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E-Book, Deutsch, Band 6474, 224 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Köhler Respekt zu diesem Deutsch!

Sprachpannen auf massiv dünnem Eis

E-Book, Deutsch, Band 6474, 224 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-78749-2
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Schonungslos, aber immer humorvoll entlarvt Peter Köhler unsere täglichen Pannen, Pleiten und Phrasendreschereien im Umgang mit der deutschen Sprache: Wir erfahren, woran wir «noch arbeiten müssen», was man «so stehen lassen» kann und wo «Luft nach oben ist». Alles klar? Kein Stress! Mit diesem Buch sind Sie «auf der sicheren Seite»!

Nur ein Druckfehler mag vorliegen, wenn die «Transsexulle Sabine / 43 J.» in einem Reklameblättchen ihre Dienste anbietet. Wenn aber Profis in der Zeitung werben: «Erfahrenes Textbüro ließt Ihre wissenschaftlichen Arbeiten», ein arbeitsuchender Lehrer via Inserat auf sein «1. Staatsegsamen» verweist und eine Gymnasiallehrerin Nachhilfe für «alle Schultüpen und Fächer» anbietet, dann kann man dafür «in keinster Weise» Verständnis haben und muss «ein Zeichen setzen». Peter Köhler «holt die Menschen da ab, wo sie stehen», zeigt, wie man das «Potenzial der deutschen Sprache voll ausschöpft» und gibt dem Leser ein ermutigendes «Da geht noch was!» mit auf den Weg.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Ja, unser Sprachgefühl wird
täglich neu verletzt,
Syntax und Formenlehr’ wird
schonungslos zerfetzt. Molière Sätze und Strukturen
O tempora, o Zores!
«Eins, zwei, drei, im Sauseschritt / läuft die Zeit, wir laufen mit», reimte Wilhelm Busch im 19. Jahrhundert. Seither hat sich das Rennen weiter beschleunigt, sodass im späten 20. Jahrhundert selbst dem Suhrkamp-Verlag schwindlig wurde und er für eine neue Karl-Kraus-Ausgabe mit dem Satz warb: «Bald nach Erscheinen der ‹Fackel› war das rote Heft sofort vergriffen.» Inzwischen kann es im Rausch der Geschwindigkeit sogar passieren, dass die Zeit sich selbst überholt und die Zukunft zur Vergangenheit wird: «In seinem Krimi spielt der Franzose Jérôme Leroy durch, wie in Frankreich die extreme Rechte an die Macht gekommen ist.» Soll heißen: Wie es gekommen ist, so kommt es, wird es kommen und wird es gekommen sein, man muss nur unter vier Alternativen die falsche wählen. So viel zu Frankreich – und Deutschland? Hier kommt im Radio die Jugend zu Wort: «Angela Merkel war schon Kanzlerin, bevor wir geboren sind.» Vollends aus dem Ruder läuft die Zeit auf dem Balkan: «Als er in Belgrad ankam, forderte er Neuwahlen und teilte mit, dass er sich erst mit der Politik beschäftigen werde, bevor er sich behandeln lasse.» Die Zeiten sind verrückt und das Tempus aus den Fugen. Klassisches Beispiel ist die Konjunktion «nachdem». Regelgerecht drückt sie das zeitliche Vorher durch das Perfekt (und folglich Präsens im Hauptsatz) oder das Plusquamperfekt (nebst logischerweise Imperfekt) aus, worauf schon vor über hundert Jahren Gustav Wustmann in seinem Buch «Allerhand Sprachdummheiten» insistierte. Wenn heute in einer Biografie des Fußballers Julius Hirsch ein Satz so anfängt: «Nachdem er aus dem Karlsruher FV ausgetreten ist», geht er also über hundert Jahre nach Wustmann wie weiter? So: «ist er in den Turnclub 03 Karlsruhe eingetreten». Anders als zu Wustmanns Zeiten weiß man heute nämlich