Knor DSA 85: Roter Fluss
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86889-887-3
Verlag: Ulisses Medien und Spiel Distribution GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Schwarze Auge Roman Nr. 85
E-Book, Deutsch, Band 85, 368 Seiten
Reihe: Das Schwarze Auge
ISBN: 978-3-86889-887-3
Verlag: Ulisses Medien und Spiel Distribution GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Daniela Knor wurde am 30.10.1972 in Mainz geboren. Zunächst studierte sie Anglistik, Ethnologie und Vor- und Frühgeschichte, wechselte dann aber zu Geschichte, Neuerer deutscher Literaturwissenschaft und Psychologie. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie einen biologisch bewirtschafteten Obstbaubetrieb gepachtet und lebt nun in Würzburg. Sie ist hauptberuflich Schriftstellerin geworden und in insbesondere für ihre Fantasy- und historischen Romane bekannt.
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Prolog
Bodirtal, 35 Meilen südwestlich von Myrburg [ab 805 BF Phexcaer], 578 BF
Schwerelos schwebte ein Sturmfalke am wolkenlosen Himmel über dem weiten Tal. Tief unter ihm schlängelte sich der Fluss wie ein schimmerndes Band durch Auen und in herbstlicher Farbenpracht leuchtende Haine. Bewaldete Hänge strebten in der Ferne schneebedeckten Gipfeln entgegen. Unter den schräg einfallenden Strahlen der Nachmittagssonne warfen die Bäume lange Schatten, in denen der Raubvogel eine Bewegung erspähte. Den warmen Aufwinden zum Trotz segelte er in einem mühelosen Bogen hinab, um seine Kreise niedriger über dem bunten Laub zu ziehen.
Unter seinem scharfen Blick sprang ein Junge zwischen den Stämmen hervor, stolperte, fiel der Länge nach ins Gras, wälzte sich auf den Rücken und blieb lachend liegen.
Welke Stängel mischten sich in die rötlich blonden Haare, aber das beachtete Hjalgar Herjulfsson genauso wenig wie den Falken, der als schwarzer Umriss hoch über ihm dahinglitt. Für einen Zwölfjährigen war der Junge ungewöhnlich groß und breitschultrig, und dies galt ebenso für das gleichaltrige Mädchen, das sich triumphierend über ihm aufbaute.
»Ha, ich hab‘ doch gleich gesagt, dass ich gewinne!«, prahlte Jorun grinsend, bevor sie mit wehenden roten Locken über ihren Freund hinwegsetzte.
Blitzschnell griff Hjalgar nach oben und packte ihren Knöchel. Mit einem atemlosen Japser landete auch Jorun auf der mit gelbem Laub gesprenkelten Wiese.
»Denkste!«, tönte Hjalgar fröhlich, während beide sich aufrappelten, um ihr Wettrennen fortzusetzen.
»Na, warte!«, drohte das Mädchen lachend und stob hinter ihm her. »Du arbeitest mit fiesen Tricks!«
»Lauft nicht zu weit weg, Kinder!«, rief Hjalgars Mutter ihnen nach, doch das überhörten die beiden Wildfänge in ihrem Eifer.
Die rundliche Thorwalerin konnte nur den Kopf schütteln, aber sie lächelte dabei. Sie schaffte es nie, ihrem Sohn ernsthaft böse zu sein. Zu sehr erinnerten seine verschmitzten blauen Augen sie an ihren Mann Herjulf, der so jung bei Swafnir auf See geblieben war. Nicht einmal Laske, Herjulfs Bruder, sah dem Verstorbenen so ähnlich wie der kleine Hjalgar.
»Ich weiß noch, wie du und Herjulf damals auf unserem Hof miteinander herumgetobt seid«, behauptete Laske und stellte seine schwere Kiepe neben den Haselsträuchern ab. »Mein Bruder hat es scheinbar gar nicht nötig, dass wir sein Andenken in Liedern über seine Taten bewahren. Er lebt einfach in seinem Jungen weiter.«
Seine Schwägerin blinzelte die Tränen weg, die bei dieser Vorstellung in ihr aufstiegen. Noch immer erinnerte sie sich gut an den Tag, als der große Mann mit betretener Miene zu ihr gekommen war, um ihr von Herjulfs Tod zu berichten. Sie wusste, dass Laske insgeheim mit dem Schicksal haderte, weil der Sturm nicht ihn, sondern den jüngeren Bruder von Bord gespült und in das kalte Wellengrab gerissen hatte. Aber die unergründlichen Mächte, die die Geschicke der Menschen lenkten, nahmen auf solche Gefühle keine Rücksicht, und so galt es, das Leben anzunehmen, wie es kam.
Frenja verscheuchte die düsteren Gedanken, während sie ihre unter der Last knarzende Trage neben Laskes stellte. Die Kinder hatten sich ihren Spaß redlich verdient, nachdem sie stundenlang fleißig Nüsse aufgesammelt und von den Zweigen gepflückt hatten. Nicht wenige waren dabei auch in ihre nimmersatten Mägen gewandert, aber die beiden durften sich dennoch rühmen, einen stattlichen Beitrag zu den Wintervorräten der Sippe geleistet zu haben.
