E-Book, Deutsch, Band 2, 352 Seiten
Reihe: Der Nordseehof
Kölpin Der Nordseehof - Als wir der Freiheit nahe waren
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-99694-5
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 352 Seiten
Reihe: Der Nordseehof
ISBN: 978-3-492-99694-5
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Regine Kölpin, geb. 1964 in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen). Die Autorin lebt seit ihrer Kindheit in Friesland an der Nordsee. Regine Kölpin schreibt für namhafte Verlage (mit Gitta Edelmann auch unter dem Pseudonym Felicitas Kind) Romane, Geschenkbücher und Kurztexte. Ihre Bücher waren mehrere Wochen auf der SPIEGEL- Bestsellerliste. Regine Kölpin hat einige Auszeichnungen erhalten. Unter anderem den Bronzenen Homer 2020 (mit Gitta Edelmann), den Titel Starke Frau Frieslands 2011, das Stipendium Tatort Töwerland 2010 u.v.m. Sie gehört dem PEN-Zentrum Deutschland und den Autorenvereinigungen Delia(Liebesroman) und Homer (Historischer Roman) an. Mit ihrem Mann Frank Kölpin lebt sie in einem kleinen idyllischen Dorf an der Küste. Dort konzipieren sie gemeinsam Musik- und Bühnenprojekte und genießen ihr Großfamiliendasein mit fünf erwachsenen Kindern und mehreren Enkeln oder lassen sich auf ihren Reisen mit dem Wohnmobil zu Neuem inspirieren. Mehr Infos unter: www.regine-koelpin.de
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Johanna trat aus dem großen schmiedeeisernen Tor des Nordseehofs und atmete tief durch. Es war zwar noch kühl, aber an diesem Märzmorgen schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel, die Vögel trällerten, und die Welt erwachte aus dem Winterschlaf. Erste Krokusse streckten trotz des kalten Windes ihre bunten Blüten schon recht mutig aus der Erde, und gestern hatte Johanna sogar eine Narzisse blühen gesehen. Es würden die letzten ruhigen Tage sein, denn auf dem Nordseehof, der großen Schäferei in der Nähe von Neusiel, begann bald die Lammzeit. In dieser Periode gab es kaum eine Nacht, in der Johanna und ihr Mann Eike durchschlafen konnten.
Eike, Johanna und Hauke Hillers, ihr Arbeiter, hatten schon jetzt alle Hände voll zu tun. Alle anderen Mägde und Knechte, die es früher auf dem Nordseehof gegeben hatte, waren mit der zunehmenden Technisierung nach und nach verschwunden und hatten sich woanders Arbeit suchen müssen. Viele waren bei den Olympia-Werken in Roffhausen untergekommen und standen nun am Fließband.
Johanna seufzte, denn die Arbeit wuchs ihr dennoch so manches Mal über den Kopf, vor allem, wenn die Lämmer kamen.
Bei einigen Mutterschafen mehrten sich bereits die An-
zeichen, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Sie hatten sich von den anderen Tieren, die in den Stalltrakten in zwei Gruppen frei herumliefen, abgesondert. Ihr Euter wirkte prall.
Eike hatte alle zu Schichten eingeteilt, von jetzt an war es wichtig, dass immer jemand im Stall war und die Tiere beobachtete. Auch ihre Tochter Adda musste mit ihren achtzehn Jahren ran, ebenso wie der drei Jahre ältere Uwe.
Vor allem Adda war wenig davon begeistert, ständig im Stall arbeiten zu müssen. Sie muckte zunehmend auf und träumte von einem anderen Leben als dem in Ostfriesland. Adda konnte sehr hitzig werden, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, und auch wenn Uwe sich meist zurückhielt, so wusste Johanna, dass auch er damit liebäugelte, den Nordseehof eines Tages zu verlassen. Er träumte davon, Tierarzt zu werden, doch Johanna hoffte, dass er davon absah und blieb, auch wenn es ein egoistischer Gedanke war und sie es besser wissen sollte, nach alldem, was sie selbst durchgemacht hatte. Trotzdem hatte man im Leben eben nicht immer die Wahl. Nur fiel ihr der Gedanke, dass ausgerechnet Uwe gehen könnte, besonders schwer. Sie hatte ihren Ältesten sehr an sich gebunden, ihm in seinem Leben nur wenig Leine gelassen, und so konnte sie sich kaum vorstellen, dass er einmal nicht mehr da war.
