E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Romane im GMEINER-Verlag
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Romane im GMEINER-Verlag
ISBN: 978-3-7349-3030-0
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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1
Es rauschte. Sehr kurz und gar nicht laut. Etwas rau klang es, dann knallte es, auch dies sehr kurz, aber lauter. Dann war es ruhig. 21, 22. Danach der Ruf einer Frau: »Mutti! Mein Gott, Mutti! Nicht schon wieder! Wer soll das bezahlen? Wer hat so viel Geld?« Heinrich Treitschke trat einen Schritt zur Seite. In schildkrötengleichem Tempo glitt der Mittelklassewagen an ihm vorbei. Zwar rollte er rückwärts, das war gut. Aber er rollte mit einer Langsamkeit, die es ausschloss, Unheil anzurichten. Treitschke atmete schneller, als der Wagen rollte. Die Frau am Steuer hätte einen Blick in die auf dem Beifahrersitz liegende Illustrierte werfen können, und Treitschke hätte sich immer noch nicht in Sichtweite einer Situation befunden, die in den Zeitungen und im Fernsehen als »riskant« und »grenzwertig« oder sogar als »lebensgefährlich« bezeichnet werden würde. Das vollkommen kontrollierte Ausparken hinderte die betagte Fahrerin auch nicht daran, Treitschke zu bemerken, ihm zuzulächeln und ihm zu allem Überfluss zuzuwinken. Zwar musste sie dafür unweigerlich eine Hand vom Lenkrad nehmen – was gut war –, aber daraus folgte leider auch an diesem Tag absolut nichts. Der Wagen blieb in der Spur, als würde er auf Schienen laufen. Einen Moment gönnte sich Treitschke den Sprung nach Westen, wo sich in diesem Stadium des Ausparkens alle Menschen in einem Radius von 50 Metern in Hauseingängen und hinter Autos in Sicherheit gebracht haben würden – im besten Fall hinter Fahrzeugen, die sich nicht in Bewegung befanden. Heinrich Treitschke war kein Schwarzmaler, aus einer Familie mit friesischen Wurzeln stammend, lag ihm nichts ferner als vorschnelles Reagieren und motorische Erscheinungsformen, die Außenstehende als fix oder reaktionsschnell bezeichnet hätten. Treitschke ließ die Dinge gern auf sich zukommen, als Kunde in der westlich gelegenen Waitzstraße oder als Besucher einer Arztpraxis an derselben Adresse hätte sich sein Lebensrisiko um den Faktor 100 vergrößert. Aber Treitschke lebte in Poppenbüttel, 30 Kilometer von der Waitzstraße entfernt. Mochte der Name Ortsfremden auch spontan Anlass zur Hoffnung geben, so würde ihn ein kurzer Aufenthalt in diesem Teil der großen Stadt eines Besseren belehren. Was in diesem Fall bedeutete: eines Langsameren, Bedächtigen, Zögernden, mitten in der Bewegung Innehaltenden. Es war die Regel und nicht die Ausnahme, dass Tag für Tag Bewohner Poppenbüttels erst lange nach der Rückkehr in ihre Behausung realisierten, wie viele Besorgungen sie heute wieder nicht durchgeführt hatten, mochten sie auch dringend sein (Grundnahrungsmittel, Nahrungsergänzung, Medikamente, Lotto). Sie hatten sie schlicht vergessen, was nicht in mangelnder geistiger Präsenz begründet war, sondern eine Folge der Poppenbüttler Bedächtigkeit darstellte. Über dem Ortsteil im äußersten Nordosten der Metropole lag käseglockengleich eine Haube, bestehend aus Kommichheutnichtkommichmorgen-Mentalität. Keiner der 104 städtischen Ortsteile brachte es auf einen so großen Anteil an betagten Mitbürgern. Jeder dritte Poppenbüttler war 65 und älter. Älter hieß hier nicht: kurz nach Erreichen von Rente und Pension, es bedeutete in nicht seltenen Fällen ein Lebensalter von über 70, über 80, über 90. Danach wurde es dünner, aber das war lediglich der Biologie geschuldet, nicht der Poppenbüttler Mentalität. Die war robust auf dreistellige Jahreszahlen ausgelegt, und im Ortsbild existierte nichts, was die Geburtstagsfeier zum 100. in einen Abenteuertrip an die Grenze der individuellen Endlichkeit verwandeln konnte. Oder wie Luise Ullrich, nicht verwandt und verschwägert mit der gleichnamigen Schauspielerin, es unnachahmlich auf den Punkt gebracht hatte: »Poppenbüttel ist, wenn du alles hinter dir hast und nichts mehr vor dir – außer dem Rollator, der sich partout nicht überholen lassen will.« Deshalb war der Ruf einer besorgten Mutter, der vor wenigen Minuten Heinrich Treitschkes Ohren erreicht hatte, in Poppenbüttel seit vielen Jahren nicht mehr gehört worden. Da mussten erst die Vandalen und Anarchos aus den westlichen Stadtteilen kommen, um den Poppenbüttlern zu demonstrieren, was möglich war. Woche für Woche war in der Waitzstraße Ballyhoo, längst tauchte nicht mehr jeder neue Rumms in den Medien an prominenter Stelle auf. Die Vorkommnisse in der Waitzstraße fügten sich harmonisch in die dortige Realität ein. Die Erbsenzähler und Statistiker hatten Mühe, mit der Buchführung hinterherzukommen. Polizei, Lokalpolitik und vor allem die Geschäftswelt umschlichen nervös die 900 Meter lange Straße. Aber die im Westen ließen ihre Unglücksfahrer nicht einfliegen. Sie