrechen.« Christine nahm durch das Spiegelbild den besorgten Gesichtsausdruck ihrer Zofe wahr. Dennoch folgte Mable ihrer Anweisung und zog das Korsett so fest zu, dass Christine sich kaum aus eigener Kraft halten konnte. Als Nächstes half Mable ihr in ein Leibchen und in ihren voluminösen Unterrock. Bis hierhin war alles so wie immer. So kleidete ihre Zofe sie seit Jahren täglich an. Doch im nächsten Moment brachte Mable eine schwarze Monstrosität hervor, die alles Licht im Raum zu verschlingen drohte. Wie all ihre Haute Couture stammte auch dieses Kleid von Charles Frederick Worth, doch im Gegensatz zu ihrer restlichen Garderobe würde es ihr keine Freude bereiten. Christine schluckte und ließ sich von Mable das Trauerkostüm anlegen. Für mehrere Monate würden nun Kleider wie dieses ihre Schränke füllen. Während Mable an der langen Knopfleiste arbeitete, blickte Christine apathisch aus dem Fenster. Diese schreckliche Korrespondenz, die gemacht werden musste und Christine davon abhielt, in Ruhe zu trauern. Der Körper ihres Gatten war kaum erkaltet, da musste sie mit Henrys Kindern zusammensitzen und die Hinterlassenschaft klären. Klären? Wohl eher darüber streiten, denn insbesondere Adrian, Henrys ältester Sohn, hatte seine junge Stiefmutter nie akzeptieren können. Aus Respekt vor seinem Vater hatte er sich mit seinen Einwänden zwar stets bedeckt gehalten, aber aus seiner heimlichen Missgunst hatte er nie einen Hehl gemacht. Hätten sie damit nicht noch ein paar Tage warten können? Wenigstens bis nach der Einäscherung? Adrian hatte auf den heutigen Tag bestanden, er sei sehr beschäftigt. Wahrscheinlich aber wollte er sich einfach einer Sache vergewissern: Trauerte Christine Gillard, die nun mit dreißig Jahren zu den reichsten Frauen Londons gehörte, wirklich aufrichtig um den Verlust ihres vierzig Jahre älteren Gatten? Oder lachte sie sich heimlich ins Fäustchen, weil der alte Narr ihr, einer einstigen Hure, einen Ring an den Finger gesteckt hatte? Dieser Ring war der einzige Grund, warum sie noch hier stand. Christine hatte es schon zur Genüge miterlebt: Vermeintlich abgesicherte Kurtisanen, die nach dem Ableben ihrer Gönner von den Angehörigen aus dem Haus gezerrt und verbannt wurden. Das konnte ihr zum Glück nicht passieren. Aber sie musste auf der Hut bleiben. Sie hatte ihren Schutz verloren, war verletzlicher denn je. »Ich wünschte, ich könnte sie wieder fortschicken, diese Hyänen«, sagte Christine mehr zu sich als zu Mable. »Ich hoffe, Mr. Eaton kommt nicht auf die Idee, sie auch noch zu verköstigen. Sie sollen gleich wieder gehen, sobald wir fertig sind.« »Warum heißen Sie Mr. Eaton nicht, den Termin zu verschieben, Madame?«, fragte Mable. »Ich finde, Sie haben ein Recht darauf. Es ist noch viel zu früh, um über Geld zu sprechen. Wenn das anständige Menschen sind, würden sie so etwas nicht von Ihnen verlangen.« »Aber es sind keine anständigen Menschen. Du weißt doch, Mable, dass sie selbst Henry fremdgeworden sind. Dass sie die Kaltherzigkeit ihrer Mutter geerbt haben und dass sie unsere Heirat für sehr … unklug hielten.« Schmerzvoll erinnerte sie sich daran, wie sie damals einem Gespräch zwischen Henry und seinem Sohn gelauscht hatte. »Was hat diese Frau für einen Narren aus dir gemacht, Vater! Ein Frauenhaus für gefallenes Gesindel! Du beschmutzt das Andenken unserer Mutter!« »Ich weiß nicht, Madame«, holte Mable sie aus ihren Gedanken. Die Zofe seufzte. »Das ist alles so schrecklich. Ich wünsche mir doch nur etwas mehr Verständnis Ihnen gegenüber.« »Ich weiß dein Mitgefühl zu schätzen«, sagte Christine. Sie drehte sich zu ihrer Zofe um und sah sie mit einem müden Lächeln an. Mable Watts hatte blondergraute Locken, ein bleiches, eher langweiliges Gesicht und gütige braune Augen. Der Hausengel gehörte zu Henrys Inventar, genauso wie die Sammlung Fabergé-Eier, die Ming-Vasen oder der Caravaggio. Sie war Henry treu ergeben gewesen und ebenso jenen, die er liebte. Natürlich wollte sie Christine nur schützen und das Beste für sie. Aber das Beste für sie war nicht das Beste für ihren Ruf. »Verständnis nimmt mir die Last nicht. Verständnis lullt mich nur ein. Aber wir alle wussten, dass dieser Tag einmal kommen würde. Wir waren darauf vorbereitet.« Als man bei ihrem Mann Krebs diagnostiziert hatte, war für Christine eine Welt zusammengebrochen. Die Ärzte verordneten die haarsträubendsten Therapien, die Henry nur noch mehr erschöpften und anstrengten, als dass sie Heilung versprachen. Schließlich gaben sie ihm nur noch wenige Monate. Henry aber hatte gemerkt, wie sehr ihn seine Frau brauchte, und noch ganze zwei Jahre durchgehalten. »Wenn ich nur denke, was ich ihm alles zu verdanken habe. Vom ewigen Klassenkampf ermüdet lehnte ich mich mit meinem vollen Gewicht an ihn und ließ mich von ihm tragen. Nur dank ihm konnte ich das Frauenhaus eröffnen. Nun trage ich die Last wieder allein. Er fehlt mir so.