Johanna seufzte. Wie schön war es doch früher gewesen, als ihre Tochter noch mit Uwe Cowboy und Indianer gespielt hatte und sie durch den Garten gestromert waren! Alles hatte seinen geregelten Ablauf gehabt, nichts war hinterfragt worden, und keiner wollte fort. Der Nordseehof war der Mittelpunkt von allem. Ihr Zuhause.
Johanna schob die Gedanken beiseite. Sie hatte heute keine Lust, Probleme zu wälzen, während die Natur gerade aufblühte und ihre wunderbaren Farben und Düfte mit ihr teilte. Diese kurze Flucht wollte sie ein bisschen genießen.
Johanna beschloss, ein Stück zu gehen. Leise trällerte sie das Lied dieser schwedischen Gruppe, das sie kürzlich im Fernsehen gehört hatte. Ilja Richter hatte sie alle vorgestellt, aber Johanna hatte die einzelnen Namen schon wieder vergessen. Offenbar hatte die Gruppe noch keinen Bandnamen.
»People need love …«, sang Johanna leise. Wie wahr! Liebe, die brauchte jeder. Dieses einzigartige Gefühl. Einmal hatte sie davon kosten dürfen, und sie zehrte noch immer davon. Vor allem, wenn sie allein war und sich die Erinnerung gönnte. Doch meist verbot sie sich jeden Gedanken an ihre große Liebe Rolf Menzel, der nach dem Krieg als schlesischer Vertriebener auf dem Nordseehof gelebt hatte. Er war für sie verloren, denn sie hatte damals Eike geheiratet. Nicht freiwillig, es war der Wunsch ihrer Eltern gewesen. Ihr Bruder Keno war nicht aus dem Krieg zurückgekommen, und die Eltern hatten ihrem Cousin Ingo den Hof gegeben. Johanna hatte schnell unter die Haube gemusst, und da Eike der Erbe vom Nordseehof war und ihre Eltern sie gut versorgt wissen wollten, hatte Johanna keine Wahl gehabt. Aber ihr, ihr hatte es das Herz gebrochen. Sie liebte Rolf noch immer, auch wenn sie sich nach all den Jahren mit Eike arrangiert hatte. Doch dieses tiefe, einmalige Gefühl, das sie mit Rolf verband, war mit nichts vergleichbar. Johanna erinnerte sich nicht gern an die Stunden voller Schmerz, als sie dieser Liebe hatte entsagen müssen und Rolf aus Kummer fortgegangen war. Und doch waren ihre Gefühle für ihn allzeit präsent und schlummerten wie ein vergessenes Blumenbukett in ihrem Herzen.
Um trotzdem mit ihrem Leben klarzukommen, hatte Johanna einfach einen Teppich auf ihr inneres Chaos gelegt. Der Teppich hatte einen Namen: Nordseehof.
Dafür hatte sie auf Rolf und die Liebe verzichtet, und sie würde immer für die Schäferei und ihren Fortbestand kämpfen, damit das Opfer nicht umsonst gewesen war.
Johanna war allerdings froh, dass wenigstens dieses Begehren verschwunden war, das sie als junge Frau in Rolfs Arme getrieben hatte. Soweit sie wusste, war er im Ruhrgebiet noch immer im Bergbau beschäftigt, und er hatte Dagmar geheiratet. Rolf hatte sich zum letzten Mal vor sechzehn Jahren nach dem furchtbaren Grubenunglück auf der Zeche Franz Haniel bei Johanna gemeldet.
Sie erinnerte sich noch immer an den Schock, als sie im Radio davon erfuhr und sich nichts anmerken lassen durfte. Sie hätte am liebsten sofort ihre Sachen gepackt und wäre zu ihm ins Ruhrgebiet gefahren, doch das war ausgeschlossen gewesen. Deshalb hatte sie angstvoll ausgeharrt. Dann aber hatte Rolf einen Brief geschickt. Sie kannte noch immer jedes Wort, auch wenn sie den Brief vernichtet hatte – so wie fast alles, was mit Rolf zu tun hatte. Es gab lediglich zwei Fotos, die sie mal bei der Friesen-Jugend gemacht hatten. Es war schön gewesen, sich dort mit den jungen Leuten zu treffen und Spaß zu haben. Auch mit Rolf. Beide Fotos hielt Johanna gut in einer abgeschlossenen Kommodenschublade versteckt.
