E-Book, Deutsch, 504 Seiten
Kluy Joachim Ringelnatz
1. Auflage 2015
ISBN: 978-87-11-44697-3
Verlag: Saga Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 504 Seiten
ISBN: 978-87-11-44697-3
Verlag: Saga Egmont
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Heute erscheint endlich 'Joachim Ringelnatz. Die Biografie'! Joachim Ringelnatz ist vermutlich der beliebteste deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts gewesen. Wer kennt nicht seine Kunstfigur Kuttel Daddeldu? Alexander Kluy erzählt uns - endlich, nach langer Zeit - in einer umfangreichen, brillant recherchierten und feuereifernden Biografie vom spannenden Leben des Hans Bötticher.AUTORENPORTRÄTAlexander Kluy, geboren 1966, Studium der Germanistik und Amerikanistik. Autor, Journalist und Herausgeber erfolgreicher Anthologien und der Reihe 'Wiener Literaturen'. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutschen, österreichischen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Zuletzt erschien von ihm das Buch Der Eiffelturm. Geschichte und Geschichten(2014). Deutschlandradio Kultur: 'Dieses Buch ist ein Glücksfall. Virtuos changiert Alexander Kluy zwischen Historie, Kunstgeschichte, Kunstphilosophie und technischen Details.'-
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1 Auftakt
»Vorbei – verjährt – / Doch nimmer vergessen.«1 Peter Scher: Freund Ringelnatz
Zehn Männer sind – ich übertreibe nicht – des Abends singend um mein Bett gestanden, darunter eine Anzahl Musikanten und alles dies bei ultraviolettem Licht das bald in grünrotgelb hinüberspielte und staunenswerte Wirkungen erzielte. Nervosipopel! nannt’ es Ringelnatz und freute sich solch grellen Unfugs kindlich, denn er war – welch ein Glück – nicht lärmempfindlich und konnte dabei dichten, Satz um Satz; wie festgenagelt saß er auf dem Aerschchen und formte lächelnd eigenartige Vers’chen. Die kühn geschwungene Nase am Papier schrieb er und muffelte mit seiner Schnute; er war, ein wahrhaft seltener Gast, der Gute, nur urlaubsmäßig auf der Erde hier; man sagte drum nicht falsch und unbegründet, er war ein Licht, an beiden Seiten angezündet. Jedoch zurück zum Anfang des Gedichts, ich bin dem Toben nicht wie er gewachsen, der aus dem Himmel stammte und aus Sachsen, von seiner Zähigkeit besitz ich leider nichts; mich macht der Lärm, der Lärm macht mich zuschanden ... und er, der ihn ertrug, kam uns so sehr abhanden.2 * Am 13. November macht die Pariser Zeitung Paris Midi mit einer Sensationsmeldung auf: Ein Luftverteidigungsbündnis zwischen Frankreich und Großbritannien solle das Inselreich besser abschirmen. Am 11. November wird in Goslar, zur deutschen Reichsbauernstadt erkoren, der zweite Reichsbauerntag eröffnet, Landwirte und Agronomen aus dem In- und Ausland nehmen an der siebentägigen Zusammenkunft teil, erstmals wird ein »Reichsbauernthing« durchgeführt. Und am 9. November argumentiert der englische Premierminister James Ramsey MacDonald von der Labour Party, sein Land trete nach wie vor für Frieden in Europa ein, Abrüstung, in Sonderheit einseitige Abrüstung, aber sei in seinen Augen kein wirksames Vorgehen, um andere Länder, die Hoch- und Aufrüstung betreiben würden, zur Einstellung ihrer Aktivitäten zu bewegen, Demilitarisierung könne im Gegenteil einen Angriff erst herausfordern.4 Währenddessen rollt Wagen für Wagen und Tag für Tag ein brummender, summender, lärmender, schier kein Ende nehmender Konvoi-Lindwurm von Last-, Transport- und Arbeitswagen in Berlin die breite Heerstraße hin und