Geschichten von Mut, Anfechtung und Beharrlichkeit
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-7615-6215-4
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nach eingehender Recherche und mit viel Einfühlungsvermögen in die damalige Zeit lässt Ursula Koch auf der Grundlage historischer Quellen die Frauen ihre Geschichten erzählen. Manches historische Ereignis erscheint so in neuem Licht. Zu Wort kommen Käthe Luther, Katharina Melanchthon, Anna Zwingli, Katharina Zell, Elisabeth Cruciger, Idelette Calvin, Wibrandis Rosenblatt sowie Argula von Grumbach und eine Anhängerin von Thomas Müntzer.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Kirchengeschichte
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Systematische Theologie Feministische Theologie, Gender Studies
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christliche Kirchen, Konfessionen, Denominationen Protestantismus, evangelische und protestantische Kirchen
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2 Wie es kam, dass Stumme zu reden begannen
»Der gute, der liebe Matthäus Zell! Auf Martin Bucers Rat hat er mich geheiratet. Alle Pfarrer sollten heiraten, so riet der Mönch in Wittenberg, dein lieber Herr Doktor, Lutherin. Aber dass ich, gerade ich, die Frau des ersten lutherischen Pfarrers am großen und berühmten Straßburger Münster werden sollte, das war der unerforschliche Wille Gottes. Ich war doch nur die Tochter eines Schreinermeisters, nur ein einfaches Mädchen. Ich spielte mit den anderen Kindern im Hof hinter der Werkstatt meines Vaters. Wir trugen unsere Puppen umher, windelten sie, wie wir das bei unseren Müttern gesehen hatten, und legten sie an unsere Brust. Auf einmal sagte meine Freundin Elsa: ›Du siehst ja aus wie die Gottesmutter mit ihrem Kind.‹ Oh, wie war ich stolz! Als mein Vater aus der Werkstatt trat, sprang ich ihm entgegen und rief: ›Ich bin die heilige Mutter Maria! Ihr müsst mich anbeten!‹ Da hob er die Hand und schlug mir ins Gesicht. Mein ›Kind‹ fiel in den Schmutz und ich lief weinend in die Küche zu meiner Mutter. ›Das ist eine schreckliche Sünde‹, rief sie und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. ›Du gehst noch heute Abend zur Beichte.‹ Als es dunkel wurde, schlich ich in die leere Kirche. Der Priester, der auf dem Stuhl hinter dem Gitter saß, schalt mich eine dumme Gans. Ich hätte die Gottesmutter beleidigt. Obwohl ich noch nicht zehn Jahre alt war, musste ich viele Rosenkränze beten, und er trug mir auf, dass mein Vater sich am Sonntag um einen Ablass für mich bemühen müsse, weil ich sonst ganz gewiss in die ewige Verdammnis geraten würde. Über der Kirchentür sah ich den weit aufgerissenen Rachen des Satans, der mich verschlingen wollte wie all die anderen armen Seelen, und ich rannte weinend nach Hause. Mein Vater war sehr böse auf mich – und auch auf den Priester –, weil er nun so viel schwer verdientes Geld ausgeben musste. ›Der Kirche in den Schlund werfen …‹, hörte ich ihn murmeln, denn der Ablasshandel war ihm schon längst nicht mehr geheuer. Aber was sollte er tun? Sein eigenes Kind dem ewigen Verderben ausliefern? Meine Puppe berührte ich nie mehr. Still saß ich in einer Ecke, wenn die anderen ihre ›Kinder‹ umhertrugen oder an die Brust legten. Und nachts – oh, es waren schreckliche Nächte! –, nachts stand ich am Eingang der Hölle, die Dämonen griffen nach mir und zerrten an meinen Kleidern, dass ich schreiend und schweißgebadet aufwachte. So ging das viele Jahre. Ich war ein stilles Kind und eine stille Jungfrau. Immer und überall erkannte ich meine Sünde, sah mich auf dem Weg ins Verderben und lebte in ständiger Angst vor dem Gericht Gottes. Bis ich Matthäus Zell im Pfarrhaus predigen hörte. Er war von seiner Gemeinde im Schwarzwald vertrieben worden und nach Straßburg geflüchtet. Die Menschen hielten ihn für einen Ketzer. Darum durfte er nicht im Münster Gottesdienst halten. Den Tag werde ich nie vergessen. Die Sonne leuchtete durch das Fenster des Pfarrhauses. Das Kreuz auf dem schlichten Altar stand im Licht, im himmlischen Licht, so schien es mir. Nirgendwo waren Bilder von der Hölle zu sehen. Von Gnade sprach Zell, davon, dass Gott uns erlöst habe durch das Blut seines Sohnes. Uns, die wir alle Sünder seien. Dass wir selbst die Gerechtigkeit nicht erwerben könnten, auch nicht mit guten Werken. So habe es der Mönch Martin Luther in der Bibel gelesen, und keiner der vielen gelehrten Theologen konnte ihn widerlegen. Luther habe vor Kaiser und Reichsständen zu