E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Kleinknecht Unbarmherzig
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2133-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2133-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Markus Kleinknecht ist ein freier Fernsehjournalist und Romanautor. Seinen beruflichen Werdegang startete er bei einer regionalen Tageszeitung. Nach einem Geschichtsstudium wechselte er in die Fernsehbranche, arbeitete in München, Köln und Hamburg in verschiedenen Fernsehredaktionen, bevor er sich als TV-Journalist in Hamburg selbständig machte. Polizeigeschichten und die Berichterstattung aus den Gerichten gehören zu seiner täglichen Arbeit. So finden reale Kriminalfälle immer wieder Eingang in seine Romane.
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Prolog
Er war wieder bereit zu töten, wenn er sein Smartphone nicht bei sich trug. Irgendwann war ihm dieser Umstand aufgefallen. Zwanzig Jahre nachdem er das letzte Mal zugeschlagen hatte. Er war ein Serienmörder, von dem niemand wusste, dass es ihn gab. Der Mann hatte mit dem Morden aufgehört, bevor man ihn enttarnen konnte. Einfach so. Doch nun hatte er diesen Schraubendreher bei sich – mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge. Das ist doch kein Zufall, dachte er. Und auch, dass er sein Smartphone immer häufiger nicht bei sich trug. Das Ding war ein mieser Verräter. Das Problem war die Standortbestimmung durch den Telefonanbieter. Selbst wenn man das Telefon nicht benutzte, konnte die Polizei rausbekommen, welches Gerät sich zu welcher Zeit in welcher Funkzelle angemeldet hatte. Bewegungsprofile ließen sich erstellen. Eine äußerst unpraktische Angelegenheit für einen Mörder. Deshalb hatte der Mann angefangen, das Smartphone im Büro oder zu Hause liegen zu lassen. Das war eher instinktiv geschehen. Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, was er da tat. Er war wieder auf der Jagd. Nach zwanzig Jahren. Kein Zweifel.
Eine über seine Stirn verlaufende Ader pochte sichtbar, während er leise die schmale Metallleiter hinaufstieg. Deren Rostflecke bezeugten die unzähligen Jahre, die sie nun schon an der Flutschutzmauer befestigt war. Der groß gewachsene Mann zog sich über die Mauer und kletterte auf der anderen Seite wieder hinunter. Den kleinen Trampelpfad zur südöstlichen Spitze der Landzunge kannte er. Ab und zu zerrte ein widerspenstiger Brombeerstrauch mit einem langen Ausleger an seiner Jacke. Dann blieb er stehen und befreite sich geduldig. Spuren jeglicher Art wusste er zu vermeiden.
Auf dieser Seite der Mauer erstreckte sich eine schmale Landzunge mit einem weiß-rot gestreiften Leuchtturm. Dahinter fiel das Ufer jäh zur Elbe ab. Gerade noch fünfzig Kilometer von der Nordsee entfernt, war der Fluss auf Höhe des Hamburger Hafens ein breites und tiefes Gewässer. Containerriesen und Kreuzfahrtgiganten brachten ihre Fracht durch Fahrrinnen, die immer wieder vertieft werden mussten, an die Liegeplätze. Auf Leuchtfeuer waren die Schiffe hierbei nur noch wenig angewiesen, sie folgten moderneren Navigationshilfen.
Die mit Bäumen, Büschen und wuchernden Brennnesseln bewachsene Landzunge mit dem Leuchtturm war seit einiger Zeit aus anderen Gründen interessant. Gruppen von Jugendlichen suchten den abgelegenen Ort auf Höhe des Tankhafens auf, um dort zu feiern und einen spektakulären Blick auf Hamburg zu genießen. Bei Dämmerung und der ihr folgenden Dunkelheit boten die beleuchteten Kräne und Schiffe an den gegenüberliegenden Kais ein ergreifend schönes Bild. Romantische Gefühle blieben vor solch einer Kulisse vom jeweiligen Partner meist nicht unbemerkt.
Als der Mann eine kleine Lichtung am Ende der Landzunge erreichte, fand er die Überreste eines mehrere Tage alten Lagerfeuers vor. Kein Mensch war zu sehen. Stumm ging er in die Hocke, lehnte sich rücklings an einen Baumstamm und blickte aufs Wasser. Noch war es die untergehende Sonne, die sich auf den Wellen spiegelte, bald würden es die Lichter des Hafens sein.
Eine Brise kräuselte die Wasseroberfläche, blies dem Mann leicht, aber stetig ins Gesicht. Er wartete auf nichts Besonderes, wollte den Abend in Ruhe beginnen, den Lärm des Tages hinter sich lassen und sich den Klang der Stimme der einst geliebten Ehefrau so lange wie möglich ersparen. Wenn er lange genug fortblieb, würde sie vielleicht zu einer Freundin gehen oder bei seiner Heimkehr schon im Bett liegen und mit ihrer Brille auf der Nase ein Buch lesen. Wenn sie las, war ihre Anwesenheit am erträglichsten. Dann bemerkte sie ihn nämlich kaum. Dann wollte sie keines ihrer ausdauernden und anstrengenden Gespräche über ihr Zusammenleben führen. Dann hatte er sie fast schon wieder gern.
Er nahm einen Stock vom Boden, betrachtete ihn von allen Seiten, ließ das eine Ende leicht in die offene Handfläche klatschen. Plötzlich vernahm er leise Stimmen. Da der Wind auflandig war, hatte er kein Auto jenseits der Flutschutzmauer gehört. Es waren ein Mann und eine Frau, die leise miteinander sprachen, vermutlich nicht weit entfernt. Bewegungslos blieb er hocken, um sich nicht selbst zu verraten. Die beiden Stimmen kamen nicht näher. Er verstand nicht, worüber die beiden redeten, merkte nur, dass eine bestimmte Spannung zwischen dem Mann und der Frau herrschte.
