E-Book, Deutsch, 318 Seiten
Kluger Der Vogel, der spazieren ging
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8666-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 318 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8666-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine verrückte Familiengeschichte, weltumspannend, voll jüdischem Witz
Samuel Leiser ist ein einsamer Vogel. Sein Vater Yehuda entkam den Nazis, indem er vorgab, Autor zu sein und als Künstler nach Amerika einreisen durfte – wo er zum gefeierten Kriminalschriftsteller Jonathan Still wurde. Nun übersetzt Samuel seine Bücher ins Deutsche. Zwischen den Zeilen sucht und findet er versteckte Botschaften. Doch was bedeuten sie?
In einem Sommer Anfang der Siebziger zieht Samuels frühreife Tochter Ashley aus England zu ihm nach Paris, damit sich beide einmal in Ruhe kennenlernen. Bald aber wird es eng in der kleinen Wohnung: Samuels Ex-Frau Letitia kommt mit Vater und neuem Freund zu Besuch. Durchreisende bleiben länger als erwartet, sogar Yehuda fliegt samt Gangster-Verwandtschaft ein. Dem turbulenten Familientreffen zwischen Eheschwüren und Eifersuchtsdramen entkommt Samuel nicht einmal, indem er sich in seine Spanischlehrerin verliebt. Denn nicht nur die Menschen seines Lebens überfallen ihn, sondern auch ihre Geschichten und ererbten Alpträume – bis zum furiosen Finale.
Martin Kluger erzählt eine drei Generationen umspannende Geschichte um die Liebe: eine melancholisch-ironische Comédie humaine.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Eigentlich wollte Elizabeth Frauen mit langen Gesichtern durchblättern. Paris Match brachte eine Serie von Modigliani-Gemälden zum Ausschneiden und Sammeln. Dann ertrug sie mein Gezergel nicht länger und überließ die Zeitschrift endlich mir. Immerhin war ich der erste Mensch, den sie kannte, dessen Vater von einem Titelbild dräute. Wie am Ende des ersten Teils dieser Erinnerungen bereits ansatzweise geschildert, schien der seit Letis und meiner Trennung rabenschwärzeste Pariser Tag mit Meyer Mushkins Ankunft, fast bin ich versucht zu sagen: Meyers Advent, seinen vorläufigen Höhepunkt bzw. Tiefpunkt erreicht zu haben. Aber es sollte noch bunter kommen. Es war später am Abend. Zab und ich hatten uns in mein Büro zurückgezogen und saßen wie zwei brave Schulkinder mit angezogenen Knien nebeneinander auf der Gymnastikmatte. Obwohl meine Begrüßung Meyers, zu der sich auch Zab und Fetterly gesellt hatten, eher förmlich verlaufen war (aber das Herz schlug hoch) – die Bedeutung des kleinen Mannes aus Amerika, seine Macht über mich und seine potentielle Gefährlichkeit für unsere junge Liebe waren Elizabeth sofort klar gewesen. Als habe irgendein böser, zwergenhafter Erzengel oder Zauberer unsere Spielwiese betreten, schien es mit dem nackten Herumtollen, der Selbstvergessenheit, der Unschuld vorbei zu sein. Denn Meyer war ja nicht mit leeren Händen gekommen, er hatte Paris Match aus dem Ärmel gezaubert, und mit Paris Match Jonathan Still alias Yehuda Leiser alias Vater. Laut Meyer war man ›vor einigen Tagen‹ angekommen, breitete Jonathan Still sich standesgemäß in einer Suite im Ritz aus und hatte Meyer in einem privaten Quartier bequeme Unterkunft gefunden. Über die wahren Hintergründe dieser absurden Reise aus heiterem Himmel bewahrte er, ganz der alte Ganove, Stillschweigen. Der Erwählte, der Mr. Still zwei Seiten lang in Harry’s Bar bei Whisky Sour und Perrierwasser befragen durfte, war kein Geringerer als sein wieseliger, französischer Übersetzer Lucien. ›Laß hören, was dein kluger Vater so vom Stapel läßt‹, sagte Elizabeth. ›Psst.