E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Knösel Panic Hotel
Originalausgabe 2020
ISBN: 978-3-407-75830-9
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Letzte Zuflucht
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-407-75830-9
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephan Knösel hat als Drehbuchautor an fünf Fernsehfilmen und über achthundert Serienepisoden mitgewirkt. Er lebt und arbeitet in München. Für sein Debüt 'Echte Cowboys' wurde er u. a. mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet; sein Roman 'Jackpot - wer träumt, verliert' war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
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1
Dies war der erste Tag vom Rest ihres Lebens. Für sie alle hier im Fahrzeug. Es war halb Panzer, halb SUV, mattschwarz, geländetauglich. Janja saß direkt hinter dem Fahrer. Das Fenster neben ihr war verdunkelt. Trotzdem schloss sie automatisch die Augen, so grell war der Lichtblitz am Horizont. Er brannte sich wie ein gleißendes Tattoo in ihr Blickfeld ein. Sogar mit geschlossenen Augen sah sie die Umrisse dieser gigantischen Feuerfontäne noch minutenlang vor sich.
Der Sprengsatz war in der Luft und nicht am Boden explodiert. Es war eigentlich unmöglich, dass sie das tatsächlich gesehen hatte. Aber sie war sich ganz sicher. In den Unterweisungen der letzten Monate hatte es geheißen, dass durch eine Explosion knapp über dem Zielort eine größere Zerstörung erreicht werden könne. Und der nächste Sprengsatz konnte direkt vor ihnen, neben ihnen, über ihnen einschlagen. Jederzeit.
Es war wie ein Albtraum – doch es passierte wirklich, selbst wenn es immer noch unvorstellbar war. Der Krieg hatte Europa erreicht. Wie ein gigantischer Waldbrand hatte er sich vom Nahen Osten aus von Land zu Land gefressen und die Weltmeere übersprungen – alles innerhalb weniger Stunden.
Theissen – Janjas Dienstherr, der neben seiner Frau direkt hinter dem Beifahrersitz saß – hatte gesagt, dass dieser Krieg in ein, zwei Stunden schon wieder zu Ende wäre. Aber Janja spürte, dieses Ende würde sich bis in die Ewigkeit ziehen. Wenn sie es überhaupt noch rechtzeitig in den Bunker schafften!
Gerade hatten sie das gelbe Ortsschild am Straßenrand hinter sich gelassen, auf dem Frankfurt rot durchgestrichen war. Doch bis zum Hotel waren es noch gut zehn Kilometer.
Hotel war nicht der offizielle Name des Bunkers. Er hatte keinen Namen. Aber der Bunker war hinter dem Le Grand in den Berg gebaut worden und ähnelte selber einem Hotel. Das war Absicht. Die zukünftigen Bewohner – wie die Theissens – gehörten zu den reichsten Menschen Deutschlands. Weil diese Menschen den Bunker finanziert hatten, nannte man sie die Gründer. Der Aufenthalt kostete pro Person eine zweistellige Millionensumme.
Mehr wusste Janja nicht darüber – nur, dass die Gründer sich dort wohlfühlen sollten wie in einem Luxushotel, und das die nächsten dreißig Jahre lang, mindestens. Das war den Theissens garantiert worden.
Garantiert! In Zeiten wie diesen war das irgendwie lachhaft, fand Janja. Aber das behielt sie für sich. Mit den Theissens sprach sie nur, wenn sie dazu aufgefordert oder etwas gefragt wurde. Das hatte ihre Mutter ihr eingebläut.
»Hat Vanessa dir geschrieben?«, fragte Theissen seine Frau.
Sie musterte ihre fein manikürten Finger. »Nein.« Ein kleiner roter Nagellacktupfer hatte sich an dem seidenen Stoff ihres Ärmels festgesaugt.
»Schau noch mal nach.« Theissen warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die wesentlich teurer war, als es den Anschein hatte.
Seine Frau holte einen Schminkspiegel aus ihrer Handtasche. Ihr Haar war makellos und voll, obwohl sie schon fast fünfzig war, auch ihr Make-up war perfekt. Allerdings schien sie nicht zufrieden damit. »Ich habe auf Vibration gestellt.«
»Trotzdem!«, sagte Theissen. Auch ihm merkte man sein Alter erst an, wenn man genauer hinschaute. Dann sah man, dass die Falten in seinem Gesicht keine Striche mehr waren, sondern kleine Kerben. Und sich ein Doppelkinn bildete, wenn er im Sitzen den Blick senkte.
Vanessa war die Tochter der Theissens. Sie war nur ein Jahr älter als Janja, doch Welten trennten sie. Vanessa hatte die Ausgangssperre missachtet und sich letzte Nacht mit Freunden getroffen, um ihr Abitur nachzufeiern. Das hatte auf dem digitalen Message Board im Eingangsbereich gestanden – und darunter: Ihr hättet es mir nicht erlaubt, wenn ich gefragt hätte.
Vanessa! Janja wusste nicht, ob sie froh war oder entsetzt, dass sie nicht mit ihnen in diesem Panzerfahrzeug saß. Sie betrachtete den Sonnenaufgang im Rückspiegel auf der Fahrerseite. Tränen stiegen in ihr hoch. Es würde der letzte Sonnenaufgang ihres Lebens sein.
