Kleinpaß Literatur Kompakt: Theodor Fontane
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8288-5592-2
Verlag: Tectum Wissenschaftsverlag
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 2, 240 Seiten
Reihe: Literatur kompakt
ISBN: 978-3-8288-5592-2
Verlag: Tectum Wissenschaftsverlag
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Theodor Fontane - der bedeutendste deutsche Schriftsteller des Realismus. Susanne Kleinpaß legt mit dem zweiten Literatur kompakt-Band eine konzentrierte Darstellung zu Fontanes literarischem Gesamtwerk vor. Sie ordnet dessen Schriften biografisch, literarhistorisch und politisch-sozial ein und arbeitet in Interpretationen der wichtigsten Werke Fontanes zentrale Themen heraus: Den Konflikt zwischen individuellem Glückstreben und der Einhaltung gesellschaftlicher Normen, die Kritik an Adel, Bourgeoisie und Bildungsbürgertum, die Verantwortung von Familie und Gesellschaft für die Taten einzelner Personen, das Phänomen der Resignation, den Rückzug des Individuums ins Provinzielle und Kontemplative. Kleinpaß bezieht dabei den Fontane eigenen Erzählton und seine besondere, dem realistischen Erzählen dienende Produktionsästhetik ein und portraitiert den an der Schwelle zur Moderne stehenden Autor von Werken wie "Irrungen, Wirrungen", "Frau Jenny Treibel" und "Effi Briest".
Weitere Infos & Material
IV. Voraussetzungen, Grundlagen und Werkaspekte Fontane war für seine Zeitgenossen der Balladendichter, dann der Autor der Wanderungen durch die Mark Brandenburg und zuletzt der Romancier (Richter 1980, S. 118). Aus heutiger Sicht muss man sagen, dass diese Charakterisierungen Fontanes literarisches Tätigsein nur unzureichend beschreiben. Es ist gerade das facettierte Zusammenspiel der wechselweise aufeinander einwirkenden Arbeitsbereiche, die den Dichter in seiner literarischen Entwicklung vorantreiben. So arbeitet Fontane zeitlebens synchron an Schriften unterschiedlicher Genres, legt nicht selten das Brouillon eines Romans zur Seite und nimmt sich dann zum Beispiel die Wanderungen vor. Diese wiederum sind nicht ohne die schottischen Reiseimpressionen denkbar, so wie auch Effi Briest nicht ohne die autobiografischen Kinderjahre und sein großer Altersroman Der Stechlin nicht ohne Von Zwanzig bis Dreißig. Auch sein lyrisches Schaffen kann nicht unabhängig von den Romanen betrachtet werden. Fontanes spätere Gedichte sind gerade vor dem Hintergrund seines Schaffens als Romanautor von Interesse. Sie besitzen im Vergleich zur früheren konventionelleren Lyrik Fontanes einen neuen, sogenannten unlyrischen Ton. Sein episches Werk wiederum erstreckt sich nicht nur auf die letzten beiden Jahrzehnte, wenngleich dies zweifellos die Jahre seiner Meisterschaft sind. Kleinere, weniger bedeutende Erzählungen wie Geschwisterliebe oder Tuch und Locke entstehen bereits zu einem frühen Zeitpunkt. Historisch-politischer Hintergrund Das literarische Schaffen des Dichters vollzieht sich im Kontext der historischpolitischen Situation Preußens, des damals herrschenden europäischen Wissenschaftsverständnisses und der europäischen Romantradition des 19. Jahrhunderts. Schon vor dem Scheitern der 48er-Revolution zeichnet sich in der preußischen Politik eine Hinwendung zu greifbaren, realen Interessen ab, die 1853 erstmalig explizit als ‚Realpolitik‘ bezeichnet wird und zugleich eine klare Absage an die Philosophie des Idealismus darstellt. Mit dem Erwachen nationalstaatlichen Bewusstseins war die Überwindung der Rückständigkeit Preußens und der übrigen deutschen Staaten gegenüber England und Frankreich in Fragen der politischen Einheit und der Wissenschaft ein drängendes Anliegen geworden. Die Fortschrittsorientierung wirkte sich auch auf die literarische Zunft aus, wovon der Name des oben erwähnten Dichtervereins ‚Tunnel über der Spree‘ beredtes Zeugnis ablegt. Schließlich wurde mit dieser Bezeichnung die technische Unterlegenheit Preußens spöttisch ins Visier genommen (siehe oben, S. 29) (Balzer 2006, S. 18). Mit der Besiegelung der nationalstaatlichen Einigung durch den Deutsch-Französischen Krieg von 1870–71 war der Realpolitik zunächst Genüge getan, was Bismarck zu dem Schlagwort von der ‚Saturiertheit‘ Preußens bewegte. Reale Interessen waren beim aufstrebenden Bürgertum jetzt in eigener Sache gefragt. Die französischen, in das deutsche Kaiserreich fließenden Reparationszahlungen begünstigten die Entstehung einer wohlhabenden Mittelschicht. Mit Frau Jenny Treibel hat Fontane diesem wirtschaftlichen Aufstieg der Bourgeoisie und vor allem ihrer Fixierung auf Äußerlichkeiten das wohl humorvollste Denkmal seines Œuvres gesetzt. Adolf Menzel: Eisenwalzwerk (Moderne Cyklopen), 1872–1875 Auguste Comte Positivismus Zentrale wissenschaftliche Impulse jener Zeit liefert zum Beispiel der Positivist Auguste Comte. Er verwirft den Idealismus und das bis dahin gültige wissenschaftliche Instrumentarium. Er wendet sich gegen spekulative Methoden und Metaphysik und lässt einzig die minutiöse Beobachtung und das kontrollierte Experiment gelten, um