Klimó / Rolf | Rausch und Diktatur | Buch | 978-3-593-38206-7 | sack.de

Buch, Deutsch, 324 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 404 g

Klimó / Rolf

Rausch und Diktatur

Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen

Buch, Deutsch, 324 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 404 g

ISBN: 978-3-593-38206-7
Verlag: Campus


Rausch, Ekstase und Euphorie kennzeichneten sowohl die nationalsozialistische als auch die sowjetische Diktatur. Dazu gehören Vorstellungen von der rauschhaften Verschmelzung des Ich mit dem Kollektiv ebenso wie Masseneuphorie oder die Flucht in den Alkoholismus, die systemgefährdende Wirkungen hatten. In diesem Band wird erstmals dargestellt, wie der Rausch sowohl zur Stabilisierung des Regimes eingesetzt als auch in seiner bedrohlichen Form bekämpft wurde.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

I. THEORETISCHE EINFÜHRUNG

Rausch und Diktatur: Emotionen, Erfahrungen und
Inszenierungen totalitärer Herrschaft 11
Árpád von Klimó/Malte Rolf

Macht der Emotionen - Gefühle als Produktivkraft:
Bemerkungen zu einer schwierigen Geschichte 44
Alf Lüdtke

II. RAUSCH UND EMOTIONEN IN POLITISCHEN DISKURSEN
DER MODERNE

"Blinden Dingen Gesicht": Zur Bedeutungs- und Wirkungsgeschichte
des Begriffes Rausch im 19. Jahrhundert 59
Günter Schödl

Dionysische Politik und politisierter Dionysos:
Der Rausch-Diskurs zwischen Romantik und Lebensphilosophie 79
Nitzan Lebovic

III. KÖRPER, EXPERIMENT UND ENTHUSIASMUS:
RAUSCH IN DER FRÜHEN SOWJETUNION

Roter Rausch? Isadora Duncan, Tanz und Rausch im
ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion 95
Natalia Stüdemann

Fröhlich sein und singen - Musikalische Entgrenzungsszenarien im
sowjetischen Agitprop der zwanziger Jahre 118
Michael John

Rausch im Blut: Aleksandr Bogdanovs Experimente zwischen
Kunst und Wissenschaft 139
Margarete Vöhringer

IV. MASSE UND ERLEBNIS: RAUSCH IM FASCHISMUS UND NATIONALSOZIALISMUS

Sozialpsychologie der Akzeptanz des Nationalsozialismus:
Kritische Anmerkungen zu "Rausch und Diktatur" 153
Gudrun Brockhaus

Emotionaler Rausch: Zu den Mechanismen der Gefühlsmobilisierung
auf faschistischen und nationalsozialistischen Festen 177
Christoph Kühberger

Kontrolle statt Rausch? Marktforschung, Produktwerbung und Verbraucherlenkung im Nationalsozialismus zwischen Phantasien
von Masse, Angst und Macht 193
Stefan Schwarzkopf

V. UTOPIE UND ESKAPISMUS: RAUSCH IM NACHKRIEGSSTALINISMUS UND SPÄTSOZIALISMUS

"Von Schwindel befallen" - Enthusiasmus, Inszenierung und
Chaos im stalinistischen Aufbau am Beispiel der Kollektivierung
der DDR-Landwirtschaft 1952/53 219
Todd Weir

Rausch und Depression: Alkohol im kommunistischen Polen 239
Jan C. Behrends

Diktatur als Drogentrip: Rauschimaginationen in sowjetischer
Science-Fiction 255
Matthias Schwartz
VI. ANHANG

Danksagung 283
Bibliographie 284
Abbildungsverzeichnis 321
Autorinnen und Autoren 322


Wenn er aus seiner kleinen Arbeitsstätte oder aus dem großen Betrieb, in dem er sich recht klein fühlt, zum ersten Mal in die Massenversammlung hineintritt und nun Tausende und Tausende von Menschen gleicher Gesinnung um sich hat, wenn er als Suchender in die gewaltige Wirkung des suggestiven Rausches und der Begeisterung von drei- bis viertausend anderen mitgerissen wird, wenn der sichtbare Erfolg und die Zustimmung von Tausenden ihm die Richtigkeit der neuen Lehre bestätigen und zum erstenmal den Zweifel an der Wahrheit seiner bisherigen Überzeugungen erwecken - dann unterliegt er selbst dem zauberhaften Einfluß dessen, was wir mit dem Wort Massensuggestion bezeichnen.