her, hinauf und hinunter. Ihr Ziel und dann ihr Ausgangspunkt: das im Bau befindliche Olympiastadion. Und von diesem wieder fort. Seit März 1934 werden die Tribünenbauten der seit 1909 vorhandenen Pferderennbahn des Union-Klubs und das Deutsche Stadion abgerissen, das 1913 eingeweiht worden ist. Berlin hat schon seit Ende der zwanziger Jahre für die Abhaltung von Olympischen Spielen in der Hauptstadt Lobbyarbeit beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) betrieben und schließlich im Mai 1931 vom IOC den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympiade im Jahr 1936 erhalten. Werner March, der Sohn Otto Marchs, des Architekten des Deutschen Stadions, legt daraufhin Pläne für den Stadionumbau vor. Mit der »Machtergreifung« reißt das nationalsozialistische Regime, das Potenzial propagandistischer Selbstdarstellung auf globaler Bühne im Nu mit demagogisch-funkelnder Bauernschläue erkennend, die Baumaßnahmen an sich und treibt das Großprojekt, mittlerweile zum Neubau mutiert, mit viel Geld und noch mehr Drohungen und auf die vielen Gewerke ausgeübtem massivem Druck voran. Zeitgleich wird die zweite Bauphase des neben dem gigantischen Zuschaueroval liegenden Deutschen Sportforums eingeleitet und 1936 ebenfalls abgeschlossen. Es wird im Riesenmaßstab ausgeschachtet. Es werden Tonnen über Tonnen an Erde bewegt. Weggekarrt. Fortgeschafft. In Hörweite der schwer beladenen Fahrzeuge, auf dem Friedhof an der Heerstraße, wird am Dienstag, den 20. November 1934, ein drei Tage zuvor verstorbener Dichter, Maler, Rezitator, reisender Artist, Kabarettist und leidenschaftlicher Briefeschreiber beigesetzt – Joachim Ringelnatz. »Dienstag, ½ 3 Uhr ganz nahe in einem Waldfriedhof, der in dichtem Nebel lag war eine wunderschöne kleine Feier in einer mit Kerzen u. Lorbeeren reich geschmückten Halle, auf dem Sarg lag die Fahne u. ein Sträußchen von Muschelkalk u. es erklangen von der Orgel Seemannslieder u. zuletzt ›La Paloma‹ u. unter diesen Klängen wurde der Sarg hinaus getragen. Paul Wegener sprach wunderbare Worte u. schloß mit dem schönen Gedicht von Ringel an Muschelkalk gerichtet. [...] Seine Letzten Worte sind zu ihr gesprochen ›Lache doch, Muschelkalk‹, u. dann hat er sie gestreichelt bis er eingeschlafen ist.«5 * Als Franz Blei, der vielsprachige Essayist, kosmopolitische Liebhaber des Rokoko und geschmeidige Libertin, dieses Kurzporträt in seinem erfolgreichen Spott-Literar-Kaleidoskop Das Große Bestiarium der Literatur im Jahr 1922 veröffentlicht, ist dieser Ringelnatz der jüngste Autor, den Blei mokant mit spitzer Feder aufspießt. Denn Ringelnatz, der die Alkoholmeere heruntergeschwommen kommt, ist da gerade einmal drei Jahre alt. »Joachim Ringelnatz«, der literarische Springinsfeld, das wilde Kind der neuen deutschen Dichtung, ist erst im Dezember 1919 in die Welt gesprungen. Von einem Schriftstellersohn erfunden, der selber geboren wird in Wurzen, in Leipzig aufwächst, aus romantischer Neigung zur wilden See fährt und zwischen Surinam, Odessa und Norwegen die Meere durchkreuzt und durchleidet, der zum Hungerkünstler aus Not und in tausend Nöten wird, der sich in drei Dutzend Berufen erprobt und in einem jeden davon zumindest ökonomisch scheitert, der träge Kriegsjahre hinter sich hat – und ein Jahr nach dem Ende jenes Krieges, der die bürgerliche und Friedenswelt vor 1914 in einen Orkus gestürzt hat, aus der sie völlig verändert und hart gezeichnet, partiell verkrüppelt, zum anderen Teile verstört, neu und gänzlich anders erstanden ist, ersteht: