E-Book, Deutsch, 1040 Seiten
Kluger Abwesende Tiere
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8665-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 1040 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8665-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dem Zoodirektor, dem gottgleichen Oberhaupt der Anlage, ist die Frau abgehauen. Er rettet sich in die Entwürfe seines „Neuen Nachttierhauses", in wilde Eskapaden und immer bizarrere Wochenparolen, mit denen er sein Reich regiert. Der Professor für Schmerzforschung ist sein finsterer, unergründlicher Gegenspieler, der in seinem Privatlabor geheime Versuche an den „augenkranken Tieren" anstellt. Nachts dringen ihre Schmerzensschreie über das Gelände. Auch Papageno, der legendäre Revierchef des Vogelhauses, gehört bereits zum Zooinventar. In den Einzelgänger verliebt sich Dorothee Matthes, die als angehende Zoologin eine Stelle im Garten antritt, um über Großkatzen zu forschen. Doch ihre leidenschaftliche Affäre zerbricht an Papagenos Erinnerungen an Jali – an eine bewegende Liebe.
Papageno hat die litauische Jüdin in den dreißiger Jahren kennen gelernt, im Berlin der Olympischen Spiele. Sie will von ihm Deutsch lernen, er lernt von ihr die Sprachen, die sie kennt, vor allem die der Liebe. Beide können nur ahnen, wie bedroht Jali ist. Eines Tages verschwindet sie. Papageno hofft, im Zoo auf ihre Spuren zu stoßen.
Wild und wahnsinnig: die Welt als Zoo.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
In der Stadt, hundert Schritte vom deutschen Zoo, gab es das Deutsche Reisebüro. Dieses betrat, im Jahr des Großen Sportfestes, eine junge Frau, um sich Auskunft zu holen über Reisen nach Übersee. Aber es war nur ein Spiel. Ihr heimlicher Verlobter war angestellt im Deutschen Reisebüro, und sie ärgerte ihn gern mit ihren exorbitanten Reisewünschen. Ließ ihn Weltkarten entrollen und die Karten von Zeitzonen, wollte, daß er Stapel von Kursbüchern, Schiffahrts- und sogar Luftfahrtprospekte heranschleppte. Dabei mußte er natürlich so tun, als würde er sie nicht kennen: Spielregel Nummer eins. Und die gesamte Belegschaft des Deutschen Reisebüros mußte ein Gleiches tun: Spielregel Nummer zwei. Denn eigentlich gab es im Deutschen Reisebüro ein Schild, das der jungen Frau verbot, sich überhaupt dort aufzuhalten. Da wir aber das Jahr des Großen Sportfestes schrieben, in dem der gute Sportsgeist Spielregel Nummer drei war, hatte man das Schild vorübergehend entfernt. Außerdem war die junge Frau eine bekannte Photoreporterin und wurde gebraucht, um die Sportler zu photographieren und ihren Geist. So entstehen die langen Mißverständnisse. Sei’s drum, am liebsten photographierte sie ohnehin, hundert Schritte vom Deutschen Reisebüro, die Tiere im Zoo, den sie einmal am Tag als blinde Passagierin bereiste, denn auch dort gab es eigentlich Schilder. Vielleicht suchte sie die Tiere aus dem Vaterland ihrer Mutter, einem entlegenen Ort, von dem wenige wußten. Wenn ihr heimlicher Verlobter Mittagspause machte, oder nach seinem Dienstschluß, oder am Wochenende, oder an den vielen Feiertagen, die man damals schrieb, trafen sie sich im Zoo bei den Tieren. Oft spielten sie Verstecken, und immer fanden sie einander wieder. Das ist etwas Ungewöhnliches in einer Liebesgeschichte. Und in dieser ganz besonders. Denn immerhin rühmte sich der deutsche Zoo, der größte der Welt zu sein. Viele Paare verfehlten sich in ihm, viele einzelne Menschen verirrten sich, viele fanden, kurz vor Toresschluß wenn die Ordner die Glocken läuteten, den Ausgang nicht. Die junge Photographin und der junge Angestellte liebten einander wie nie zwei Menschen