Biographie eines Befreiten
E-Book, Deutsch, 408 Seiten
ISBN: 978-3-374-04640-9
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Köhler schreibt uns den großen Luther ins Herz, ohne den manchmal kleinlichen und irrenden zu beschönigen. Er lässt symbolträchtige, aber in ihrer Faktizität teils umstrittene Momente wie Turmerlebnis oder Thesenanschlag in ihrer Authentizität einsichtig werden. Vor allem aber zeigt er: Luther ist nicht von gestern. Er hat vor 500 Jahren Fragen aufgeworfen und beantwortet, die wir uns heute wieder stellen müssen. Lesen Sie Luther mit Köhler!
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KAPITEL NEUN
DIE ZWEI SEITEN DES GOTTESREICHS Die weltliche Gewalt soll äußerlich zürnen und den Sünden wehren, innerlich aber soll sie einen feinen, linden, sanften, christlichen, lieblichen Mut tragen.1 1. Der Narr und der Kaiser
Als Luther im Frühjahr 1521 in einem pferdegezogenen Planwagen zum Reichstag in Worms aufbrach, trug er das Brandmal des Ketzers. Sein Tod schien nur eine Frage der Zeit. Gefahrlos hätte er in Friedrichs Dachsbau sitzen und Pamphlete gegen den Papst in die Welt setzen können. Er fuhr trotzdem, auf eigenes Risiko. Jahrzehnte später meinte der alte Kaiser, er hätte sein Versprechen freien Geleits nicht einzuhalten brauchen. »Ich irrte«, sagte Karl V., »dass ich damals den Luther nicht umbrachte«.2 2. Das unerhörte Wort
Als der beklagte Mönch am nächsten Tag, dem 18. April 1521, vorgeführt wurde, bot sich dieselbe Szenerie. Wieder kicherten die Höflinge, der Klerus schüttelte das Haupt. Man übersah, dass dieser »törichte, liederliche, verrückte Mensch«, wie Aleander ihn nannte, ihnen allen etwas voraus hatte: Er konnte nicht anders, das hieß, er stand zu sich. Im Gegensatz zur Versammlung, die auch anders konnte, je nachdem, was von ihr verlangt wurde. 3. Versteckspiel mit Karl
Hätte es eines endgültigen Beweises für Friedrichs Weisheit bedurft, lieferte er ihn mit der Entführung Luthers am 4. Mai 1521. Modern gesagt, nahm er ihn in Gewahrsam. Den heillos zerstrittenen Parteien, die nur noch in extremen Kategorien von Sein oder Nichtsein dachten, bot es die ideale Lösung. Jedem war gedient: Der Mönch war in Sicherheit, die Papstkirche war ihren Todfeind und Friedrich alle los. Einschließlich seines Schützlings, den er endlich unter Kontrolle hatte. 4. Hieronymus im Gehäuse
Luther war nicht nur in seiner eigenen Geschichte, sondern auch in der Deutschlands gelandet. Seit Jahrhunderten gehörte die Wartburg zu Deutschlands mythenträchtigen Orten. Wie der nicht allzu weit entfernte Kyffhäuser, in dessen Tiefen Barbarossa darauf wartete, den Antichrist zu vernichten, so erinnerte die Wartburghöhe an den Glanz des staufischen Kaisertums, dessen Wiederkehr nicht minder sehnlich erwartet wurde. Stand der sagenhafte »Sängerkrieg« für die hochmittelalterliche Kulturblüte, deren Minnelieder im Volk unvergessen waren, so erinnerte das »Rosenwunder« der Heiligen Elisabeth daran, dass der Glaube ohne Zutun des Menschen Wunder wirkte. 5. Als Luther nicht mehr beten konnte
»Wer nichts zu tun hat«, sagte der Thüringer Pastorensohn Nietzsche, »dem macht ein Nichts zu schaffen«. Luthers Name für diese quälende Nichtigkeit, die ihn bevorzugt des Nachts heimsuchte, war der Teufel. Wie zwei Jahrzehnte zuvor in seiner Mönchszelle wurde er, sobald er die Schreibfeder niederlegte, von Anfechtungen heimgesucht. Als ein Pfarrer ihm später beichtete, Satan hätte ihm einmal zugeflüstert, »erstich dich!«, antwortete Luther, so sei es ihm auch ergangen. Wenn ich ein Messer in die Hand bekam. dann fielen genau solche Einbildungen über mich. Und auch ich vermochte nicht zu beten.30 Und es gab keinen Staupitz mehr, dem er beichten konnte. Ich sitze hier apathisch, klagte er Melanchthon, tue nichts, bete leider wenig, kümmere mich nicht um Gottes Kirche. Schon acht Tage lang, so sagte er, habe er weder geschrieben, noch gebetet, noch studiert.32 Mit dem Sturz aus der Publikumswirksamkeit schien er auch aus Gottes Gnade gefallen. 6. »Man spreche frei den Sinn heraus«
Alles geschah wie durch höhere Eingebung. Ich bin meiner nicht mächtig, schrieb er einem Freund, ich werde mit Gewalt getrieben und geführt, weiß schier nicht durch was für einen Geist.43 Er fühlte sich inspiriert wie ein alttestamentlicher Prophet. Wenn man ihm den Vergleich gestatte, bemerkte er ein andermal, so habe ich den Geist des Elias bekommen, mit Wind, Sturm und Feuer, der die Berge zerreißt und die Felsen zerschmettert.44 7. »Der Glaube will nicht an ein Werk gekettet sein«
Während sich Luthers subtile Lehre mit der Geschwindigkeit der Druckerpressen ausbreitete, begannen sich seine Anhänger deren Sinn nach eigenem Gutdünken zusammenzureimen. Vor allem die »Freiheit eines Christenmenschen«, deren Bedeutung nicht leicht zu ergründen war, verleitete zu vorschnellen, meist handgreiflichen Schlüssen: Freiheit war das, was man schon immer gewollt, nicht aber sich zu nehmen gewagt hatte. Luthers Glaube, der Freiheit schenkte, wurde im Handumdrehen zum Glauben an eine Freiheit, die es zu erkämpfen galt. 8. Georgs scharfes Mandat
Ärger kam, wieder einmal, aus Leipzig. Hatten die Wittenberger Übergriffe den Sachsenherzog voraussehbar in Wut versetzt, löste eine andere Neuerung geradezu seinen Hass aus. Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, die für jedermann die Tür zu Christus öffnete, war einfach zu gut, um sie ihm durchgehen zu lassen. Zu gut, das hieß für Georg den Bärtigen, dass der Wittenberger die steife Erhabenheit des Originaltextes respektlos durch ein rhythmisches, bilderreiches Deutsch ersetzt hatte, wie es sehr wohl überall gesprochen, nie jedoch geschrieben worden war. 9. »Unter Tausenden kaum ein rechter Christ«
Luther ging zum Gegenangriff über. Natürlich nicht mit dem Schwert, sondern mit der Feder. Die Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, mit der Luther 1523 gegen Georgs Diktat und Karls Edikt aufbegehrte, hätte ebenso gut »Von weltlicher Obrigkeit, wie weit sie Gott Gehorsam schuldig sei« heißen können. Denn darin ermahnte er nicht nur die Untertanen, sich mit Gottvertrauen in ihre Lage zu schicken, sondern zeigte auch den Landesherren die Grenzen auf, die ihrer Machtausübung durch den Glauben gezogen waren. 10. »Ein jeglicher hüte seines Stalles«
Dringend warnte Luther davor, Jesu Lehren direkt in die Wirklichkeit zu übersetzen. Mit dem Evangelium ließ sich keine Politik...