Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-492-97396-0
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Romantrilogie »Das Mädchen«, »April« und »Jahre später«, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet. Die französische Übersetzung ihres Romans »Vierunddreißigster September« stand auf der Longlist des Prix Femina 2022. Ihr Roman »Risse« wurde für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominiert.
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Hilde
Sieh mal die Blumen, wollte sie sagen, doch sie tat es nicht. Der Frost hatte das Fenster mit Eisblumen überzogen. Sie hauchte an die Scheibe, bis sie durchschauen konnte. Die Laternen warfen Splitter aus Licht, es war sechs Uhr morgens, der Dorfanger lag still da. Stille wie vor dem Weltende. Nur eine Taube hüpfte am Zaun entlang, ihr fehlte ein Fuß; sie sah ramponiert aus und fügsam, als wartete sie auf einen Habicht. Sie hörte Walter rufen: Hilde, hast du meine Handschuhe gesehen? Obwohl sie sich nach über vierzig Ehejahren noch nicht daran gewöhnt hatte, dass er sie fragte, wo etwas lag – manchmal direkt vor seinen Augen –, blieb sie gleichmütig. Hier, sagte sie und reichte ihm die Handschuhe, vergiss nicht den Arzttermin, doch da war er schon zur Tür hinaus. Sie folgte Walter durch den Garten. Er drehte sich zu ihr um, sein Atem stieg in kleinen Wolken auf. Vergiss nicht den Arzttermin. Er nickte, holte das Moped aus dem Schuppen und fuhr los. In der Küche räumte sie das Geschirr in den Spüler, öffnete das Fenster und atmete tief aus. Der bleiche Mond, wie angeklebt, da oben. Sie hörte die ersten Autos starten. Die Bäuerin vom Mühlenhof wartete an der Bushaltestelle. Die Schriftstellerin ging mit ihrem Hund in Richtung Wald. Sie stand meist früh auf, doch es kam auch vor, dass sie erst mittags das Haus verließ, ramponiert wie die fußlose Taube. Hilde wusste nicht, ob sie die Schriftstellerin mochte. Leere Weinflaschen lagen verstreut in ihrem verwilderten Garten. Dann die laute Musik, oft bis zum frühen Morgen, und das Getrommel ihres Freundes. Ihn nannte sie nur den Trommler. Er war im vergangenen Sommer aufgetaucht, mit einer gelben Blume in der Hand, seitdem waren die beiden zusammen. Hilde wusste nicht, welchen Beruf er ausübte, aber er trommelte, wann es ihm in den Sinn kam. Ein großer, schöner Mann, Anfang fünfzig, Augen wie ein Husky. Sie waren die Einzigen im Wartezimmer. Dr. Kies ging über den Flur und nickte ihr zu, sein Blick war ernst. Er war eigentlich Orthopäde und nur deshalb ihr Hausarzt, weil Hilde bis zur Rente als Arzthelferin für ihn gearbeitet hatte. Walter hatte zwei gut sichtbare Beulen auf der Stirn, links und rechts unter der Kopfhaut; sie bestanden aus Fettgewebe, hießen Lipome und waren in der Regel ungefährlich. Wenn sie auf ihn wütend war, dachte sie: Gehörnter. Heute tat er ihr leid. Walter mochte keine Ärzte. Sie hatte ihn lange überreden müssen und die Lipome vorgeschoben, doch was ihr wirklich Sorgen bereitete, waren seine rasenden Kopfschmerzen, dazu Schwindel und ein Gefühl der Taubheit in den Händen. In der vergangenen Woche hatten sie eine MRT machen lassen, gestern dann hatte Dr. Kies wegen der Ergebnisse angerufen. Vor der Praxis zerriss ein Krachen die Stille, in vier Wochen war Silvester. Im letzten Jahr war ihr