E-Book, Deutsch, Band 66, 96 Seiten
Reihe: Film-Konzepte
Köhler Andrea Arnold
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-96707-692-9
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 66, 96 Seiten
Reihe: Film-Konzepte
ISBN: 978-3-96707-692-9
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrea Arnold gilt als eine der markantesten Filmemacherinnen des britischen Gegenwartskinos. Ihr Kurzfilm "Wasp" wurde 2005 mit einem Oscar ausgezeichnet, zahlreiche ihrer Filme liefen international erfolgreich auf Festivals und wurden vielfach prämiert.
Gemeinsam ist Filmen wie "Fish Tank" (2009) oder "American Honey" (2012), dass sie zielsicher 'in die Magengegend' treffen. Sie adressieren soziale Fragen, die immer auch wehtun. So fuhren die Filme mit fast schon dokumentarischem Blick an die Ränder der Gesellschaft in heruntergekommene Sozialwohnungen, schäbige Motels, auf abgelegene Parkplätze. Meist heftet sich die Kamera an junge Frauen – zornige Teenager oder viel zu junge Mutter –, die mit Vehemenz für das einstehen, was ihnen wichtig ist. Mit ihrer offenen, mitunter improvisierten Erzählweise scheinen die Filme ähnlich 'umherzustreifen' wie ihre Figuren. Arnolds viel beschworener 'Sozialrealismus' registriert zwar präzise die Effekte des Milieus, interessiert sich jedoch mindestens ebenso sehr für die Handlungsmacht des Individuums innerhalb des sozialen Gefüges.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Einzelne Filmschauspieler, Filmregisseure, Drehbuchautoren
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Filmgeschichte
Weitere Infos & Material
Kristina Köhler Vom Umherschweifen. Zum Davonlaufen.
Sollbruchstellen in den Filmen von Andrea Arnold
Zur Einführung
Andrea Arnold gilt als eine der markantesten Filmemacherinnen des britischen Gegenwartskinos. Mit einem recht überschaubaren Œuvre von nur fünf Spiel- und drei Kurzfilmen gewann sie in kurzer Zeit einige der bedeutendsten Filmpreise. Ihr Kurzfilm WASP (UK 2003) über die junge alleinerziehende Mutter Zoë, die ihre vier Kinder notgedrungen zu einem Date mitnimmt, wurde 2005 mit dem Academy Award für den besten Kurzfilm und über 30 weiteren internationalen Filmpreisen ausgezeichnet. Mit RED ROAD (UK 2006), FISH TANK (UK 2009) und AMERICAN HONEY (USA/UK 2016) gewann Arnold bei den Filmfestspielen von Cannes. Innerhalb des Arthouse-Kinos gilt ihre Art des Filmemachens als intensiv, sinnlich und unbequem – als ein Kino, das treffsicher »auf die Magengegend« zielt und Fragen aufwirft, die immer auch ein bisschen wehtun. So führen ihre Filme häufig an die Ränder der (britischen oder US-amerikanischen) Gesellschaft – in heruntergekommene Sozialwohnungen, schäbige Motels, auf Schrottplätze oder abgelegene Parkplätze. Meist heftet sich die Kamera an junge Frauen – zornige Teenager oder junge Mütter, die in schwierigen Verhältnissen leben und kompromisslos für sich selbst, ihre Kinder oder Geschwister sorgen. Obschon Arnolds Filme an so unterschiedliche Genretraditionen wie Sozialdrama, Roadmovie, Thriller, Historienfilm und Literaturverfilmung anknüpfen, verbindet sie auf stilistischer Ebene eine deutlich erkennbare »Familienähnlichkeit«: Sie kommen mit einem Gestus des Improvisierten, Spontanen und Dokumentarischen daher, sind in der Regel vor Ort gedreht, setzen auf junge Laienschauspielerinnen in den Hauptrollen und sind über weite Strecken mit einer Handkamera gefilmt, die direkt im Geschehen und nahe bei den Figuren agiert. Zugleich erweisen sie sich als minutiös