E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Klippenvåg Ein liebenswerter Mensch
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-86300-291-6
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-86300-291-6
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kjerand ist sein Leben lang nicht aus dem kleinen Ort herausgekommen, in dem er zur Schule gegangen ist. Er hat sich in sein Schicksal gefügt, seine Homosexualität verleugnet und den Hof der Eltern übernommen. Das ändert sich radikal, als er mit sechzig seine Krebsdiagnose bekommt, zur Strahlentherapie nach Oslo muss und dort seinen Schulfreund Birger wiedertrifft.
Birger hat alles anders gemacht. Er ist nach Oslo gezogen, betreibt eine Kunstgalerie, lebt sein schwules Leben. Doch hat er zu sich selbst gefunden? Die Begegnung der beiden stellt alles auf den Kopf. Kjerand erlebt im Kampf gegen den Krebs sein spätes Coming-out, die Verwirrung der Gefühle. Und Birger erfährt, dass Liebe viel mehr bedeuten kann als guter Sex.
In leisen Tönen und präzisen Beobachtungen erzählt Odd Klippenvåg davon, dass es nie zu spät ist, dem Leben eine andere Richtung zu geben, eine neue Möglichkeit auszuprobieren. 'Ein liebenswerter Mensch' ist - wie schon sein Roman 'Der Stand der Dinge' - eine anrührende Liebesgeschichte, die auch den unausweichlichen Härten des Lebens nicht aus dem Weg geht.
Odd Klippenvåg wurde 1951 auf den Lofoten geboren. Seit 1978 veröffentlicht er Romane und Erzählungen und ist ein Liebling der norwegischen Literaturkritik. Er wurde für mehrere seiner Bücher ausgezeichnet und erhielt 2014 den Riksmålspreis für seinen Roman 'Ada'. Auf Deutsch erschien bereits sein Roman 'Der Stand der Dinge' (2010).
Weitere Infos & Material
1
«Eben hat ein Mann nach dir gefragt.» Ich rief Alice jeden Donnerstag gegen Feierabend an, und wenn ich das ein seltenes Mal vergaß, meldete sie sich bei mir. Natürlich war ich neugierig darauf, ob in der Galerie etwas verkauft worden war; wenn nicht, wollte ich wissen, wie der Besuch an den Tagen gewesen war, an denen Alice mich vertreten hatte. Alice war auf jeden Fall ein Segen, freundlich und pflichtbewusst. Ich hatte sie eingestellt, als ich gerade fünfundfünfzig geworden war, um mich zu entlasten. Ich konnte häufiger auf Reisen gehen, auch ins Ausland, um Ausstellungen zu besuchen, und wenn ich krank war, und sei es nur eine Erkältung, sprang Alice gern für mich ein. Normalerweise würde ich mich kaum daran erinnern. Denn im Laufe eines Tages kommen so viele unterschiedliche Menschen in die Galerie, oft Bekannte, die ein bisschen plaudern möchten, Stammkunden zum Beispiel oder Künstler. Deshalb hätte ich wohl kaum darauf geachtet, was Alice sagte, wenn sie nicht weitergeredet und erzählt hätte, wie sie auf diesen Mann aufmerksam geworden war. Ich weiß noch, dass sie erzählte, der Fremde habe länger durch die offene Bürotür zu ihr hereingeschaut, als sich die Bilder anzusehen. Natürlich fragte ich jetzt, ob sich der Mann nicht vorgestellt oder eine Mitteilung hinterlassen habe. «Nein», antwortete Alice. «Nichts davon.» Hier hätte ich das Thema wechseln oder alles mit einem Scherz abtun können, mein Privatleben habe ich immer gehütet, aber weil sie nun den Mann beschrieb, versuchte ich, ihn mir vorzustellen, jedoch vergebens. Sie beschrieb ihn als einen Mann ungefähr in meinem Alter, groß und schlank, in beigem Mantel, grauhaarig und mit leicht geröteten Wangen. Nach mehreren Minuten, vielleicht einer Viertelstunde, meinte sie, sei der Mann in den ersten Stock hochgegangen, um aber gleich darauf wieder herunterzukommen und sie zu fragen, ob diese Galerie nicht Birger Mostul gehöre. Das hatte sie natürlich bestätigt. Sie hatte gesagt, der Besitzer, also ich, werde am folgenden Tag anzutreffen sein. Danach stand der Mann stumm in der Türöffnung, enttäuscht, wie