zuvor. Vom Danach wollten sie nichts wissen. Dabei half ihnen der Zoo, in dem die Tiere ihren nie endenden Tag lebten, zu dem auch die Nacht gehörte. Nachts, wenn der Zoo geschlossen war, sorgte sich die junge Frau manchmal um die Berechtigung ihres Glücks. Es gilt als nahezu erwiesen, daß ausschließlich »junge« Menschen, das heißt Menschen, die als letzte gekommen sind, von dieser Sorge befallen werden. Dann beschäftigte sich die junge Frau mit den Nachtmahren der Naturvölker. Sie versuchte, eine Geschichte zu schreiben über die Nachtmahre der möglicherweise glücklichsten Völker, die je die Sonne sahen. Es machte ihr angst, daß sie so glücklich war und vom Danach nichts wissen wollte, und sie malte sich aus, welche Nachtmahre die glücklichen Naturvölker gehabt haben könnten. Eines Nachts, im Jahr des Großen Sportfestes, biß sie ihren heimlichen Verlobten in seine ausgestreckte Hand. Diese Hand war wie aus Holz. Tut es weh, in Hände aus Holz zu beißen? Wir wissen es noch nicht. Wieder kommt unsere Geschichte zu spät. Denn die Naturvölker glaubten, die Affen seien die Nachfolger der Menschen, und die Menschen seien aus Holz gewesen. In einem Zoo, den die Naturvölker nicht voraussehen konnten, saß das glückliche junge Paar unter Bäumen, die so alt waren, daß der Wind sie gepflanzt haben mußte. Und unter dem Holz der Bäume ruhte die vorgeschichtliche Riesenschlange. Noch war ihre Zeit nicht gekommen. * Am siebzehnten Tag des zweiten Monats des neuen Jahres entführte Karl-Walther, ohne Dorothee Matthes vorzuwarnen, einen Molukkenkakadu und erklärte ihn für unheilbar krank. In der Tat wollte der sprachbegabteste unter den Kakadus, der Molukke, nicht sprechen, aber sonst fehlte ihm nichts. Er konnte Purzelbäume, und als Karl-Walther ihn im Morgengrauen in einem Transportkäfig nach Hause schleppte, hangelte der große Vogel rücklings an den Stangen entlang und stellte die feuerrote Federhaube auf. Er hatte keinen Namen, sondern lebte seit Jahren im Vogelhaus mit seiner Frau, deren Iris dunkelbraun war. Die Frau wollte ebenfalls nicht sprechen und machte kein Aufhebens um den entführten Partner. An diesem Morgen fiel der Schnee so dicht im Zoo, daß Karl-Walther glaubte, ertaubt zu sein. Den turnenden Molukken in einem hohen Holzkäfig auf den Schultern, kam Karl-Walther sich vor wie ein Thronräuber im Himalaya. Die Wölfe erwachten in ihren Kuhlen, sie drehten langsam ihre Köpfe vom Vogelpfleger zu einer Erscheinung, die in einiger Entfernung unförmig und grellweiß im vom Schnee erhellten Dunkel stand. Der Schneemensch, dachte Karl-Walther, ist gekommen, um mir meine Krone zu rauben, der Höhepunkt meiner Laufbahn, wenn ich ihn überlebe, ist da. Dann erkannte er ihn. Zum ersten Mal begegneten sie einander allein im Zoo. Der Schneemensch setzte einen Fuß vor, zog ihn zurück. Karl-Walther tat drei Schritte, die er zählte, vorwärts. Blieb stehen. Der andere kramte in den Tiefen seines weiß und dicht behaarten Mantels, holte etwas hervor, riß den Arm hoch. Die Flamme eines Sturmfeuerzeugs flakkerte auf, und Karl-Walther sah schwarze Brillengläser. Er mußte an ihm vorbei, mitsamt dem Molukken, aber der Weg war schmal und schneeverweht. Die flache türkische Zigarette berührte fast Karl-Walthers Nasenspitze, die schwarzen Gläser glitzerten feucht, die Zigarette zitterte. In der Klemme. Einem von ihnen war es bestimmt, rückwärts ins immergrüne Gebüsch zu treten, dem anderen Platz zu machen. Karl-Walther schaute nach oben. Der Kakadu streckte seinen Kopf durch die Gitterstäbe und äugte auf die weiße Pelzmütze des Menschen hinunter, der Kakadu fing an zu nicken, wollte vielleicht sprechen. Noch nicht, dachte