Hjalgar hatte seine Mutter und seinen Onkel, die sich daran machten, ihre Kiepen zur Gänze zu füllen, bereits vergessen. Eifrig bahnte er sich seinen Weg durch die das Ufer überwuchernden Kräuter, von denen ihn einige sogar überragten, und stürmte der alten Esche entgegen, die Jorun zum Ziel des Wettlaufs bestimmt hatte. Mit empörtem Quäken flatterte eine Entenfamilie vor ihm auf den sicheren Fluss hinaus, aber der Junge ließ sich davon nicht ablenken. Seine ausgestreckte Hand berührte die rissige Rinde nur einen Wimpernschlag vor den Fingern seiner Freundin.
»Erster«, stieß er außer Puste hervor.
»Du hast geschummelt«, beschwerte sich Jorun schnaufend.
»Nur ein bisschen«, verteidigte sich Hjalgar schelmisch. Für mehr fehlte ihm noch immer die Luft. Jorun setzte sich zwischen den Wurzeln der Esche nieder, um wieder zu Atem zu kommen, und ihr Freund folgte nur zu gern ihrem Beispiel. An den Stamm des mächtigen Baumes gelehnt verloren sie sich eine Weile im Anblick des vermeintlich ruhig dahinfließenden Wassers, das in Wahrheit aus unzähligen, kleinen Wirbeln und Wogen immer neue Muster entstehen ließ.
»Aigur hat gesagt, wenn er die Ottajara abgelegt hat, will er mit mir unter die Birkenzweige gehen«, platzte das Mädchen plötzlich heraus.
Hjalgar verschlug es vor Überraschung die Sprache. Im Langhaus seiner Familie schliefen alle, Knechte und Mägde, Kinder und Greise, Bauer und Bäuerin im selben Raum. Er ahnte, was junge Paare taten, wenn sie sich im Frühling in einen Birkenhain begaben. Aber das gehörte zu den Geheimnissen der Erwachsenen, mit denen er noch nichts zu tun hatte. Schon dass Jorun es erwähnte, war ihm furchtbar peinlich. Die Worte des drei Jahre älteren Jungen ärgerten ihn deshalb doppelt.
Aigur weiß ganz genau, dass Jorun meine Freundin ist, dachte er zornig. Immer will er alles haben, was mir gehört.
Ein Teil von ihm nahm immer noch wahr, dass Jorun weitergesprochen hatte, doch die Bedeutung ihrer Sätze drang nicht in sein Bewusstsein vor. Die Laute verhallten, wurden von dem rötlichen Schleier verschluckt, der sich vor seinen Augen über die Welt legte. Mit einem Mal nahm der Fluss die Farbe von Rost an, als hätten die Herbststürme bereits den Staub der Orkschädelsteppe hineingewaschen.
»Hjalgar?«
Ein Schauder lief ihm über den Rücken und er schüttelte sich, während sich sein Blick wieder klärte.
»Hjalgar!«, wiederholte das Mädchen verwirrt und enttäuscht.
»Was hast du gesagt?«, erkundigte sich der Junge benommen.
Jorun verdrehte die Augen. »Ich will lieber mit dir unter die Birkenzweige gehen, wenn ich groß bin«, erklärte sie ungeduldig.
»Oh«, machte Hjalgar nur und nickte verlegen. Das Mädchen schien damit zufrieden zu sein.
»Aigur ist ganz schön sauer deswegen«, eröffnete sie ihm lächelnd. »Er will dich verprügeln, wenn wir nach Hause kommen.«
»Pah, der macht sich bestimmt jetzt schon die Hosen voll«, höhnte Hjalgar wie ein alter Haudegen.
Er war erleichtert, sich dem Thema wieder gewachsen zu fühlen, doch seine gute Laune hatte sich vollends verflüchtigt. Es erfüllte ihn zwar mit Stolz, dass Jorun sich schließlich für ihn entschieden hatte, obwohl Aigur ein Enkel des Sippenoberhauptes war und eines Tages vielleicht sogar die Familie anführen würde. Dennoch nahm er die angedrohte Schlägerei mit dem älteren Jungen bei weitem nicht so auf die leichte Schulter, wie er das seine Freundin glauben ließ. Für Jorun dagegen war die Welt wieder in Ordnung, nachdem sie Hjalgar ihr belastendes Geheimnis erzählt hatte. Sie sprang auf und sprühte vor Tatendrang.
»Komm, lass uns etwas spielen!«, schlug sie vor, mit den Augen bereits nach dem passenden Platz für ein aufregendes Abenteuer suchend.
Während ihr Freund ohne rechte Begeisterung aufstand, steuerte sie auf einen von Brombeerranken eingewachsenen, umgestürzten Baumstamm zu.
»Das ist der Verteidigungswall um mein Dorf«, beschloss sie. »Und du bist der böse Ork, der uns angreift.«
Hjalgar runzelte die Stirn.
»Warum muss eigentlich immer...