ihr schien, doch dann bedankte er sich für die Auskunft, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Sie sagte, es sei schon seltsam gewesen, der Mann habe so bewegt gewirkt. Weil sie dieses bedeutungsschwangere Wort benutzte, musste ich es fragend wiederholen. «Ja», antwortete Alice. «Ich kann es nicht besser ausdrücken.» Am nächsten Tag ließ sich niemand sehen. Auch am Tag danach nicht. Übrigens dachte ich nicht mehr daran, was Alice erzählt hatte. Es gab so viel zu tun. Die alte Ausstellung musste abgenommen und die neue montiert werden. Außerdem verbrachte ich ein Wochenende in Stockholm, wo ein Freund einen runden Geburtstag feierte. Ich hätte mir diese Reise sparen können, denn sie wurde zur Enttäuschung. Stockholm war ebenso grau wie Oslo, und Bo Jönsson war zu einem bemitleidenswerten älteren Herrn geworden, der sich für viel jüngere Männer lächerlich machte. Wie kann sich ein Mensch so verändern?, fragte ich mich, ehe ich mich kurz nach Mitternacht von dem lärmenden Fest in der großen Wohnung in der Drottninggata davonschlich. Ich hatte gehofft, in Liljevalchs Kunsthalle vorbeischauen zu können, ehe ich am nächsten Tag zum Flughafen musste, aber dann rief Bo an und bestand auf einem Treffen. Wir verabredeten uns in der Hotelbar, mehr Zeit hätte ich nicht, log ich, und als wir dort saßen, wurde ich in meinem Urteil über Bo immer sicherer. Es stellte sich heraus, dass er sich in einen fast dreißig Jahre jüngeren Mann verliebt hatte. Als ich fragte, warum Bo ihn auf dem Fest nicht vorgestellt habe, erfuhr ich, dass der Freund wegen einer Geschäftsreise in die USA nicht anwesend gewesen sei. Sein Fehlen hatte Bo manisch und exaltiert gemacht, wie ich nun begriff, und deshalb hatte er mit einem jungen Gast nach dem anderen geflirtet und getanzt. Mag ich Bo wirklich gern?, musste ich mich fragen. Mir ging auf, dass das zwischen uns vor langer Zeit geschehen war, und als wir uns mit einer Umarmung und gegenseitigen Versicherungen verabschiedeten, uns bald wiederzusehen, geschah das meinerseits mit gemischten Gefühlen. In Oslo quälte mich dann eine Unsicherheit, die sich ab und zu einstellte. Es war der Verdacht, dass alles umsonst gewesen sei. Alles, was ich getan hatte. Ein ganzes Leben. Weil ich eine Mail von Alice erwartete, schaute ich in der montags geschlossenen Galerie vorbei. Über die Hälfte der Bilder war verkauft worden. Darüber freute ich mich natürlich. Ich rief die Künstlerin an, um ihr Bescheid zu sagen, aber Terese wirkte schlecht gelaunt und mürrisch. Zuerst dachte ich, ich hätte sie geweckt, obwohl es bereits später Vormittag war, aber dann hörte ich klapperndes Geschirr und fließendes Wasser, woraus ich schloss, dass sie immerhin schon aufgestanden war. Ehe ich das kurze Gespräch beendete, hörte ich im Hintergrund einen Mann, einen geräuschvollen Raucherhusten, und nun stellte ich mir eine trostlose Küchenszene vor, wo der Mann sich aus dem Fenster beugt und raucht, halb nackt, während der Zigarettenrauch in die Küche hineintreibt, obwohl das Gegenteil beabsichtigt war, auf Terese zu, die mitten im Raum steht, im Morgenrock, barfuß mit abgesplittertem roten Nagellack an den Zehen, wie ich sie einmal gesehen hatte. Danach saß ich mehrere Minuten an meinem Schreibtisch im Büro. Wieder trübte sich meine Stimmung. Ich dachte daran, wie wenige Maler es gibt, bei denen wirklich die Rede davon sein kann, dass sie ihre Kunst voll ausgeschöpft haben, und bei Terese war das eben nicht der Fall. Am Ende erhob ich mich und wanderte in der Galerie umher. Hier und da blieb ich stehen, um einige der Bilder, Vasen und Urnen zu betrachten. Viele waren sichtlich von griechischer und ägyptischer Kunst inspiriert. Einige waren mit verwelkten Blumen gefüllt, Lilien und Zantedeschien. Andere klafften mit ihrer Leere. Als ich auf die Straße