nahmen ihre regelmäßigen Sticheleien in die eigenen gepflegten Hände, die nicht selten in Handschuhen steckten, für die man in anderen Stadtteilen drei Monatsmieten überweist. Davon konnte man in Poppenbüttel nur träumen. Und niemand träumte häufiger davon als Heinrich Treitschke. Natürlich hatte das historische Seniorenrennen zwischen den westlichen und östlichen Senioren in der Kieskuhle an einigen Klischees und Vorurteilen genagt. Das war erfreulich. Aber das Rennen lag nun auch schon zwei Monate zurück – zu viel in unserer schnelllebigen Gegenwart, um seine Frische und Vitalität in die Zukunft hinüberretten zu können. Seitdem hatte es in der Waitzstraße viermal gekracht. Sie nieteten um, was ihnen vor den Kühler kam, sie umschifften die zentnerschweren Poller, die angeblich in der Testphase Panzer gestoppt hatten, und sie schafften es, auf einer Strecke von maximal 15 Metern eine Macht zu erzeugen, die niemand einem betagten Mitbürger zutrauen würde. Wer Wert darauf legte, konnte wissen, dass es eine Handvoll Senioren gab, die bereits mehr als einmal auffällig geworden war. Zwei von ihnen hatten es sogar auf drei Treffer gebracht. Beide waren seit ihrer letzten Aktion nicht mehr für die Medien zu sprechen, was für sie die Höchststrafe bedeutete und für ihre Familien eine Galgenfrist. Die in jeder Hinsicht aus dem Verkehr gezogenen Senioren (Kosename: Die zwei Caracciolas) saßen nun auf einem Berg Autogrammkarten, der von Tag zu Tag an Wert gewann, was ihnen jedoch nicht bewusst war. Aber Heinrich Treitschke wusste es. Er wusste viel über die Lage im Westen. Im Westen lag die Sehnsuchtslandschaft des ehemaligen Besitzers einer Baustofffirma. Treitschke hatte seinerzeit den Kontakt zu den jetzigen Eigentümern der Kieskuhle vermittelt. Die Zweitplatzierte des Rennens hatte ihn auf eine Runde mitgenommen, seitdem wusste Treitschke, dass er nicht umsonst gelebt hatte. Die Frau fuhr wie eine gesengte Sau, bis zur letzten Kurve hatte er nicht gewusst, ob er vor Lebenslust oder Panik so sehr schwitzte. Aber er wusste, dass es Vorfreude war, die seit zwei Tagen seine Adern durchpulste und alle Schlacken wegspülte, bevor sie Schaden anrichten und Verstopfungen auslösen konnten. Die TV-Filmer aus München hatten sich angesagt, um in Poppenbüttel mit Verantwortlichen und Zeitzeugen des Rennens zu sprechen. Mochten in den letzten Wochen auch die überregionalen Erwähnungen in Zeitungen und elektronischen Medien abgenommen haben, so war jetzt eine erfreuliche Gegenbewegung unübersehbar. Diverse Medienadressen, die nicht auf Tagesaktualität angewiesen waren, bereiteten Filme vor – längere Berichte, gründliche Berichte, unterfüttert mit Fakten und grundsätzlichen Gedanken. Sogar eine Diskussion war geplant, nur in einem einzigen Dritten Programm, aber die Bayern sendeten seit Langem bis in den hohen Norden. Lange hatte man das Unfallgeschehen in der Waitzstraße für nicht unbedingt notwendig gehalten und teilweise für überflüssig. Aber man war offen für Themen, die über Bayern hinausreichten. Die erfreuten Poppenbüttler hatten den Bayern optimale Unterkunft, Speisung und erstklassige Gesprächspartner in Aussicht gestellt. Treitschke gehörte dazu, in der Kieskuhle dröhnten schon die Motoren, denn man wollte aus dem vollen Training das historische Rennen nachstellen. Treitschke durfte den Gang in die Bäckerei nicht vergessen. Zu Hause wartete der Enkel auf Gebäck, das er angeblich für seine Konzentration brauchte. Der angehende Biologe, jüngster Spross von Treitschkes im Süden mit einem grünen Landespolitiker verheirateter Tochter, absolvierte in Hamburg ein mehrwöchiges Praktikum. Vor allem fraß er sich bei den Großeltern durch und trieb sich mit Kumpels, die er in den ersten 48 Stunden kennengelernt hatte und zu denen auch Mädchen gehörten, in Gegenden herum, die Treitschke als unabdingbar für den Erfolg des Praktikums untergejubelt worden waren. Bis dahin hatte Treitschke diese Adressen nur mit Diskotheken und Kiez-Adressen in Verbindung gebracht. Poppenbüttel ist ein altes Dorf. Wer von Poppenbüttel redet, meint den Ortskern rund um den großen Marktplatz und die weit ins Umland hineinlappenden Wohngebiete. Wer Poppenbüttel nur von außen kennt, denkt an Norddeutschlands größtes Einkaufszentrum. Der riesige Komplex liegt knapp zwei Kilometer Luftlinie entfernt an der Endstation der S-Bahn. Der Fußweg zwischen den zwei Poppenbüttels ist beschwerlich, denn der echte Ort liegt auf einem Hügel. Sowohl der Abstieg wie auch der Aufstieg überfordert alte Knochen. Die Busverbindung ist überschaubar, der Motorisierungsgrad der Bewohner extrem hoch, die Fahrt in die Großgaragen mit ihren 3.000 Stellplätzen seit Langem die Fortbewegungsweise der Wahl. Die Konkurrenz von 240 Geschäften hatte auf die überlebenden Einkaufsadressen im echten Poppenbüttel eine Konsequenz, die speziell im Fall der Bäckereien gewöhnungsbedürftig ist. Um...