E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Knoll Lektionen in Dunkler Materie
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99065-073-8
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-99065-073-8
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ursula Knoll, 1981 in Wien geboren. Studium der Germanistik, Judaistik und Romanistik in Wien, Bishkek, Washington DC und Prag. Ausbildung zur Dramatikerin am Burgtheater Wien und bei den wiener wortstaetten. Literaturwissenschaftliche Promotion über NS-Täter*innenschaft. 2009 Thomas-Bernhard-Stipendium für Dramatisches Schreiben. 2010 Raul-Hilberg-PhD-Stipendium. 2021 Stipendiatin beim kollaborativen Dramatiker*innen-Programm Tour des Textes. Ihr Roman »Lektionen in Dunkler Materie« wurde mit dem Bloggerpreis Das Debüt 2022 ausgezeichnet.
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GEIGERZÄHLER
Kevin, Lorin und Mike haben sich über Wien gelegt, Ortwin kündigt sich an. Sie unterscheiden sich kaum in ihrer Penetranz, über Mitteleuropa hat sich ein sommerliches Hochdrucksystem festgesetzt, das die Stadt zum Kochen bringt.
Die ausschließlich männlichen oder weiblichen Namen der Hochs eines Jahres können im Herbst des Vorjahres beantragt werden, die Patenschaften gehen weg wie warme Semmeln. Jeden Tag beantwortet die Mitarbeiterin am Meteorologischen Institut am Carl-Heinrich-Becker-Weg in Berlin freundlich weitere Anfragen mit dem Verweis, sich doch auf die Warteliste für das übernächste Jahr setzen zu lassen. Sie könne sich das große Interesse auch kaum erklären, ein paar der Tiefs hingegen seien noch offen, nach Nadine, Oriana, Pamela und Roswitha zum Beispiel, in diesem Fall natürlich dann weiblich, ob das etwas ausmache? Allerdings baue sich der Temperaturüberschuss nur langsam ab, das Wetter sei mit durchschnittlich 4,8 Grad zu warm, auch hier sei die Warteliste ratsam.
Es fehlt an Niederschlag, die Felder liegen gelblichbraun in der Landschaft, im Radio wird über die Ernteausfälle diskutiert. Ein Jungbauer tippt auf das Display, gleichmäßiger Technobeat ersetzt die aufgeregten Stimmen und lässt die Scheiben leicht vibrieren. Er ist mit seinen Gedanken ganz woanders, im Rückspiegel verschwindet die Ortschaft Gols im aufgewirbelten Staub. Sein vollklimatisierter Traktor schneidet Schneisen in das vertrocknete Maisfeld, ein paar Rehe springen aufgescheucht hoch.
Vor dem Serralves-Museum in Porto steht ein Rettungswagen mit Blaulicht. Zwei Sanitäterinnen laufen mit einer Trage durch die Ausstellungsräume. Eine junge Frau, die die Aufsicht hat, zeigt ihnen den Weg. Man weiß nicht, warum der Mann die Warnschilder nicht ernst genommen hat, sagt sie hastig. So etwas sei noch nicht vorgekommen. Drei Kollegen von der Feuerwehr hätten sich schon in das zwei Meter vierzig tiefe Loch der Installation abgeseilt, es sei also alles zur Bergung bereit. Der Besucher sei anscheinend davon ausgegangen, dass es sich um eine optische Täuschung handle. Er habe sich in die Mitte des Betonkubus stellen wollen und ist dann in das Loch gefallen. heißt die Installation. Die Aufseherin lacht. Er ist wirklich reingefallen. Sie entschuldigt sich, sie habe nicht lachen wollen. Aber der Sommerjob sei sonst wirklich so was von öde.
Einige Tage später stürzen Lastwägen, Autos und Menschen mit einem Stück Brücke in Genua in den Abgrund, Verantwortliche der Autobahngesellschaft sind nicht erreichbar.
Es ist Urlaubszeit.
Auf dem Bildschirm blinkt es. Eine neue Nachricht. Ines Geiger sieht auf die Uhr, drei Minuten nach neun, der Arbeitstag hat es heute eilig. Sie öffnet das Programm, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sie sieht auf den Absender. Beginnt Wolfgang so förmlich, kann man davon ausgehen, dass wieder etwas vorgefallen ist. Sie überfliegt den Text, Rückführung nach Kabul ist fett markiert, der darauffolgende Nebensatz ebenso, obwohl es sich bei der betreffenden Person um eine tschetschenische Staatsbürgerin handelt. Es folgt ein längerer Absatz, in denen die Wörter faktentreu und unvoreingenommen hervorgehoben sind. Schreiben Sie die Bescheide ordentlich, kontrollieren Sie die Angaben sorgfältigst, wenn Sie Textbausteine aus vorhandenen Bescheiden kopieren. Ein Rufzeichen. Geiger scrollt zum Ende der E-Mail, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ergreift behördeninterne Maßnahmen, dies sei also eine offizielle Erinnerung an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, über weitere Maßnahmen werde die Belegschaft zeitgerecht informiert werden, weitere Maßnahmen ist unterstrichen, der Vorgesetzte verbleibe mit lieben Grüßen. Sie schließt das E-Mail und schiebt es in den Ordner Interne Kommunikation.