hinaustrat, wurde ich von scharfem Sonnenlicht geblendet. Es dauerte nur einen Moment, dann schoben sich Wolken vor die Sonne. Aber es regnete nicht, und ich spazierte nach Hause, durch den Schlosspark, wo die Bäume schon ihre bunten Herbstfarben zeigten, überquerte den Parkvei und ging weiter die Riddervoldsgate hoch. Der Spaziergang besserte meine Laune ein wenig, deshalb kochte ich mir eine Kanne grünen chinesischen Tee und setzte mich in meinen Lieblingssessel, einen alten Ohrensessel aus meiner Kindheit. Ich musste wieder an Bo denken, an das starke Begehren, das ich einmal verspürt hatte. Ich erinnerte mich daran, dass Bo ein besonderes Merkmal gehabt hatte, einen Ständer, der immer nach links zeigte und auf seltsame Weise rau war, egal, wie man ihn anfasste. Ich dachte an mein Leben. Weil ich mich die ganze Zeit im Wohnzimmer umsah, wo die Bilder an den Wänden dicht an dicht hingen, begann ich mich darüber zu wundern, dass Terese sich offenbar so wenig über den guten Verkauf gefreut hatte. War es ihr peinlich gewesen, den Mann zu Besuch zu haben? Soviel ich wusste, hatte sie keinen festen Partner. War sie einfach erschöpft nach der vielen Arbeit? Es hatte fünfundvierzig Werke gebraucht, um beide Etagen der Galerie zu füllen. Jedenfalls hoffte ich, dass sie nicht wieder auf dem Weg in die Depression war, die ihr schon einmal zwei Arbeitsjahre gestohlen hatte. Als ich mich auf die Zeitungen stürzen wollte, die ich wegen der Reise nach Stockholm nicht gelesen hatte, merkte ich plötzlich, wie die Sonne durch die hohen Fenster schien. Ich saß dann nur da und starrte das schräge Lichtdreieck auf dem Boden an, halb auf dem Perserteppich, halb auf dem Parkett. Später erhob ich mich, ging zum nächsten Fenster und schaute hinaus. Der Himmel über den Hausdächern war blau. Trockene Bürgersteige. Ich dachte: Warum nicht zur Hütte fahren? Da Alice die Galerie hütete, lagen drei freie Tage vor mir. Wenn ich rasch einen Entschluss fasste, könnte ich die Stadt vor dem nachmittäglichen Stoßverkehr verlassen. Ich erwog kurz das Für und Wider. Und beschloss, mich auf den Weg zu machen. Am folgenden Sonntag saß ich mit einem angenehmen Gefühl in der Galerie. Die Seeluft hatte mir gutgetan. Es kam ein stetiger Besucherstrom, aber dennoch herrschte eine seltsam ruhige Stimmung. Wenn ich von meinem Buch aufblickte, einem Buch über dänische Malerei im neunzehnten Jahrhundert, sah ich genau auf das Bild, das ich für Tereses allerbestes halte. Es zeigt eine schwarze Urne mit weißen Zantedeschien, die sich zu den Seiten neigen; sie welken schon, der Rand der runzligen Blütenblätter hat sich hellbraun verfärbt. Die Blumen geben ihren Geist auf, hatte ich feierlich gedacht, als ich in der Hütte aufs Meer geblickt hatte. «Guten Tag, Herr Mostul!» Ich fuhr zusammen, denn ich hatte nicht gehört, dass jemand gekommen und in die Türöffnung getreten war. Dort stand ein Mann, und als ich den Gruß erwidert hatte, glaubte ich, das erste Bild des Tages verkaufen zu können, nur eine halbe Stunde nach dem Öffnen. Ich machte eine einladende Handbewegung, der Käufer solle sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch niederlassen. Aber der Mann rührte sich nicht. Er stand da und musterte mich lächelnd. «Erkennst du mich nicht, Birger?», fragte er. Zu meinem Bedauern musste ich gestehen, dass das nicht der Fall war, und erhob mich zögernd. «Ich bin Kjerand», sagte der Mann, trat über die Schwelle und hielt mir die Hand hin. In diesem Moment fiel mir ein, was Alice erzählt hatte, und plötzlich erkannte ich das zerfurchte Gesicht. Natürlich, das war Kjerand, Kjerand Lie! Ich griff über den Tisch nach seiner Hand, und in den Sekunden, in denen wir so dastanden, jagten mir Erinnerungsfetzen durch den Kopf, Spiel in Schnee und Tannenwald, Baden in Waldseen. Als wir losgelassen hatten, lief ich...