E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Knösel Das Leben ist nichts für Anfänger
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-407-75980-1
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-407-75980-1
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephan Knösel hat als Drehbuchautor an fünf Fernsehfilmen und über achthundert Serienepisoden mitgewirkt. Er lebt und arbeitet in München. Für sein Debüt 'Echte Cowboys' wurde er u. a. mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet; sein Roman 'Jackpot - wer träumt, verliert' war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
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Es dämmerte bereits und die Straßenlaternen leuchteten auf, als Flipper vom Fahrrad sprang. Er ließ es einfach ausrollen; ein paar Meter weiter fiel es ins staubtrockene Gras. Ein Mitschüler hatte Flipper eine Nachricht geschickt. Er hatte gar nicht erst geantwortet. Jetzt ging er schnell neben Tree in die Hocke.
Trees rechtes Hosenbein war blutdurchtränkt, vom Oberschenkel bis runter zum Knie. Es war richtig nass – wie ein Handtuch, das ins Wasser gefallen ist. Nun saugte sich das Blut vom Knie abwärts durch den noch trockenen Jeansstoff.
»Tree …!«
Mehr kriegte Flipper nicht über die Lippen. Er nahm Trees blutrote Hand von seinem Oberschenkel. Die andere Hand lag auf seinem Bauch. Tree verzog das Gesicht dabei. Er versuchte, etwas zu sagen, doch nur seine Lippen bewegten sich.
Flipper hielt sein Ohr ganz nah an Trees Mund, aber auch so konnte er nichts verstehen. »Tree! Mann! Sag was, komm! Du wolltest gerade was sagen! Na los! Sag schon!«
Flipper riss den Kopf hoch. Sein Herz schlug wie verrückt. Panik strömte durch seine Adern bis in jede Fingerspitze. Er biss sich auf die Zunge, bis er Tränen in den Augen hatte. Danach ging es wieder einigermaßen. Er scannte den Park mit Blicken und suchte nach Menschen. Aber der Park war hier wie ausgestorben: keine alten Raucher auf den Sitzbänken, keine Tischtennisspieler an den Pingpongplatten aus Beton. Auch die vier Tische mit den Schachbrettmustern waren unbesetzt – und weit und breit machte niemand ein Selfie von sich.
Das alles war ungewöhnlich um diese Uhrzeit – vor allem bei dem schönen Wetter. Auch in der Kneipe neben dem Norma saß niemand mehr draußen. Als hätten sich alle in ihre Löcher verzogen! Flipper hörte nur den Straßenlärm, der dumpf vom Frankfurter Ring herüberschwappte. Und Vogelzwitschern – so laut und vielstimmig, als wäre das hier das verdammte Paradies!
Dann bemerkte er den Schnitt in Trees rechtem Hosenbein und den pumpenden Blutfluss darunter. Der Schnitt war zwar nur etwa zwei Zentimeter lang, aber die Wunde darunter sehr tief. Die Arterie ist verletzt, vielleicht sogar durchtrennt, dachte Flipper, deswegen spritzt das Blut so raus! Er hatte vor Kurzem einen Erste-Hilfe-Kurs für seinen Führerschein gemacht. Ohne Notarzt blieben seinem Bruder höchstens noch Minuten, bis er an dem Blutverlust sterben würde.
Flippers Hals schnürte sich bei dem Anblick zu und er bekam kaum Luft. Sein Mund war plötzlich ausgetrocknet vor Angst. Er kniff die Augen fest zu und biss die Zähne zusammen, um jetzt nicht durchzudrehen.
Danach zog er sich sein blau-schwarz kariertes Hemd über den Kopf. Er wollte keine Zeit mit den Knöpfen vertrödeln. Er rieb sich kurz die Augen am Ärmel seines T-Shirts, dann drückte er das Hemd so fest wie möglich auf die Wunde – und Tree stöhnte auf. So als hätte er ihm in den Bauch geboxt.
Tree musste unglaubliche Schmerzen haben. »Es geht nicht anders, Tree!«, sagte Flipper – und hoffte, dass seine Stimme beruhigend klang.
Er befürchtete allerdings das Gegenteil. Er selbst war wie ein Vulkan kurz vorm Ausbrechen. Doch zu Tree sagte er: »Das wird schon! Das sieht nur scheiße aus. Es gibt Leute, die haben viel schlimmere Verletzungen, Tree. Die schaffen es auch irgendwie! Jetzt sag endlich was, komm! Was ist passiert? Wer hat das getan?«
Flipper warf wieder verzweifelte Blicke durch den menschenleeren Park. Dann brüllte er um Hilfe, so laut er konnte. Seine Schreie taten ihm in den eigenen Ohren weh. Kurz darauf hatte er kaum noch Stimme. Aber er schrie weiter.
Eine Minute später ertönte eine Sirene, wie eine Antwort. Dann noch eine und noch eine.