Ein feindlich blauer Himmel wirft vor dem Fenster eine Handvoll weißer Wolken in Richtung Tangente. Das Thermometer am Fensterrahmen zeigt achtundzwanzig Grad, bis zum Nachmittag wird es sich wieder aufgeheizt haben. Geiger steht auf, geht zum Thermostatregler, der zwischen Regal und Türrahmen befestigt ist, und stellt die Klimaanlage auf die höchste Stufe. Auf der großen Kreuzung flimmert die heiße Luft. Ein Radbote steht verloren auf der dreispurigen Straße, wischt sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Er starrt auf sein Smartphone, sucht mit dem Blick die Häuserzeilen links und rechts der großen Kreuzung ab. Ein Sattelschlepper nähert sich ihm hupend von hinten, der Radbote schreckt auf, sieht auf die Ampel, tritt in die Pedale, biegt in die große Ausfallstraße nach rechts. Er wird vom hinteren dritten Wiener Gemeindebezirk mit seinen menschenleeren Betonfluchten verschluckt.
Geiger setzt sich hin und öffnet den Posteingang. Eine Reihe von E-Mails poppt auf, gibt ihr den heutigen Tagesrhythmus vor. Sie überfliegt die Betreffzeilen, kann sich nicht entscheiden, mit welcher Nachricht sie beginnen soll. Im Aktenordner neben dem Computer liegt das Protokoll von gestern ausgedruckt. Warum nicht mit dem Ausstellen dieses Bescheides anfangen? Der Fall stellt keine großen Anforderungen, siebzehn Seiten menschliches Elend, zwei Überstunden, die ihr jetzt nachhängen.
Dieses alles durchdringende Parfüm der Antragstellerin im Interviewzimmer. Dass Menschen nicht verstehen, dass die Hitze Gerüche bis zur Unerträglichkeit verstärkt. Ein schwerer, blumiger Geruch, der die Traurigkeit, die diese Frau ausstrahlt, seltsam umspielt.
Persönliche Umstände, Reise nach Österreich, Gründe für die Flucht. Die Dolmetscherin ist routiniert und kennt den Ablauf. Die Antragstellerin redet monoton, ihre Geschichten wirken länger, als die deutsche Wiedergabe vermuten lässt. Die Dolmetscherin hört zu, kritzelt einzelne Wörter auf ihren Block, wiederholt das Geschilderte trocken und kompakt.
Geiger mag diese Frau mit den schmalen Händen und der tiefen Stimme. Von den unzähligen Dolmetscherinnen und Dolmetschern, die sich pünktlich zu den Vernehmungen einfinden, ist diese hier eine der unaufdringlichsten. In den Pausen steht sie mit all den anderen beim Kaffeeautomaten, meist in kleinen Gruppen nach Kontinenten zusammengewürfelt. Ein Sprachengewirr, sie tuscheln, von einer Sprache in die andere rollt die Unterhaltung. Wenn Geiger vorbeigeht, um zum Klo zu gelangen, wird es oft auffällig still. Schließt sie die Klotür hinter sich, schwillt das Gemurmel wieder an. Hoffnungslos verbissen wirken die meisten. Als wäre die Überzeugung, es gäbe etwas zu retten, das, was sie in diesen schäbigen Linoleumgängen aufrecht halten würde. Auch ohne die jeweiligen Sprachen zu verstehen sind ihre Strategien durchsichtig: Auslassungen, Verallgemeinerungen, Übertreibungen. Jedes Detail muss man genau nachfragen, um die Widersprüche herauszuarbeiten und sich nicht in diesen Fallstricken zu verlieren.
Was also genau die Probleme mit der Schwiegermutter wären, insistiert Geiger. Der blumige Geruch drückt auf den Magen.
»In ganz Afghanistan sind Schwiegermütter komisch zu ihren Schwiegertöchtern«, sagt die Dolmetscherin. Die Antragstellerin ergänzt etwas, Vorschriften, Einmischungen, dann schweigen beide.
Geiger steht auf und öffnet das Fenster. Warme, staubige Luft dringt ein, sie schließt es wieder. »Wie man vielleicht aus der eigenen Erfahrung sagen kann, dürfte so ein Verhalten weltweit bei Schwiegermüttern so sein. Das ist noch lange kein Grund, sich in Lebensgefahr zu wähnen«, sagt sie, während sie sich zu den beiden Frauen zurück an den Tisch setzt.
Die Antragstellerin blickt erstaunt auf, die Dolmetscherin atmet hörbar laut durch, ihre Augenbrauen zucken. Also ist sie doch eine von den Verbissenen.
Wie die Gewalt des Ehemanns nun konkret in ihren Alltag und ihre persönliche Sicherheit eingegriffen hätte, fährt Geiger mit der Befragung fort. Man muss die Geschwindigkeit hoch halten.
Die Antragstellerin spricht abgehakt, Weinen unterbricht ihre Schilderungen, ihre Hände zittern. Die Dolmetscherin berührt sie sanft an der Schulter, die Antragstellerin deutet auf Körperstellen, verstummt.
Geiger tippt die Aussagen ins Protokoll, vervollständigt die Satzrümpfe zu einem halbwegs flüssigen Text, liest die Aussagen nochmals durch. »Es ist unglaubwürdig«, sagt sie, »dass Ihr drogensüchtiger Mann es bei Tritten und Schlägen belassen hat, statt, wie zu erwarten, wäre voller Ekstase die Gelegenheit zu nutzen, Sie zu vergewaltigen.«
Die Antragstellerin blickt die Dolmetscherin an, diese schweigt.
Geiger sieht von ihrem Protokoll hoch, fordert die Dolmetscherin auf, die Frage zu übersetzen. Diese schüttelt bestimmt den Kopf, das sei keine Frage. Die Antragstellerin wendet sich an die Dolmetscherin, diese beruhigt sie. Geiger fordert die Dolmetscherin erneut auf, die Frage weiterzugeben. Wieder schüttelt die Frau mit den zarten Händen energisch den Kopf.
»Sie werden...