Jedenfalls hatte Rolf durch pures Glück überlebt, weil er als Lehrsteiger gerade zu einem Telefonat gerufen worden war. Er befand sich zur Zeit des Unglücks am anderen Ende der dreihundert Meter langen Kopfstrecke, als ihm plötzlich der Helm vom Schädel gerissen worden war und der Streb hinter ihm zusammenbrach. Alle anderen sechs Kumpel waren tot. Rolf hatte seinem Brief ein Foto von sich und seiner Angetrauten beigelegt. Bis dahin hatte Johanna von dieser Ehe nichts gewusst, aber überrascht war sie nicht gewesen, denn sie waren schon länger ein Paar.
Ich komme klar, hatte er geschrieben. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich wünsche dir alles Glück der Welt, liebe Hanna. Ich werde dich nie vergessen, aber was nicht kann sein, das nicht sein darf. Wir wussten es beide.
Rolf hatte sie immer nur Hanna gerufen, genau wie früher ihr verstorbener Bruder Keno, aber bis heute durfte niemand anderes sie so nennen. Hanna gehörte den beiden Menschen, die ihr so nah gewesen waren wie sonst keiner auf der Welt.
Trotzdem war kein Weg daran vorbeigegangen, den Kontakt abzubrechen, denn sie und Rolf standen sich nur selbst im Weg, auf einer Reise, die unterschiedlicher nicht hätte sein können.
Die erste Zeit nach der endgültigen Trennung konnte Johanna ihr Leben kaum ertragen, und sie hatte Schwierigkeiten, sich an den Gedanken zu gewöhnen, Rolf nie wiederzusehen Nie mehr seine Stimme im Ohr zu haben, nie mehr zu spüren, wie seine Lippen die ihren küssten. Nie mehr von ihm zu hören.
Aber sie hatte sich für ein anderes Leben entschieden. Deshalb hatte sie das Foto von ihm und seiner Frau zerknüllt und zusammen mit den Zeilen verbrannt. Den Anblick von ihm mit Dagmar hatte sie ohnehin kaum ertragen – und bis heute bekam sie das Bild dieser Frau nicht aus dem Kopf.
Dagmar war hübsch. Sie hatte einen merkwürdigen, aber überaus faszinierenden Blick. Ihr dunkles, fast schwarzes Haar war modisch geschnitten und kurz. Darauf hatte sie eines dieser modernen Mützchen gesetzt, über die man in Neusiel damals gelacht hätte, weil sie viel zu extravagant waren. Es sah ein bisschen aus wie die Kopfbedeckung von Rotkäppchen, aber bei Dagmar wirkte es zu dem grauen, die Figur umschmeichelnden Kostüm und den hochhackigen Pumps kein bisschen albern. Im Gegenteil, es kleidete sie ungemein. Mit ihr, Johanna, war diese kesse Frau nicht vergleichbar. Die Schäferin, die meist weite Hosen und derbe Schuhe trug, das aschblonde Haar praktisch zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Hände waren rau, von der Arbeit im Stall geprägt, die Nägel oft eingerissen. Machte Johanna sich schick, trug sie ihren knielangen Faltenrock und eine Blümchenbluse. Ihre Hüften und Oberschenkel waren kräftig, wenngleich sie nicht dick war. Trotzdem sagte man Johanna in Neusiel nach, sie sei eine schöne Frau. Wahrscheinlich galten auf dem Dorf andere Maßstäbe, denn gegen Dagmar war sie ein echter Bauerntrampel. Und das hatte sich bestimmt bis heute nicht geändert.
Sie hatte Rolf damals an die auf dem Umschlag angegebene Adresse geschrieben. Auch bei diesem Brief erinnerte sich Johanna genau an den Wortlaut. Natürlich hatte sie ihm mitgeteilt, wie froh sie war, dass er lebte. Und sich bedankt, dass er ihr Bescheid gegeben hatte. Aber es war trotzdem wichtig gewesen, an dieser Stelle einen Schlussstrich zu ziehen und ihm zu schreiben, er solle sich bitte nicht mehr melden, weil es für sie beide so besser war.
Sie waren verheiratet, und sie selbst hatte zwei Kinder. Johanna schluckte, wie immer, wenn sie in Gedanken an diesem Punkt ankam.
Ihre Tochter Adda war Rolfs Kind.
Doch sie wollte nicht, dass er davon erfuhr. Dass überhaupt jemand davon erfuhr. Nur...