Janjas Blick traf den des uniformierten Fahrers im Rückspiegel. Seine Ärmel waren exakt über die Ellbogen gekrempelt. Eine bleistiftdicke Narbe lugte weiß glänzend am Hals aus seinem Hemd. Auch sein muskulöser rechter Unterarm hatte eine Narbe. Diese war kraterförmig und stach noch mehr hervor, weil seine dunkel behaarte Haut an dieser Stelle wie rasiert wirkte.
Der Mann schaute sie an, als könne er ihre Gedanken lesen. Er lächelte nicht tröstend oder nickte ihr aufmunternd zu. Er spielte das, was gerade passierte, nicht herunter. Janja war dankbar dafür. Ein Wort der Verharmlosung, und sie wäre ausgeflippt. Dass sie so ruhig dasitzen konnte, wunderte sie selber. Es musste der Schock sein, die Überforderung, die Fassungslosigkeit.
Der Fahrer war vielleicht zwanzig, gar nicht viel älter als sie. Wie alle Wachen war er vorher Soldat gewesen. Er hatte mit Böhn, dem Chef des Wachkontingents, der vorne auf dem Beifahrersitz saß, an der türkischen Außengrenze zum Nahen Osten gekämpft.
Jetzt drehte Böhn sich zu ihnen um. »Alles in Ordnung da hinten?«
Janja hätte fast aufgelacht, weil es eine so normale Frage war. Auch der Fahrer verkniff sich ein freudloses Lächeln – so als könnte er tatsächlich ihre Gedanken lesen. Dann riss er das Lenkrad des Humvees nach rechts und sein Gesicht verschwand aus dem Rückspiegel, ebenso der Sonnenaufgang. Doch Janja erkannte noch das aufgenähte Namensschild über der linken Brusttasche seiner schwarzen Uniform:
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»Meine Tochter – wir erreichen sie einfach nicht!«, sagte Theissen. Er nahm die rötlich braune Hornbrille ab und rieb sich die Augen.
»Sie hat ja nicht auf uns hören wollen«, sagte seine Frau. Es war ein unnötiger Kommentar, aber die Beziehung von Frau Theissen und ihrer Tochter war schwierig.
Auch Eryka, Janjas Mutter, war eher eine kühle Frau. Entsprechend pragmatisch war der Abschied gewesen heute im Morgengrauen, es musste ja schnell gehen. Eryka war mit dem restlichen Dienstpersonal in der Villa zurückgeblieben. Sie hatte ihren Platz im Bunker Janja überlassen. Wie sie die Theissens dazu gebracht hatte, zuzustimmen, war Janja ein Rätsel. Sie hatte wiederholt gefragt, und ihre Mutter hatte nie darauf geantwortet – und das, ohne ihrem forschenden Blick dabei auszuweichen.
Böhn wandte sich jetzt wieder seinem Fahrer zu. Vermutlich wollte er nicht in die Familienangelegenheiten der Theissens hineingezogen werden. Er fuhr sich mit einer Hand über den nicht ganz kahl rasierten Kopf. Ein paar Haarstoppeln glänzten silbern im Sonnenlicht. Böhns Frisur verbarg nur halb eine beginnende Glatze, die ihm aber gut stand.
Der Humvee bretterte nun zwischen zwei Grundstücken hindurch, wo die Häuser kaum noch Fensterscheiben hatten, dann über eine brachliegende Fläche voller verdorrtem Unkraut. Im Rückspiegel tauchten kurz ein paar der anderen Humvees auf, mit denen sie eine Kolonne bildeten. Dann drehte Böhn sich wieder zu ihnen nach hinten um.
»Keine Sorge, wir schaffen es noch rechtzeitig.«
»Und unsere Tochter?«, fragte Theissen. Er schaute wieder seine Frau an, aber sie reagierte nicht. Sie tippte Nachrichten in ihr Telefon, wobei ihre Finger geschickt über das Display tanzten, wie bei einer Jugendlichen.
Der Fahrer wechselte nun einen Blick mit Böhn, wobei weder der eine noch der andere etwas sagte.
Vielleicht hat sie Glück, dachte Janja. Vielleicht wird Frankfurt vor einem direkten Einschlag verschont, und Vanessa kann sich zur Villa durchschlagen, bevor die Strahlung die Stadt erreicht.
Vielleicht kann sie sogar das Tor und die Eingangstür öffnen und sich in den gepanzerten Keller flüchten, zum Dienstpersonal. Auch dort gab Vorräte, die lange halten sollten, wenn auch keine dreißig Jahre. Und es gab Feldbetten. Es wäre nicht so luxuriös wie im Hotel, doch es wäre besser als nichts. Viel besser. Das Nichts erwartete den Rest der Menschheit. Oder neunundneunzig Komma neun Prozent davon.
Das hatte Janja sogar ihrer Mutter vorgeschlagen: dass auch sie in der Villa bleiben könnte. Dass sie dann immerhin zusammen wären, Mutter und Tochter. Eryka hatte die Diskussion beendet, bevor sie überhaupt anfangen konnte. So was sei leider nur ein sentimentaler Traum. Ob man in der Villa überleben könne, müsse sich erst herausstellen. Dem restlichen Dienstpersonal sagte Eryka davon nichts. Die sollten noch träumen dürfen. Warum ihnen das nehmen? Hoffnung bis zuletzt –...