Flipper wunderte sich kurz darüber, aber natürlich war das kein Zufall. Irgendjemand musste die Polizei gerufen haben, wenigstens das. Plötzlich tanzten blaue, gelbe und rote Lichter auf dem Gras, obwohl es immer noch hell war. Autotüren wurden zugeknallt, Metall schlug auf Metall und Stimmen riefen Befehle in die aufkommende Nacht.
Für Flipper waren das alles nur Hintergrundgeräusche. Er drückte Trees Wunde ab, so fest er konnte – seine Armmuskeln schmerzten schon –, und dabei schaute er Tree in die Augen. So als könnte er ihn allein mit seinem Willen am Leben erhalten. Doch Trees flackernder Blick wurde bereits blasser.
»Schneller, Mouaz, schneller!«, rief jemand – eine Stimme, die näher kam.
»Sorry, ich …«
»Egal, komm jetzt!«
Flipper sah drei neongelbe Uniformen. Dann kurz ein schwarzes 112 und die Aufschrift Rettungsdienst auf einem roten Fahrzeug. Drei Sanitäter kamen im Laufschritt näher, sie hatten Rucksäcke dabei.
Einer von ihnen ging neben Tree in die Hocke und schaute ihm in die Augen. »Ich heiße Andi – wie heißt du, mein Junge?« Der Mann hatte welliges, nach hinten gekämmtes Haar, in der Stirn etwas schütter. Seine Stimme war so ruhig, dass auch Flipper sich ein wenig beruhigte. Er fragte sich nur, wie jemand so cool bleiben konnte bei so viel Blut.
Als Tree stumm blieb, antwortete Flipper für ihn: »Er sagt nichts. Ich hab’s auch schon versucht.«
Der Sanitäter, der Andi hieß, nickte. Dann drückte er mit dem Daumen auf Trees Stirn. Der Daumenabdruck blieb sekundenlang sichtbar. »Blutdruck im Keller, Salzlösung!«
Die anderen Männer hatten einen schweren Kasten aus einem Rucksack geholt. Er sah aus wie ein Mischpult. Tree hatte nun eine Manschette am rechten Arm und eine Nadel im linken. Als Letztes bekam er noch eine rote Kappe auf den Zeigefinger gesteckt. Flipper betrachtete die drei Männer wie in Trance. »Blut zu wenig Sauerstoff!«, hörte er – dann rief ihm der eine Sanitäter ins Gesicht: »Hey!« Nicht laut, aber eindeutig.
»Was?«, fragte Flipper, durcheinander.
»Wie lange bist du schon hier?«
»Gerade erst gekommen!«
»Du warst vor uns da! Jede Sekunde zählt. Wie lange genau?«
»Paar Minuten vielleicht, höchstens drei oder vier.«
Andi zwickte Tree in den Arm und Tree öffnete die Augen. Aber nur kurz. Gleichzeitig fragte Andi, nicht unfreundlich, aber mit großer Dringlichkeit: »Was ist passiert? Jede Info ist wichtig!«
»Ich weiß es selber nicht«, antwortete Flipper. »Nur dass er blutet – richtig schlimm! Wenn ich das Hemd wegnehme, strömt es am Bein nur so aus ihm raus!«
»Okay«, sagte Andi. »Ich übernehme jetzt!«
»Und ich?«, fragte Flipper.
»Einfach loslassen – auf drei!«
Flipper gehorchte und Andi nahm das Flanellhemd von der Wunde. Es war jetzt ebenfalls blutdurchtränkt und schwer wie ein nasses Handtuch. Andi ließ es in das strohgelbe Gras neben sich fallen, wo die vertrockneten Halme wie Vampire die Blutstropfen aufsaugten.
Gleichzeitig hielt ein orange-gelb lackierter SUV mit der Aufschrift Notarzt neben dem Feuerwehrfahrzeug. Flipper rutschte auf den Knien zur Seite, um Platz zu machen. Aber er achtete darauf, in Trees Blickfeld zu bleiben. »Ich bin da, Tree, ich bin bei dir!«
»Kennst du den Jungen?«, fragte eine Frau plötzlich – die Notärztin.
»Er ist mein Bruder!«, sagte Flipper – unglaublich froh, dass er nicht mehr alleine war. Dass nun Profis übernahmen. Jetzt wird alles gut!, hoffte er.
Eine Sekunde später hatte sich seine Hoffnung schon halbiert. Trotzdem klammerte er sich daran, als Tree wieder die Lippen bewegte. Flipper musste nicht mehr horchen. Er wusste jetzt, was Tree sagen wollte. Es waren nur zwei Silben.
»Mama ist arbeiten«, sagte Flipper. »Du kommst jetzt ins Krankenhaus, Tree. Aber wenn du da aufwachst, wird sie da sein. Ich versprech’s, okay! Ich ruf sie gleich an!«
Flipper spürte eine Hand auf seiner Schulter und schüttelte sie fast automatisch ab. »Du musst uns machen lassen, Junge …!«, hörte er. »Dein Bruder kämpft gerade um sein Leben! Und wir tun für ihn, was wir können!«
Aber er reagierte...