komponiert. Dies zeigt sich etwa an den fein modulierten Dramaturgien, in denen sich die Geschichten regelrecht »entfalten«, oder am wohl dosierten und punktgenau platzierten (Nicht-)Einsatz von Musik. Zwei Beschreibungskategorien tauchen in den Kritiken und Texten zu Arnolds Filmen besonders häufig auf: Da ist zum einen der Vergleich mit einer sozialrealistischen Tradition des britischen Kinos, wie sie seit den 1960er Jahren durch Filmemacher wie Alan Clarke, Ken Loach und Mike Leigh geprägt wurde. Da ist zum anderen die Einordnung ihrer Filme als feministisches Filmschaffen, das den Fokus auf heranwachsende Frauen, auf Themen wie Mutterschaft und Sexualität legt und Erzählweisen eines »female gaze« präge, wie es heißt. Beschreibungen wie diese sind zwar nicht falsch, aber dennoch scheinen sie an Arnolds Filmen auf seltsame Art abzuperlen. Das filmkritische Anliegen, Filme in größere filmhistorische oder ästhetische Kontexte einzuordnen, scheint hier auf sich selbst zurückverwiesen – auf die eigenen Begriffe, Labels, mitunter den eigenen Jargon.1 So sei symptomatisch, meint Jonathan Murray, dass Filmkritiker*innen beim Schreiben über Arnolds Filme bestimmte Zuordnungen nur in abgeschwächter oder uneigentlicher Form eingebrächten, als »social realism and, social realism but, social realism or«.2 Arnold selbst hat für solche Einordnungen wenig bis gar nichts übrig. Wird sie in Interviews darauf angesprochen, reagiert sie verwundert oder irritiert und betont, dass diese »Labels« weder für ihre Arbeitsweise noch für ihr Selbstverständnis als Filmemacherin von Bedeutung seien. Sie möchte sich als unabhängige Filmemacherin verstanden wissen, auch im emphatischen Sinne eines »independent cinema«, nicht als Teil einer ästhetischen Schule oder politischen Bewegung. »I just get on and make my films in my own way as best I can. I’m not aware that I’m joining any group«, formuliert sie.3 In Interviews, bei Preisverleihungen und Pressekonferenzen spricht sie lieber über die Arbeit am Set, als ihre Filme mit Botschaften zu versehen. Sasha Lane, Andrea Arnold und Shia LaBeouf präsentieren AMERICAN HONEY bei den 69. Filmfestspielen von Cannes im Mai 2016. Gerade weil sich die »Labels« der Filmkritik, die Haltung der Filmemacherin und ihre Filme nicht reibungslos ineinanderfügen, lohnt es sich, die darin angelegten Irritationsmomente genauer anzuschauen. Arnolds Filmschaffen zwingt uns, darüber nachzudenken, wo genau die sozialrealistischen und feministischen Kräfte des Kinos liegen und wie – mit welchen Begriffen, Denkfiguren und Ansätzen – sich diese beschreiben lassen. Natürlich sind diese Fragen keinesfalls neu, sondern wurden im Verlauf der Filmgeschichte in unterschiedlichen historischen und theoretischen Konstellationen ausgehandelt. Doch bei Andrea Arnold scheinen sie auf spezifische Weise neu akzentuiert. Dies sei im Folgenden entlang der bereits erwähnten (Theorie-)Debatten zu Arnolds »Sozialrealismus« und »Feminismus« und über einige Beobachtungen zu ihren Filmen nachgezeichnet. * 2009 kommt Arnolds zweiter Spielfilm FISH TANK in die Kinos. Der Film folgt der 15-jährigen Mia, die mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einer Wohnhausanlage in Essex lebt. Ziellos und irgendwie auch frei streift die Kamera mit Mia durch die Wohnanlage, streunt mit ihr über Brachen, Park- und Schrottplätze. Wir sind ganz nahe bei ihr, wenn sie in einer leerstehenden Wohnung Hiphop tanzt, wenn sie mit ihrer Mutter streitet oder wenn sie Connor, dem