Briefkasten von Böllern zerfetzt worden. Hilde betrachtete die Bilder an den Wänden. Als Arzthelferin hatte sie oft davorgestanden und versucht, die schwarzen Striche und Kreuze zu deuten – sie hatte Wut und Verzweiflung darin gesehen. Aus der Tür des Behandlungszimmers trat Röschen heraus, die Alte, die draußen im Wald wohnte. Röschen nickte ihr zu und seufzte, sie sah verwirrt aus, fand Hilde, und einsam. Walter hockte gekrümmt auf dem Stuhl, den Kopf zwischen den Schultern, er schlief oder gab es zumindest vor. Innerhalb eines Atemzugs wusste Hilde Bescheid, sie musste allein mit Dr. Kies sprechen. Sie kannten sich gut; seiner Meinung nach konnten Männer bestimmte Arbeiten besser verrichten als Frauen und umgekehrt, während sie glaubte, dass Fürsorge und Herzenswärme den Frauen vorbehalten waren. Hilde schloss die Tür hinter sich. Dr. Kies stand vor dem Fenster, sah sie verwundert an: Wo ist dein Mann? Sie bemühte sich, ihm beizubringen, dass Walter ein schlechtes Ergebnis niemals ertragen würde. Dr. Kies schüttelte den Kopf. Du weißt, ich muss – So ein Quatsch, unterbrach sie ihn, setz dich. Ich will alles hören. Während er weitersprach, versuchte sie sich zu erinnern, wann seine ergrauten Haare völlig weiß geworden waren. Glioblastom mit großer Raumforderung, sagte er, inoperabel, rasant, Hirnödem weit fortgeschritten – wie kleine Pinsel wucherten ihm Haare aus der Nase – statistisch gesehen … Bei der Statistik winkte sie ab. Dr. Kies konnte nicht alle Weisheit für sich beanspruchen, auch er war ein Mann, der einen Bauch und dicke Hüften bekam und dessen Hände leicht zitterten. Die Welt wird sich weiterdrehen, sagte sie, Statistik hin oder her, und natürlich keine Chemo. Am nächsten Tag besorgte sie die Schmerzmittel. Walter hörte sich ihre Erklärungen an, ohne Fragen zu stellen, er schien nicht argwöhnisch, hegte bemerkenswerterweise keinen Groll auf den Doktor. Drei Wochen nach der Diagnose stolperte Walter beim Gehen, sah neben sich seinen Hund Juri, der vor Jahren gestorben war, verwechselte den Dachboden mit dem Keller. Sie beobachtete ihn misstrauisch, wenn er sie morgens freundlich begrüßte. Er hatte sie sogar in den Goldenen Ochsen eingeladen und ihr freiwillig den Fensterplatz angeboten. Wer saß da in seinem Kopf und sah sie an? Was ist nur los mit ihm, fragte sie den Arzt. Ein Wesenswandel, erklärte Dr. Kies, das kommt vor. Seine lebenslange Wut, einfach so verschwunden? Dr. Kies nickte und nieste heftig, ohne sich die Hand vor die Nase zu halten, winzige Tropfen schnellten durch die Luft. Wir sollten das Thema Tod besprechen, sagte er. Dein Mann hat nicht mehr lange. Das ist alles, fragte sie. Er lachte laut: Das ist alles. Die Temperatur im Raum schien sich zu ändern. Dr. Kies saß breitbeinig hinter dem Schreibtisch und schlürfte seinen Kaffee. Er sagte: Längst zu spät für eine Chemo. Es klang für sie, als spräche er von einer vergeblichen Aufforderung zum Tanz, vor Jahren geäußert, nun eingefordert, längst zu spät. Hilde nahm den Weg durch den Wald, der an dem versumpften Teich endete und sie an eine alte Abbildung aus der Kreidezeit erinnerte. Kahle Äste ragten über die Eislandschaft, der Morast lag unter einer dicken Schneeschicht begraben. Eine Brücke führte zu dem Haus von Röschen, an ihrem Grundstück floss ein Bach vorbei, auch der