Joachim Ringelnatz. Und gleich darauf Kuttel Daddeldu, der Mariner larger than life, jene Figur, in deren fiktiven Körper dieser mit 1,60 Metern körperlich eher kurz geratene Ringelnatz mit der übergroßen Nase und den O-Beinen und dem dezent sächsischen Zungenschlag, der einstige Matrose und Leutnant zur See, derart überzeugend ungebärdig schlüpft, dass er im Lauf der Jahre so manchen Brief als »Kuttel« zeichnet. Und der ein solch artistisches Verwirrspiel dem Publikum präsentiert, wie dieses, zwischen Raffinesse und Frivolem, zwischen Derbheit und herzbrechender Einfühlsamkeit oszillierend, es bis dato Kabaretts und Varietés und Theater noch nicht erlebt haben. Dabei ist es in seiner facettenreichen, verspielten, von vielen fälschlich als naiv verorteten Pluralität der personae, des anarchischen Maskenspiels des Ichs, im unverwechselbaren Duktus, im Timbre der Reime, lyrischen Tonfall, in der Eingängigkeit der Verse begründet, dass diese Gedichte Allgemeingut werden. Populär sind sie bei den käuflichen und abgetaktelten Schönen der Nacht in der Berliner Friedrichstraße, die Anfang der 1920er Jahre ihre Körper feil bieten, populär durch die Jahrzehnte hindurch, populär noch am heutigen Tage bei wohlsituiertem Publikum, populär bei Schauspielerinnen und Schauspielern, Rezitatoren und Vorlesern wie Katharina Thalbach und Hannelore Elsner, Otto Sander, Friedhelm Ptok, Harry Rowohlt und Johannes Steck, die allesamt mit größthörbarem Vergnügen und stimmlicher Verve für Audiobookformate zahlreiche Ringelnatz-Gedichte und -Prosa eingelesen haben. »Nein ernst, als ob das komisch wär«
Erhalten haben sich von Joachim Ringelnatz’ eigenen Auftritten weder Film- noch Tonaufzeichnungen. Nur einige Fotografien legen stumm und atmosphärisch äußerst eingeschränkt unbewegtes Zeugnis davon ab. Einige Gedichte hat er in Funkhäusern vorgelesen und auf Schallplatte gesprochen. Dem 2010 edierten Reprint eines Bandes mit dem Titel In memoriam, dank eines hoch- und vermögenden Leipziger Bibliophilen einst im April 1937 als Privatdruck erschienen, ist verdienstvollerweise eine CD beigefügt worden, die, in Archiven von Funkhäusern ausfindig gemacht, zwölf Poeme enthält, die er selber vorträgt. Zu seinem 50. Geburtstag am 7. August 1933 ist Joachim Ringelnatz auch von einem Filmteam besucht worden, für das er in die Kamera sein Gedicht Im Park gesprochen hat. Diese 42 Sekunden kurze Rezitationssequenz ist das einzige filmische Dokument, das Duktus und Gestus und Habitus dieses Poeten als Vortragenden des eigenen Werkes für die Nachwelt erhalten hat. »Mit meinesgleichen, den sogenannten Humoristen«, hat schon anno 1918 Alexander Roda Roda kunstvoll geklagt, »pflegt sich die Literaturgeschichte nur ganz hinten im Anhang zu befassen, flüchtig und in kleiner Schrift; auch das erst, wenn unsereins lange genug tot ist.«8 An diesem Befund hat sich seither kaum ein Jota geändert. Humor ist nicht Laufbahn fördernd, erst recht nicht eine als seriöser Akademiker. Humoristische, leichte und scheinbar so leichthändige Literatur ist noch immer das kleine, schiefe Stiefkind der Germanistik, dessen Name so flüchtig und so klein geschrieben und das nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen wird. Offenbar weil dieses Genre, das in sich derart vielgestaltig ist und biegsam bis zum Stadium homerischen Lachens, welches den Körper durchwogt, durchschüttelt und sich vor Vergnügen krümmen lässt, sich mit diebischem Vergnügen den nüchternen analytischen Anstrengungen der germanistischen...