« Ein Schluchzen verriet, dass ihre enge Schnürung nicht wirkte wie beabsichtigt. Mable unterbrach ihre Arbeit und ging um ihre Herrin herum. Voll mit Wärme und mit mehr Fürsorge, als ihre eigene Mutter je aufgebracht hatte, legte die Zofe ihre Hände an Christines Wangen und sah sie lange an. »Sie müssen diese Last nicht allein tragen, Madame. Sie haben Freunde, die Ihnen beistehen.« Christine ergriff ihre Hände und führte sie vor ihre Brust, als würde sie mit ihrer Zofe beten wollen. Im Licht der Reichen und Schönen pflegte Christine Hunderte Freundschaften, doch nur wenige von ihnen waren echt. Sie wollte etwas entgegnen, doch sie fand keine Worte. Sie wandte sich dem Spiegel zu. Eine kleine, engtaillierte Frau mit wässrigen, blauen Augen und kirschfarbenen Lippen blickte ihr verunsichert entgegen. Ihre blonden, sonst so lebendigen Locken waren zu einem streng geflochtenen Knoten gebunden und ließen ihr Gesicht blass und eingefallen wirken. Wo war diese starke Christine aus Glasgow geblieben, die sich ein halbes Leben lang hatte behaupten müssen? Die einst aus gutem Hause vor die Tür gesetzt wurde und die sich von ganz unten wieder zurück in die feine Gesellschaft hochgearbeitet hatte? Christine schüttelte den Kopf. »So kann ich unmöglich hinunter.« »Wir sind auch noch nicht fertig, Madame.« Nun nahm Mable einen Schleier aus schwarzer Spitze hervor und befestigte diesen am Haarknoten. Der dunkle Stoff legte sich über Christine wie die hereinbrechende Finsternis. Das unsichere Gesicht verschwand. »Besser so, Madame?« Christine blickte auf das schwarze Gespenst im Spiegel, dann nickte sie. »Sagen Sie Mr. Eaton, er soll die Hyänen in den Salon führen.« Kurz darauf glitt Christine die Stufen der Galerie herab. Bereits unzählige Male hatte sie Pressemitteilungen verlautbart und vor Menschenmengen gestanden, ohne Nervosität zu verspüren. Doch nun der zerrütteten Familie gegenüberzustehen, lehrte sie das Fürchten. Mit ihnen zu verhandeln, während Henry noch immer oben in seinem Schlafzimmer aufgebahrt lag, verursachte Übelkeit in ihr. Sie bildete sich ein, ihn zu hören. »Ich sehe, was ihr macht. Ich bin immer noch da.« Adrian, der neue Stammhalter, dessen schweigsame und eher zu dekorativen Zwecken anwesende Frau Meredith sowie Gordie und Michael, die jüngeren Brüder, warteten im Salon. Allesamt Männer in tadelloser Garderobe, mit edlen Gesichtszügen und blondem Haar, bei Adrian an manchen Stellen schon etwas licht. Auch Mr. Gardener, der Notar, war anwesend. »Christine, schön, dich zu sehen.« Adrian küsste sie flüchtig auf die Wange und schob ihr den Stuhl zum Tisch. Manieren hatte er, das musste sie ihm lassen, auch wenn eine Kälte von ihm ausging. Ihr Butler, Mr. Eaton, suchte ihren Blick, als wolle er sich vergewissern, dass sie mit dem Besuch allein zurechtkam. »Wünschen Sie noch etwas, Madame?« »Nein, Eaton. Sie dürfen gehen.« Sowie der Butler sich zurückgezogen und die Türen geschlossen hatte, öffnete Mr. Gardener seinen Koffer, und die Testamentseröffnung nahm ihren Lauf. »Aber sie kann doch nicht als Witwe weiterhin dieses Frauenhaus führen!«, echauffierte sich Adrian zwanzig Minuten später. »Sir, das Testament ist einwandfrei«, beteuerte Mr. Gardener. »Es war der letzte Wunsch Ihres Vaters, dass jährlich eine große Summe seines Fonds in das Renfield Eden fließt. Außerdem ließ er den Wohnsitz, auf dem wir uns befinden, auf seine Gattin überschreiben. Ebenso erhält Madame Gillard eine jährliche Rente von fünftausend Pfund. Im Gegenzug zeigt sich Madame Gillard kompromissbereit, was die Übernahme der Firma betrifft. Die steht Ihnen und Ihren Brüdern allein zu, genauso wie das gesamte Erbe und die Landhäuser. Nicht wahr, Madame Gillard?« Christine neigte den Kopf. »So wollte es Henry, und so ist es gut.« »Ich nehme an, diese jährliche Rente beschränkt sich auf die Jahre der Witwenschaft?«, hakte Adrian nach. Wie auf Kommando blickten seine Brüder zu ihr. Ihre Augen schienen sie zu durchbohren. Christine hatte den Wink durchaus verstanden. Für den Fall, sie wäre doch bloß hinter Henrys Geld her, wollte man so verhindern, dass sie sich bald mit einem neuen Ehemann vergnügte und trotzdem von Henrys Geld profitierte. Eine übliche Vorgehensweise. Entweder Geld für Einsamkeit oder Mittellosigkeit für Zweisamkeit. Aber Christine kannte das Testament und schämte sich auch nicht, dazu zu stehen. »Die Rente...