neuen Liebhaber der Mutter begegnet. Um diese Begegnung, zunächst einer von den vielen Wahrnehmungsschnipseln aus Mias Alltag, verdichtet FISH TANK im weiteren Verlauf seinen Plot. Kurz nach der Premiere des Films entfachte eine Debatte um die Frage nach der politischen, insbesondere »sozialrealistischen« Haltung des Films. Die Diskussion nahm in der Filmzeitschrift Sight & Sound ihren Ausgang, weitete sich über Leserbriefe und Entgegnungen bis in die internationale Filmkritik und in zahlreiche filmtheoretische Aufsätze aus.4 Während Befürworter*innen Arnold als »Ken Loach’s natural successor« und FISH TANK als längst überfällige Aktualisierungen der sozialrealistischen Tradition im britischen Kino beschrieben,5 hielten andere diesen Vergleich für unpassend. Kritiker*innen wandten ein, dass FISH TANK zwar auf formaler Ebene mit Stilmitteln eines cinéma vérité arbeite und seine Handlung im Milieu der Unterschicht ansiedle, das dahinterliegende Klassengefüge jedoch nicht oder zu wenig kritisch lesbar mache.6 Clive J. Nwonka beschrieb den Film gar als unpolitisch: »While the naturalistic casting, filming on location and chronological shooting might grant the film an aura of realism, its culturally verisimilar features narrative obscures the social problems the film-maker seeks to depict. In this way, the film can be interpreted as a depolitical character study devoid of its social context.«7 FISH TANK, so ein häufig geäußerter Kritikpunkt, sei zu nah dran an seiner Protagonistin, spiegle ihr individuelles Erleben, ohne ein größeres Tableau vom sozialen Gefüge zu zeichnen. Ganz offensichtlich traten in dieser Debatte nicht nur unterschiedliche Auslegungen von FISH TANK gegeneinander an, sondern auch disparate Vorstellungen davon, wie ein sozial-engagiertes Kino auszusehen habe. Dabei wurde deutlich: Wer nach einer marxistisch geprägten Gesellschaftskritik oder soziologischen Ursachenanalyse sucht, wird in FISH TANK und Arnolds anderen Filmen kaum fündig. Vieles spricht jedoch dafür, dass sich die politischen Kräfte hier auf andere Weise entfalten. So hat etwa David Forrest vorgeschlagen, Arnolds Filme über den Begriff eines »new realism« zu beschreiben – als Form eines (sozial-)realistischen Kinos, dessen politische Haltung sich über eine prononcierte phänomenologische Dimension vermittelt.8 Bei Filmen wie FISH TANK stehe eben nicht ein distanziert-analytischer Blick auf die sozialen Verhältnisse im Vordergrund, so Forrest, sondern eine sinnlich intensivierte, körperliche Erfahrbarkeit konkreter Lebenswelten. Diese neue Form von Realismus zeichne sich durch seine besondere Nähe zu einzelnen Figuren aus. Diese verweise auf die Situiertheit sozialer Umstände und adressiere, so Forrest, einen hoch involvierten Zuschaumodus.9 Soziale Themen werden dabei eng mit Fragen der Wahrnehmung verschaltet. Das zeige sich auch an dem poetischen Umgang mit vertrauten und alltäglichen Materialien, der für ein genaues Hinsehen, für Details, Zwischentöne und Ambivalenzen sensibilisiere. Es macht einen Unterschied, so vermittelt FISH TANK, wie wir auf die Welt schauen. ** Vielleicht hat die häufig missverstandene Dimension des Politischen von Arnolds Kino auch damit zu tun, dass Filme wie FISH TANK gar nicht so sehr von Verhältnissen erzählen wollen, sondern eher von Bewegungen durch sie hindurch. Mia aus FISH TANK, Zoë aus WASP und Star aus AMERICAN HONEY werden weder als Opfer- noch als Heldinnenfiguren ausgestattet; sie sind nie komplett von »den Umständen«...