In der Wahrnehmung von Spannungen zwischen Männern und Frauen war er ein Experte. Zwangsläufig. Zu oft hatte seine Frau ihn mit Vorträgen über die Erziehung ihres gemeinsamen Sohns und unterschwelligen Maßregelungen in den Wahnsinn getrieben. Auch jetzt merkte er, wie sein Stresspegel stieg, obwohl er doch gar nichts mit dem Streit zwischen den beiden im Dickicht zu tun hatte. Er legte das Stöckchen zur Seite und fasste in seine Jackentasche. Der Griff des Schlitzschraubendrehers verschwand fast vollständig in seiner Faust, während die Klinge herausragte. Es war ein großer Schraubendreher. In einen Körper getrieben, würde er das Herz durchstoßen, oder die Leber oder die Milz. Eine wirksame Waffe, wenngleich sie sich nicht direkt als solche zu erkennen gab. Das war das Praktische. Wer konnte schon etwas sagen, wenn ein erwachsener Mann einen Schraubendreher bei sich trug?
Der Mann musste lächeln.
Er hatte ja nicht wirklich vor, jemandem etwas zu tun. Seit zwanzig Jahren hatte er es nicht mehr getan. Warum sollte er jetzt wieder damit anfangen? Obwohl …
Allein der Gedanke, dass es möglich wäre, verschaffte ihm Erleichterung.
Wenn er es tat, war er der Herr über Leben und Tod. Er wusste es, und sein Opfer wusste es. Das war immer ein sehr intimer Moment gewesen. Etwas ganz Besonderes zwischen ihm und diesem anderen Menschen. Bis es vorbei war.
Menschen waren nicht besonders widerstandsfähig. Einem fünfzehn Zentimeter langen Schraubendreher hatten sie jedenfalls nicht allzu viel entgegenzusetzen.
In einiger Entfernung ertönte ein Schiffshorn. Der Mann zog die Hand aus der Tasche, legte das Gesicht in beide Hände und schloss die Augen.
Seit fast zwanzig Jahren hatte er nicht mehr getötet, hatte es sich selbst verwehrt. Er wusste ja, dass es nicht gut war. Du sollst nicht töten. Fünftes Gebot.
Was konnte er dafür, dass ihm gerade diese Sache so viel Freude machte? Wenn es einen Gott gab, der dieses Gebot erlassen hat, warum hatte er dann auch ihn erschaffen – und in ihm den Drang zu töten? War das dann nicht irgendwie auch Gottes Wille? Warum führte er ihn immer wieder in Versuchung? Das war doch nicht logisch.
Der Mann schüttelte stumm den Kopf. Es konnte keinen Gott geben. Denn der hätte ihm dieses Verlangen niemals eingegeben. Das war der Beweis.
Und wenn es keinen Gott gab, musste der Mann sich auch nicht an dessen Regeln halten. Die Zehn Gebote waren Quatsch. Es gab nur ihn und das Verlangen zu töten.
Als der Mann wieder aufsah, war es schon fast ganz dunkel, das Blau des Abends war dem Schwarz der Nacht gewichen. Der Hafen sah nun besonders schön aus. Doch der Mann hatte keinen Blick mehr dafür. Er rieb sich die Stirn. Dann stand er auf und suchte sich seinen Weg zurück durch das Dickicht. Der Pfad war schmal, seine Augen brauchten etwas, um das dünne Band zu sehen, das sich unter den Bäumen durch die hoch stehenden Brennnesseln und das umliegende Unterholz zog.
Unerwartet tauchte eine Gestalt vor ihm auf. Nun hörte er auch ein leises Schniefen. Die Person bückte sich, suchte offenbar unter Tränen etwas auf dem Boden. Ihm wurde klar, dass er riesig, fast monströs aussehen musste, wenn die Person den Kopf drehte und ihn entdeckte. Plötzlich ein Schrei. Es war die Stimme einer jungen Frau.
»Mann!«, stieß die Frau aus. »Hakan! Du Arsch. Hast du mich erschreckt.«
»Ich bin nicht Hakan«, entgegnete der Mann.
Die junge Frau erschrak erneut, starrte die dunkle Gestalt vor sich an. Beide waren nicht weit vom Fluss entfernt. Der Mann konnte das Wasser gegen die Uferbefestigung schwappen hören.
Ob sie es ist?, dachte der Mann. Die Besondere?
Unbewusst suchte er immer nach ihr; nach der Frau, die begriff, wer er war, noch bevor er das mit ihr tat, was er tun musste. Die Frau, die es vielleicht selbst ein ganz kleines bisschen wollte.
Würde er jemals wieder solch einer Frau begegnen? Gab es sie überhaupt irgendwo da draußen?
Die Innenflächen seiner Hände wurden feucht vor Aufregung.
Die junge Frau ihm gegenüber musste Angst haben. Der Mann wusste es, konnte es spüren. Doch sie versuchte zu überspielen, wie unheimlich es ihr war, mit einem fremden Mann allein an diesem abgelegenen Ort zu sein.
»Können Sie mir helfen?«, fragte sie etwas forsch. »Ich habe mein iPhone verloren. Es muss hier irgendwo liegen. Aber ich kann es nicht finden.«
»Sind Sie allein?«
Die junge Frau zog die Nase hoch. Er griff in seine Tasche. In die Tasche mit dem Schraubendreher.
»Nein«, behauptete sie, doch er wusste, dass sie log. Dann zog er ein Papiertaschentuch aus der Jacke, reichte es ihr.
»Danke«, sagte sie und schnaufte hinein.
»Wer ist Hakan?«
»Mein Freund«, entgegnete sie....