dank Einstein & Co. um die Relativität des Tempus und kann deshalb feststellen: «Nachdem ihre Forderungen nach einem Mindestlohn unbeachtet bleiben, wandten sie sich an die hessische Justizministerin.» Schon Wustmann musste zur Kenntnis nehmen, dass «nachdem» auch kausal verwendet wird, und zitierte grummelnd Satzanfänge wie «Nachdem der Kaiser keine weitere Verwendung für seine Dienste hat» oder «Nachdem für die Anschaffung nur unbedeutende Kosten erwachsen». Auch in dem zitierten Satz über die Mindestlohnforderung kann man ein «weil» heraushören. Aber nicht allein «weil» ist durch «nachdem» ersetzbar, sondern sogar das Gegenteil, «obwohl»! Im Radio bilanziert ein Ehemann: «Nachdem wir uns oft streiten, sind wir ein Herz und eine Seele.» Und dann gibt es noch eine Grauzone, wo alles falsch ist. Die Zeitung schreibt: «Nachdem Äpfel und Birnen zu den Kernobstgewächsen zählen, sind sie relativ nah verwandt.» Sowohl «weil» wie das verwandte «indem» oder auch «insofern» passen nicht ganz. Man muss, nachdem, äh: weil der Nebensatz ein dem Hauptsatz Gleichwertiges ausdrückt, es auch syntaktisch gleichrangig sagen, am kürzesten und einfachsten so: «Als Kernobstgewächse sind Äpfel und Birnen relativ nah verwandt.» Apropos «als»: Den Zeitpunkt zu markieren, an dem zwei Handlungsstränge sich treffen, ist nicht Sache der Konjunktion «nachdem», dafür ist «als» zuständig – außer in der Presse: «Die Meute besteht aus sieben Mädchen, die aus einem Survival Camp türmen, nachdem die Lehrerin sich als verrückt erweist.» Umgekehrt steht natürlich «als» dort, wo «nachdem» stehen müsste. Über ein Länderspiel gegen Frankreich: «Als in der zweiten Hälfte Paul Pogba seine Ausputzerrolle vor der Abwehr engagierter angegangen war, lief bei den Deutschen nicht mehr viel.» Weil nachdem als obwohl stehen kann, weiß niemand, wie die Zukunft der Konjunktionen heute aussieht und – nein, noch mal: Niemand weiß heute, was morgen sein wird. Aber weiß man, was gestern war? Man sollte es, weil die Gegenwart das Resultat der Vergangenheit ist. Aber zugleich formt die Gegenwart sich ihre Vergangenheit: Völker träumen sich ihre Geschichte schön, die Mormonen taufen Tote, um deren Seelen zu retten – und im Sport werden nicht bloß aktuelle Weltranglisten geführt. Das Foto von einem Schachturnier in Frankfurt am Main 1878 zeigt angeblich den «Sieger Louis Paulsen, der zum Zeitpunkt des Frankfurter Kongresses Weltranglistenerster war» – ein echtes Kunststück, denn die von chessmetrics.com gebastelte Liste gab es damals so wenig wie den Bedarf nach solchem Quatsch. Wen schert’s? Tempus fugit, der Zeitpunkt entflieht! «Notorious B. I. G. begann ab dem zwölften Lebensjahr mit Drogenverkauf», heißt es in einer «Kriminalgeschichte der Künste», die Nachrichtenagentur weiß über ein Importverbot: «Es tritt ab dem 1. Mai in Kraft», also jeden Tag aufs Neue; und gewisse «Komiker beliefern auch den seit Ende Oktober gestarteten YouTube-Kanal Ponk», behaupten die Ernstler eines gewissen Nachrichtenmagazins: Möge der Zauber, der jedem Anfang innewohnt, nie enden. Die Zeit rast – wir rasen mit! Sich die Haare rauf!