seiner Überzeugung gestanden. Da fiel es mir wie Ketten von den Händen und Füßen. Gott erbarmt sich, wenn kein Mensch sich erbarmt! An einem Sonntag fasste ich Mut und wagte es, nach dem Gottesdienst zu Zell zu gehen. Die Knie zitterten mir und meine Stimme bebte, als ich bekannte, dass ich eine Sünderin sei. Er legte seine große Hand auf meinen Kopf und segnete mich. Da wusste ich, was das ist: Gnade! Unverdiente, geschenkte Gerechtigkeit! Und ich bat Zell um die Schriften Martin Luthers. In meiner Kammer saß ich und vergaß die Arbeit im Haus, meine Angst vor dem Gericht, den Schlund der Hölle. Als meine Mutter mich rief, stieg ich widerwillig ins Wohnzimmer hinunter und zog mich früh zurück. ›Willst du schon schlafen?‹ ›Ich bin sehr müde‹, antwortete ich. Und die Eltern machten sich wohl Sorgen. Aber meine Müdigkeit hinderte mich nicht, atemlos weiterzulesen: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jederman untertan. Diese zwei Beschluss sind klar: Sankt Paulus 1 Cor. 9. ›Ich bin frei in allen Dingen und habe mich eines jedermanns Knecht gemacht.‹ Und weiter: Zum fünften hat die Seele kein ander Ding, weder im Himmel noch auf Erden, darin sie lebe, fromm, frei und Christ sei, denn das heilig Evangelium, das Wort Gottes, von Christo gepredigt … Ich war sehr müde, und die Augen fielen mir fast zu, trotzdem nahm ich auch noch die andere Schrift in die Hand: Denn dies Wort, da Gott spricht: Seid fruchtbar und mehret euch, ist nicht ein Gebot, sondern mehr als ein Gebot, nämlich ein göttlich Werk, das zu verhindern oder zu unterlassen nicht bei uns steht, sondern es ist ebenso notwendig, wie dass ich ein Mannsbild sei, und notwendiger als Essen und Trinken, Reinigung des Leibes, Schlafen und Wachen. Es ist eine eingepflanzte Natur und Art ebenso wohl wie die Gliedmaßen, die dazu gehören. Am Sonntag brachte ich die Schriften zurück ins Pfarrhaus. Und als ich vor ihm stand, da fasste Matthäus meine beiden Hände und sah mich so freundlich an, dass mir das Herz aufging wie nie zuvor und ich kaum den Weg nach Hause fand. Wenige Wochen später kam der lutherisch gesinnte Martin Bucer mit seiner Frau Elisabeth nach Straßburg. Er forderte Zell auf, zu heiraten, damit er ein Zeichen gegen die Unmoral der römischen Kleriker setze. Da klopfte der Herr Pfarrer ans Tor unseres Hauses. Mein Vater ließ ihn ein, und sie gingen in eine Kammer und sprachen lange hinter verschlossener Tür. Schließlich riefen sie mich und fragten, ob ich denn den Matthäus Zell heiraten würde – und ich antwortete ohne Zögern: ›Ja!‹ Nach der Trauung schloss der Bischof uns vom Abendmahl aus, denn Matthäus war Priester und zur Ehelosigkeit verpflichtet. Dazu konnte ich nicht schweigen! So viele Jahre hatte er ehelos gelebt und nicht nur unter Einsamkeit gelitten. Als ich in unserer ersten Nacht bei ihm lag und er voll Verlangen und doch ein wenig hilflos seine liebe Hand nach mir ausstreckte, da begriff ich, wie wahr es ist, was Luther in seiner Predigt ›Vom ehelichen Leben‹ schrieb: Denn es ist nicht ein freies Ermessen oder Ratschluss, sondern ein notwendig, natürlich Ding, dass alles, was ein Mann ist, ein Weib haben muss, und was ein Weib ist, muss einen Mann haben. Ich schrieb dem Bischof einen Brief …« »Und du hast nie eine Antwort bekommen, nicht wahr? Das kenne ich!«, ruft die edle Frau Argula von Grumbach dazwischen. »So ist es mir mit meinen Briefen auch ergangen!« »Eine Antwort vom Bischof? Nein, natürlich nicht! Aber das Blatt, auf dem mein Brief gedruckt stand, haben sich die Frauen in Straßburg aus den Händen gerissen und lasen: Eure Töchter sollen Prophetinnen sein, sagt der Prophet Joel. Keine hat gewusst, dass solche Sätze in der Bibel stehen! Doch hört, wie es weiterging: Als der Rat der Stadt gegen den Willen des Bischofs das Kirchenregiment übernahm, durfte Zell im Münster predigen. Brave Handwerker bauten ihm eine hölzerne Kanzel, die wurde im Gang des Kirchenschiffs hin und her geschoben, denn die Domherren verboten ihm, auf ›ihre‹ Kanzel zu steigen. Tausende strömten herein aus den Gassen und von den Plätzen: Handwerker, Ratsherren, Adlige. Ich stand mitten in dem Gewühl, und ich war stolz auf ihn, meinen Matthäus!« »Aber deine Predigt! Erzähle, wie du gepredigt hast!«, drängt Elisabeth. Einen Augenblick muss Katharina Zell sich besinnen. Zu viele, zu mächtige und bewegende Erinnerungen drängen auf sie ein. Dann richtet sie sich auf. »Ja, meine Schwestern, ich habe gepredigt, dies eine Mal, aber nicht von der Kanzel. Als ich an...