war zugefroren. Krähen jagten durch die Luft, hinter den Bäumen waren Schüsse zu hören. Sie machte sich auf den Rückweg. Es dämmerte, als sie das Dorf erreichte. Das Licht der Laternen fiel in den Garten der Schriftstellerin. Sie sah die Frau vor dem Brennholzstapel stehen und hörte sie mit sich selbst reden. Hallo, Frau Nachbarin, rief sie. Die Schriftstellerin drehte sich um, als hätte sie Hilde erwartet. Was machen Sie Silvester? Das Übliche, antwortete Hilde. Kommen Sie doch zu uns. Mein Freund gibt mit seiner Band ein Konzert. Wir können noch Gäste gebrauchen. Oh, danke, erwiderte sie, überrascht von dem Angebot, und betrachtete die Schriftstellerin genauer. Sie trug einen Bademantel und kam ihr müde vor. Alles in Ordnung? Stiche im Kopf, sagte die Schriftstellerin, eine meiner Romanfiguren leidet daran, und die Schmerzen sind auf mich übergegangen. Das kommt vor beim Schreiben. Hilde war merkwürdig berührt, als sie sich verabschiedeten. Die freundliche Einladung brachte sie zum Staunen. Dann die Selbstgespräche und ihre Offenheit. Wie gern hätte sie der Schriftstellerin erzählt, dass sie ihren Traum lebte, oder ihr sogar eins ihrer eigenen Gedichte gezeigt. Zu Hause stand ein Blumenstrauß auf dem Tisch – echte Rosen. Walter lächelte sie an und fragte nach ihrem Tag. Sie erzählte ihm von der Begegnung mit der Schriftstellerin. Vielleicht ist sie aus dem Takt, sagte er. Nicht sie, dachte Hilde. Die suchen jemanden in der Försterei. Ja, und? Sie zuckte mit den Achseln. Es ist wegen dem Jungen, Hans? Er wollte doch dort arbeiten, oder? Hilde glaubte sich verhört zu haben. Das war Jahre her, und Walter hatte den Jungen gehasst, vor Wut gezittert, wenn sie nur seinen Namen nannte. Am liebsten hätte sie gegen seine Freundlichkeit angebrüllt. Hatte er denn alles vergessen? Wo war sein trockener, staubiger Kern, wo seine Bösartigkeit geblieben? In diesen Tagen wollte Hilde nur gehen und gehen, in den Wald, über die Felder, bloß nicht nach Hause. Die Schneeflocken fielen dicht, schluckten die Geräusche. Mit jedem Schritt versanken ihre Stiefel tiefer im Schnee, sie entdeckte Fährten von Tieren, trotzdem ging sie weiter, konnte nicht aufhören. Sollte sie sich hier in der wattigen Stille von all dem Weiß begraben lassen? Sie blieb eine Weile stehen und atmete durch. Auf der Lichtung sah sie einen Fuchs. Er schoss aus dem Schnee, streckte seinen rötlichen Körper, die Läufe weit von sich, wirbelte durch die Luft, drehte sich einmal, zweimal, als würde er eine Tanzmelodie hören. Ein rauer Luftzug streifte ihr Gesicht. Der Fuchs war verschwunden, es hatte aufgehört zu schneien. Walter sprach von Freunden aus seiner Schulzeit, als hätte er sie erst gestern verabschiedet. Er werde mit ihnen zelten fahren, an die Ostsee, mit dem Moped. Er stand vor ihr und sagte: Ich bin verkatert, habe so viel getrunken gestern Abend. Mit wem denn? Mit Frieder, sagte er, wir haben gefeiert, er hat seine Fahrprüfung bestanden, das war zünftig. Das war früher, sagte sie. Kann schon sein, seine Stimme klang nachdenklich. Du bist alt. Aber wir sind zu Hause. Wer ist Frieder? Du kennst ihn nicht? Sein Erstaunen kam ihr echt vor. Walter kramte alte Fotos hervor. Ein aufregendes Leben hatten wir, sagte er und zeigte ihr einen Schnappschuss, allerdings ohne Frieder. Sie beide standen...