diejenigen Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die allen Vorgängen immanent seien. Sein Schüler Hippolyte Taine hat den Positivismus auf die Ästhetik übertragen: La race, le milieu et le moment – zu übersetzen vielleicht als biologische Voraussetzungen, soziale Herkunft und historische Situation – werden fortan, vor allem im französischen Rahmen, zu den Säulen einer kontextinteressierten Kunst (Bunzel 2008, S. 21–23). Émile Zola setzt diesen Ansatz in seinem roman expérimental konsequent um: Erbanlagen und Milieu bestimmen in seinen Romanen unausweichlich das Individuum (Schneider 2006, S. 135). Davon grenzt sich Fontane entschieden ab: Vor allen Dingen verstehen wir ‚nicht‘ darunter [gemeint ist der Realismus] das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. [...] Aber es ist noch nicht allzu lange her, daß man (namentlich in der Malerei) ‚Misere‘ mit Realismus verwechselte und bei der Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, [...] sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben (CH 3, I, 240). Französische und britische Romantraditionen Die französischen Romanciers haben für den deutschen Realismus insgesamt nur eine untergeordnete Rolle gespielt, weil deren Romane die sozialen Schattenseiten für den deutschen Geschmack zu stark betonten und damit zu realistisch waren. Umgekehrt erschienen die deutschen realistischen Romane aus französischer Perspektive als zu idealistisch. Sie unterscheiden sich von dem französischen Realismus durch das sogenannte Verklärungsprinzip. Dieser für das Fontane’sche Œuvre zentrale Begriff wird unten weiter verfolgt (siehe S. 56 ff. und S. 65 f.). Aus deutscher Sicht erschien in dieser Hinsicht die englische realistische Romantradition als vorbildhaft (Steinecke 1975, S. 162; darin siehe auch den Abschnitt über den »Sonderweg des deutschen Romans«). Charles Dickens und William Thackeray mit ihrer getreuen Alltagsschilderung und Darstellung aller sozialen Klassen sind hier zu nennen; zugleich aber nehmen sie auch eine versöhnliche Perspektive ein (Verklärung) (Aust 2006, S. 78–80). Maßgebend für Fontane waren vor allem die historischen Romane des schottischen Dichters Sir Walter Scott. Der historische Roman bettet die Geschichte eines Individuums in gesellschaftliche Systeme ein. Durch diesen Fokus auf die Verstrickung von Lebensgeschichten in kulturelle Muster sowie ökonomische, soziale und politische Prozesse hat der historische Roman stilbildend für den deutschen Realismus gewirkt. Die »Scottsche Zwittergattung« zwischen Poesie und Historiografie ist in dieser Hinsicht wegweisend für den modernen Roman (Aust 2006, S. 141–143) und für Fontane, der eine Vorliebe für die Verknüpfung von Poetischem und Historischem besitzt. Von hier aus beginnt sein Weg von dem historischen Roman Vor dem Sturm zum Gesellschaftsroman, dessen Protagonisten mit der Gesellschaft in Konflikt geraten. In diesem Sinne hat Fontane mit zu dem (verspäteten) Anschluss der Deutschen an die europäische Romantradition beigetragen (Aust 1981, S. 75). William Holbrook Beard: Charles Dickens inmitten seiner Romanfiguren Sir Walter Scott Gattungsfragen Fontanes intensive Scott-Lektüre hat großen Einfluss auf seine Romane gehabt. So greift er zum Beispiel auch das von Scott entwickelte, aber von dem Schotten selbst nicht immer eingehaltene Kriterium auf, gemäß dem im Roman nicht mehr als sechzig Jahre in der Historie zurückzugehen sei. Sonst laufe man Gefahr, einer lediglich historistischen Darstellung anheimzufallen (ebd. S. 141–143): Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selber angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten (CH 3,I, 316–319). Fontane hält sich bis auf wenige Ausnahmen (Grete Minde) in der literarischen Umsetzung daran. Bei der Vermarktung seiner Romane hingegen setzt Fontane sich über differenzierte Gattungsfragen hinweg. In Briefen und Tagebüchern spricht er zwar von Novellen, erschienen sind die Werke dann aber zumeist als Roman (Jolles 1993, S. 37). Der Versuch einer sauberen Trennung der beiden Genres ist bei Fontanes Werken auch in inhaltlicher Hinsicht schwierig, denn seine Romane können auch novellistische Aspekte enthalten. So stellt beispielsweise der ‚Chinesenspuk‘ in Effi Briest eine außergewöhnliche Einzelbegebenheit dar, die konsequent auf Effis Konflikt hin angelegt ist. L’Adultera wurde von Fontane in der Erstauflage als Novelle bezeichnet, obwohl es sich dabei nach herkömmlicher Auffassung um einen Roman handelt. Auch seine Werke Grete Minde, Schach von Wuthenow und Unterm Birnbaum sind »strittige Novellenkandidaten«. Letztlich ist die literarische Kategorienbezeichnung seiner Werke für Fontane von ökonomischem Belang. Nicht nur der Umfang eines Werkes entscheidet über das Etikett, nach der Formel geringere Bogenzahl = Novelle, höhere Bogenzahl = Roman. Fontane hat den zu diesem Zeitpunkt als modisch geltenden Begriff ‚Novelle‘ durchaus auch als Marketingstrategie eingesetzt (Aust 2000, S. 457). Romanwerk Heute steht das Romanwerk des alten Fontane im Zentrum des Interesses. Siebzehn Romane hat der...