‹ Ich lauschte in die Wohnung. Meyer und Ashy unterhielten sich leise im Flur. Dann wurde die Wohnungstür geöffnet. Wollte Meyer gehen? Weitere leise Worte wurden gewechselt. Mit wem sprach er da an der Tür? Sanft wurde sie wieder geschlossen. Meyer und Ashy entfernten sich flüsternd Richtung Küche. ›Bitte‹, sagte Zab. ›Also gut. Nach einem opulenten Abendessen im ›Crillon‹, bei dem der Meister seine Wertschätzung für das ihm bisher unbekannte ›L’eau qui fait pshitt‹ zum Ausdruck brachte … ich glaube, mir wird schlecht …‹ ›Ach was‹, sagte Zab. ›Das ist normal. Wenn mein Vater plötzlich vor der Tür stünde, wäre ich auch aufgeregt.‹ ›Vor der Tür?!‹ Ich schnellte hoch. Ich war kurz davor, draußen nachzusehen. Zab zog mich am Gürtel zurück auf die Matte. ›Ganz ruhig. Er will dich ein bißchen zappeln lassen, Sammy. Sonst wäre er doch längst hier. Lies weiter …‹ Sie hatte recht. Wäre er längst hier. Säße in diesem Büro. Sähe sich die Lebensausstattung des Juniors an. Ließe seinen Blick über Elizabeth wandern. Ließe seinen Blick auch zu dem Buch schweifen, das er im Schweiße seines Angesichts geschrieben hatte und das jetzt auf Juniors Schreibtisch vor sich hin staubte und weiterer Übersetzung harrte. ›… führte sein französischer Übersetzer Lucien Ronsard das folgende Interview in Harry’s Bar. Mr. Still rührte seinen Whisky Sour, Standarddrink Paul Perrones, kaum an, sondern sprach weiter kräftig dem Perrier zu … großer Gott, dieses Photo!‹ Zab beugte sich über das Photo. Hatten sie für den Aufmacher das schon etwas ältere Verlagsportrait verwendet, so war bei Harry’s in der Rue Daunou ein Photograph am Werk gewesen. Drohend zeigte Jonathan Still mit dem ausgestreckten Finger auf den Betrachter. Ging diese ›Uncle Sam Wants You‹-Pose auf das Konto des Photographen? Man hoffte es. Vater in der Rue Daunou, hager, raubvogelartig, kaum gealtert. Blauer Maßanzug, schwarze Strickkrawatte, braune Pferdelederschuhe. Die Brille war neu, ein dicker, schildpattener, irgendwie herz- oder tränenförmig geschwungener Apparat. Langsam begriff ich das Ungeheuerliche. Wie Perrone hatte Vater die Stadtgrenze Philadelphias und andere, innere Grenzen überschritten und weilte nun, leider nicht in Tokio, sondern in Paris. Zab drückte ihren Kopf an meinen Bauch und bepustete ihn warm. Ihren Nacken kraulend las ich weiter: ›Frage: Mr. Still, in Ihrem letzten Roman, der rechtzeitig vor Weihnachten auch auf Französisch erscheint … Weihnachten! Gütiger Himmel! Lucien, dieser Streber …‹ ›Komm runter, Sam‹, sagte Zab. ›… wechseln Sie ja – zum ersten Mal, glaube ich – den Schauplatz. Perrone reist ins Ausland, mehr sei hier nicht verraten. Warum? Antwort: Das ergibt sich aus der Handlung. Eins zu null für Vater. Frage: Nach Jahrzehnten verläßt Perrone zum ersten Mal Philadelphia, und es steckt nicht die Spur einer Bedeutung, vielleicht sogar eine Botschaft dahinter? Antwort: Wenn ich eine Botschaft übermitteln will, schicke ich ein Telegramm. Zwei zu null. Ah, jetzt kommt die Sache mit dem Warten. Frage: Wie konzipieren Sie einen Perrone-Thriller? Immer nach demselben Rezept? Antwort: Ich warte. Frage: Sie warten? Antwort: Mein Schreiben, mein ganzes ›Œuvre‹, wie man bei Ihnen sagt, ist ein einziges Warten. Das behauptet er seit Menschengedenken. Frage: Können Sie ein konkretes Beispiel für diesen Prozeß nennen? Ja, kann er, das Gartenfeuer. Antwort: Stellen Sie