"Ein Rausch, mir unheimlich in tiefster Seele, hob das Volk auf und nannte sich ›nationale Revolution‹. ›Der Rausch‹ - was für ein zweideutig deutsches Wort! Wie mischen sich darin Begeisterung mit Entgeistung, das Höchste mit dem Niedrigsten, das Glück der Enthemmung, das Elend der Vernunftlosigkeit. Andere Sprachen haben dies Zauberwort gar nicht; sie setzen dafür ein sehr sachliches und nüchternes wie: Intoxikation, Vergiftung. Vergiftet schien mir Deutschland, nicht enthoben."

"O glückseligste Zeit im Leben meines Volkes - o Zeit zwischen Öffnung und Schließung der Geschäfte!"

Von Anfang an haben Beteiligte wie Beobachter die Entstehung und den eigentümlichen Charakter von politischen Massenbewegungen und modernen Diktaturen als Zustände des Rausches beschrieben. Doch was lässt sich mit einem so schillernden Begriff, diesem "zweideutig deutsche[n] Wort", erklären? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen und Praktiken von Rauschhaftigkeit? Welche Verbindung besteht zwischen jenem vermeintlich "suggestive[n] Rausch", den Adolf Hitler als Massenerlebnis schildert, und der kollektiven Alkoholberauschung, wie sie Venedikt Erofeev in der Anspielung auf die Ladenzeiten und im Bild des Spirituosenverkaufs als große Volksbeglücker ausdrückte? Und was hatte es mit der "Enthemmung", "Vernunftlosigkeit" und "Vergiftung" auf sich, die der ins Exil gedrängte Literat Thomas Mann festzustellen meinte?
Das sind Fragen, die dieses Buch stellen möchte. Der thematische Bogen ist weit gespannt und doch kehrt die Grundfrage immer wieder: Welchen Ort hatte Rausch als "übersteigerter Gefühlszustand", aber auch als Moment von Grenzüberschreitung und Kontrollverlust in Zeiten der verschärften Grenzziehungen und der intensivierten Kontrolle diktatorischer Regime? Waren Rauschzustände einige der wenigen Nischen der Freiheit, in denen man sich den parteistaatlichen Zumutungen entziehen konnte, Akte gar der Renitenz, verwirklicht im Eskapismus? Oder diente die Berauschung von Menschen nicht eher den Diktatoren und ihren Propagandaexperten als Mittel der Beherrschung ihrer Untertanen, als effektives Instrument im Werkzeugkasten des Manipulationshandwerks?
Ein solches Fragenbündel verweist auf das grundlegende Paradox im Zusammenspiel von Rausch und Diktatur: Eine ekstatische und exzessive Transzendenz des Alltäglichen, die Rausch zu implizieren scheint, stand im Konflikt mit den potentiell allumfassenden Herrschaftsansprüchen und Kontrollphantasien diktatorischer Regime. Und dennoch erlaubten auch Diktaturen totalitären Zuschnitts Formen des Rausches, wenngleich in fest institutionalisierten Formen. Es wird hier der Versuch sichtbar, Zeiten und Orte begrenzter Entgrenzung zu schaffen und limitierte Räume des kontrollierten Kontrollverlusts einzurichten. Ein Versuch, bei dem die Ambivalenz in der Begegnung von Rausch und Diktatur überdeutlich hervortritt: Wie löst sich das Konflikt- und Spannungsverhältnis zwischen dem diktatorischen Kontrollzugriff auf Menschen und der Erosion von Kontrollmöglichkeiten in Rauschmomenten? Die variablen Antworten, die im Nationalsozialismus und in den Regimen sowjetischen Typs auf diesen Grundkonflikt gegeben wurden, sind Gegenstand dieses Buchs.


Árpád v. Klimó, PD Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Malte Rolf, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der HU Berlin.


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