Wirklich, wir leben in verrückten Zeiten! Nachdem das deutsche Tennis-Davis-Cup-Team in Valencia gegen das spanische gespielt hatte, resümierte die Zeitung: «Die Spanier hatten seit 1999 auf heimischem Territorium nicht mehr verloren.» Aber das Gegenteil traf zu: Sie hatten mit 3:2 gewonnen, waren nach wie vor ungeschlagen und haben seit 1999 nicht mehr zu Hause verloren. Zwei Monate später berichtete dieselbe Zeitung anlässlich des französischen Filmfestivals über Paul Newman als Regisseur: «Sein dritter Film, 1972 entstanden und im Wettbewerb von Cannes zu sehen, ist beachtlich.» Beachtlich mag er sein, aber im Wettbewerb von Cannes 1973 war er zu sehen gewesen. Filme hebeln scheinbar die Zeit aus, weshalb vielleicht auch in der Filmkritik Vergangenheit und Gegenwart durcheinandergehen wie in dieser Inhaltsangabe von «The Notebook»: «Allies wohlhabende Eltern sind gegen die Verbindung und verbieten ihrer Tochter, Noah wiederzusehen. Erst viele Jahre später kamen die Liebenden für immer zusammen.» Es geht sogar noch besser: «Vor wenigen Tagen hat der neue Imagefilm, mit dem der Verein Göttingen Tourismus für die Stadt wirbt, im Kaufpark Premiere.» Und es geht auch ohne Film: «Freitagabend war Eröffnungsparty. Angekündigt sind ein Flying Buffet, eine Rede von Olaf Scholz und», Achtung!, «ein Zeitraffer-Loop.» Mag sich der Zeitpfeil draußen in der Realität nur in eine Richtung bewegen – in der Medienwirklichkeit loopt er wie verrückt. Auch in der Russlands, wo 2017 Xenia Sobtschak gegen Putin antrat: «Sie war die Tochter des früheren Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak» – und ist es also nicht mehr! Der Epochenbruch, der gerade stattfindet, scheint sich auch in der Grammatik niederzuschlagen, im Tempus. Es beginnt eine neue Zeit – und die deutsche Sprache hält mit: Es gibt nicht mehr nur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, es braucht mehr als Präsens, Perfekt, Imperfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II. «Lawrence hatte ‹Mr. Noon› als Kurzgeschichte konzipiert gehabt», vermeldet der Journalist; und der Schriftsteller Peter Handke kann (im «Nachmittag eines Schriftstellers») das Plusplusquamperfekt ebenfalls: «Von nicht wenigen hatte er ihr ganzes Leben erfahren und schon am folgenden Tag das meiste vergessen gehabt.» Das mag ein Grenzfall sein, weil unklar ist, ob «vergessen» ein Partizip oder ein Adjektiv ist – für glasklares Denken ist Handke nicht bekannt. (Otto und Ottilie Normalverbraucher übrigens ebenso wenig. «Ich bin im Jahr soundso geboren», schreiben sie und verwandeln ein vergangenes Geschehen in eine aktuelle Eigenschaft, die sich von selbst versteht.) Besser als Handke macht es jedenfalls sein österreichischer Landsmann Michael Ziegelwagner. Korrekt durch die Form der Vorvorvergangenheit markiert er im Roman «Der aufblasbare Kaiser» die Chronologie: «Dann merkte sie, dass es ihr auf ein zweites Dankeslächeln angekommen war, wo sie doch schon das erste nicht verdient gehabt hatte.» Es geht um die berühmt-berüchtigte Consecutio Temporum, die, wie die neuen Beispiele zeigen, nicht nur praktiziert, sondern sogar ausgebaut und verfeinert werden kann. Die Zukunft hingegen, die allen Futurologen zum Tort...


Peter Köhler ist Journalist und Schriftsteller. Er schreibt unter anderem für die taz, den Eulenspiegel und die Titanic und lebt in Göttingen. Bei C.H.Beck erschienen zuletzt "Leonardos Fahrrad. Die berühmtesten Fake News von Ramses bis Trump" (2018) und "Basar der Bildungslücken. Kleines Handbuch des entbehrlichen Wissens" (2017).


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