sich ein Gartenfeuer vor. Anfangs will es sich partout nicht füttern lassen. Also warten Sie. Und wenn es dann lodert, können Sie alles hineinwerfen, was gerade zur Hand ist, Socken, alte Sofas, Autoreifen. Das ist die Stunde, wenn Paul Perrone kommt und sagt: Ich bin bereit, Mr. Still. Frage, hör dir das an, Lucien ist wirklich unerträglich: Ein kontemplatives Warten demnach, im Sinne Heideggers, der den Prozeß des Philosophierens als ein Vor-sich-hin-Starren bezeichnet hat? Antwort: Nicht alles, was Heidegger bezeichnet hat, ist oder verhält sich so, wie er es bezeichnet hat …‹ ›Also, ich mag deinen Vater‹, sagte Elizabeth. ›Tja‹, sagte ich. ›But who may abide the day of His coming, and who shall stand when He appeareth? For He is like a refiner’s fire.‹ ›Das steht jetzt aber nicht im Interview, oder?‹ ›Nein, das ist aus Händels Messias, seiner Lieblingsmusik.‹ ›Sagtest du nicht, dein Vater sei Atheist?‹ ›Auch Atheisten hören hin und wieder Händel. Frage: Was halten Sie von diesen Kursen für Kreatives Schreiben, die neuerdings an amerikanischen Universitäten angeboten werden? Antwort: Kreatives Schreiben? Ich habe keine Ahnung, was das ist. Aber es hört sich banal an. Kurse für kreatives Lesen, das könnte ich noch verstehen. Er meint kreatives Klauen, bei Leo Perutz, Jakob Wassermann und Wilhelm Hauff. Frage: Zurück zu Ihrem neuen Roman ›Perrone Has No Clue‹. Mein französischer Titel lautet übrigens: ›Perrone Undercover‹, ich hoffe, Sie sind zufrieden. Diese Franzosen. Antwort: Ich will Ihnen nicht reinreden, junger Mann. Nicht reinreden, das ist ja das Allerneueste. Frage: In diesem neuen Roman gibt es nun – ebenfalls ein Novum bei Perrone – eine zarte Liebesgeschichte, deren Ausgang wir natürlich nicht verraten wollen … Eine Liebesgeschichte!? Wo? Wann? Auf welcher Seite?‹ Ich stürzte zum Schreibtisch, griff mir das Buch und blätterte wild darin herum. Da ich im Blättern sehr geübt war, stieß ich auch bald auf eine ›Stelle‹. Perrone saß mit einer gewissen ›Makiko‹ in einer Bar an der Ginza. The everlasting Easter of the heart, thought Perrone. Wie bitte? Ich kroch zurück zu Zab und betrachtete wieder das Photo. Vielleicht lag die Botschaft, nach der Lucien verlangte, in der neuen herzförmigen, tränenförmigen Schildpattbrille des Meisters. Die wiederkehrende Feststellung, daß Perrone sich in der Welt nicht mehr zu Hause fühlte, die Flucht aus Philadelphia, und jetzt Makiko und das ewige Ostern des Herzens. Es gab keinen Zweifel mehr: Jonathan Still befand sich im Umbruch, vielleicht in einer tiefgreifenden Krise. Sollten wir uns freuen? Oder lieber in Deckung gehen? ›… zarte Liebesgeschichte, deren Ausgang wir natürlich nicht verraten wollen. Zollen Sie damit dem neuen Gefühlstrend Tribut? Antwort: Welcher neue Gefühlstrend? Frage, nein Antwort, er hat den Spieß umgedreht: Nun, ›Love Story‹ war der größte Erfolg der Filmgeschichte. Antwort, entschuldige, Frage: Sie vergleichen ein klavierklimperndes Mädel und einen Eishockeyspieler mit Paul Perrone? Antwort: Natürlich nicht. Aber ich könnte mir denken, daß es Sie wurmt, wenn eine Schriftstellerin wie Rachel Birnbaum … Vorsicht, Lucien! … also eine Vertreterin des neuen Gefühlstrends, Ihnen regelmäßig den ersten Platz auf der Bestsellerliste streitig macht …‹ ›Rachel Birnbaum ist klasse‹, sagte Zab. ›Die habe ich vor meiner Zwischenprüfung immer in der Badewanne gelesen.‹ ›Vater haßt Rachel Birnbaum. Sie ist ein rotes Tuch für ihn. Solche Erwägungen haben mich nie interessiert … Das...