Karl-Walther, wenn schon, dann bring ich es dir bei. Eine behandschuhte Hand schoß aufwärts, packte den Schnabel des Vogels, hielt ihn schraubstockartig fest, während die andere Hand langsam, gründlich die Zigarette am schwarzen Horn des Schnabels ausdrückte. Karl-Walthers Linke griff nach der Hand, aber sie war wie aus Eisen. Die Linke des Rauchers kroch an Karl-Walthers Arm hoch, umklammerte seine Hand, versuchte sie zu quetschen. Karl-Walthers Rechte krallte sich in die behandschuhte Linke, setzte zu einem Sehnenreißer an. Der Kakadu trommelte mit den Füßen auf dem Käfigboden, der Lederriemen, mit dem der Transportkäfig an Karl-Walthers Rücken befestigt war, verrutschte, löste sich, und Karl-Walther kippte hintüber ins Gebüsch. Der Molukke badete im ersten Schnee seines Lebens. Sagte aber nichts. »Nur ich weiß es«, sagte der Professor für Schmerzforschung. »Vergiß das nicht. Nur ich weiß, wie es weiterging.« Ein kurzer Blick, lange Gedanken. Der Professor ließ Karl-Walther im Schnee liegen und entfernte sich Richtung Eiscafé. Der Kakadu stellte seine rote Federhaube auf und öffnete den Schnabel. Nicht, warte, bis wir zu Hause sind. Karl-Walther schulterte den Käfig aufs neue und trug seinen Patienten durch das Schneetreiben zum Flußpferdannex. Unterwegs sah er eine Krähe, die eine leere Kekspackung aus dem Abfallkorb zerrte und nach Krumen hackte. »Weihnachtsspekulatius«, las er. Plötzlich roch die schneesatte Luft nach Kakao, und er schüttelte sich wie ein nasser Hund und hastete weiter. Wie viele Tassen heißen Kakao er wohl in den wenigen Jahren, als er liebte und geliebt wurde, getrunken hatte? Er suchte nach einer Zahl in seinem Kopf. Fünftausend Tassen Kakao. Eine Zahl, eine beruhigende, wie in einem Geschichtsbuch, fünftausend Tote, das ist geschehen, daran gibt es nichts zu rütteln, und der Trauermarsch der Ereignisse kann weitergehen. Die meisten Tassen Kakao, erinnerte er sich dann doch fort, waren verziert gewesen mit Sonnengesichtern aus Sahnetupfern, mit kleinen Makronen, arrangiert in Herzgestalt. Sie brachte den Kakao aus der Küche, den langen dunklen Flur entlang, »Oioioi« murmelnd, zwei Tassen, eine für sich, eine für ihn. »¡Salud!«, sagte sie auf Spanisch, der Sprache ihrer Mutter. »Prost«, antwortete er, und sie schütteten den Kakao in ihre Hälse, einander nicht aus den Augen lassend. Jali erzählte. Wie sie als kleines Kind mit einer Nuckelflasche zwischen ihren rosigen, weichen, vollen Lippen erwachte und warmen Kakao nuckelte an der gräßlichen Grenze zwischen Schlaf und Leben. Wie ihre Mutter sich neben sie legte und auf Spanisch sagte: »Ich wär lieber dein Kind, Jael.« Wie der Herbst in der »Steinstadt«, aus der sie kam, das Heimweh ihrer Mutter verdoppelte, verdreifachte, nach dem Meer, dem blauen, dem Kraft spendenden, Füße küssenden. Wie Jali als Kind glaubte, die Fische bekämen Bauchweh vom Meer und würden es eines Tages leergetrunken haben. Karl-Walther trat die Tür zu seinem Wohnzimmer auf. Der Molukke schlug unruhig mit den Flügeln. Karl-Walther fegte ein paar Gläser und verkrustete Teller vom Campingtisch und stellte den Vogelkäfig darauf. Der Mond beschien den Schnee, und der Schnee schimmerte ins Zimmer, so daß der Molukke in ein fahles, unwirkliches Licht getaucht wurde. Karl-Walther deckte den Käfig mit seinem Schal zu und ging ins Schlafzimmer. »Zu mir!« sagte Dorothee. Sie klopfte auf sein Kopfkissen. Sie stemmte die Hände in die Hüften, streckte ihre nackten langen Beine in die Luft und strampelte, als würde sie radfahren. Er streifte seine Stiefel ab und ließ sich rücklings neben die glückliche Zoologin fallen. Sie kuschelte sich an ihn....