Kleger | Gedankensplitter II | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 376 Seiten

Kleger Gedankensplitter II

Normalität und Ausnahmezustand, Zivilgesellschaft und Solidarität, Bürgerbeteiligung und Demokratie
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-3351-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Normalität und Ausnahmezustand, Zivilgesellschaft und Solidarität, Bürgerbeteiligung und Demokratie

E-Book, Deutsch, 376 Seiten

ISBN: 978-3-7534-3351-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Gedankensplitter II" bezieht sich auf die Jahre 2019 und 2020. Die Wahlen in Brandenburg 2019 bedeuten eine Zäsur: Die Sozialdemokratie ist nicht mehr die Brandenburgpartei, und die AfD ist zur stärksten Oppositionspartei geworden. Eine neue Regierungskoalition, die Kenia-Koalition, ist deshalb gebildet geworden. Nicht nur regional, auch im Hinblick auf die Bundestagswahl 2021 wird es spannend, die interne Entwicklung der staatstragenden Christ- und Sozialdemokratie sowie der neuen Grünen als Volkspartei zu verfolgen. Die Krisensteigerung 2020 mit der Corona-Krise führt außerdem dazu, dass wir nicht nur die Notstands- und Krisenbegriffe neu ordnen, sondern auch darüber nachdenken müssen, was Normalität und Ausnahmezustand generell bedeuten. In diesem Zusammenhang ist eine grundsätzliche Reflexion über Zivilgesellschaft, Staat, Solidarität, Bürgerbeteiligung und Demokratie nötig.

Heinz Kleger, Prof. Dr. phil., geb. 1952 in Zürich, Philosoph und Politikwissenschaftler, lehrte von 1993-2018 Politische Theorie an der Universität Potsdam, 2004-2008 auch an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

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Notstandsbegriffe
Eine erste notwendige Differenzierung, ist die zwischen Ausnahmezustand und Krise. Von Krisen, ja sogar von Mehrfachkrise und Krisensteigerung sprechen wir. Die verschiedenen Notstandsbegriffe hingegen, die im Umlauf sind, müssen noch geordnet werden: Klimanotstand, Notrecht, Notsituation, Ausnahmezustand, kalter und heißer Bürgerkrieg, nationaler Gesundheitsnotstand ab 2. November, Naturkatastrophen, Katastrophenfall. Was das Grundgesetz für die Bewältigung krisenhafter Situationen vorsieht, hat die Habilitationsschrift „Ausnahmeverfassungsrecht“ (Tübingen 2020) von Anna-Bettina Kaiser näher untersucht. Ihr Gutachter war der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts in Karlsruhe Andreas Voßkuhle. Für die Analyse von Kaiser ist das „Recht des Ausnahmezustandes“ von Belang, denn der Bereich der Normalität der Geltung des Rechts wird hier verlassen. Kaiser spricht deshalb von „Ausnahmeverfassungsrecht“. Der wirkungsvolle Staatsrechtler Carl Schmitt würde diesbezüglich von „unechter Ausnahme“ sprechen, allein der absolute Ausnahmefall ist für ihn eine echte Ausnahme: Er tritt dann ein, „wenn erst die Situation geschaffen werden muss, in der Rechtssätze gelten können“ (zitiert bei Kaiser S. 66). Kaiser vertritt in ihrem Ausnahmeverfassungsrecht dagegen die These, dass es irreführend wird, allein den echten Ausnahmefall mit dem Ausnahmezustand zu identifizieren. Hermann Lübbe nannte das die „Romantisierung des Ausnahmezustandes“, und tatsächlich gibt es bis heute linke und rechte politische Romantiker dieses Ausnahmezustandes, insbesondere unter Intellektuellen: Es gab und gibt bewaffnete Intellektuelle (siehe Zantke 2017). Kaiser zufolge gehört der Ausnahmezustand dem Rechtssystem an (sie spricht von Inklusion), das für keinen Krisenfall die Grundrechte außer Kraft setzt (Grundrechte-Demokratie). Im Unterschied zum vagen und multiplen Krisenbegriff muss der Begriff des Ausnahmezustandes politiktheoretisch mithilfe von begriffsgeschichtlichen und verfassungsrechtlichen Überlegungen nicht nur geschärft werden, sondern auch verantwortungsvoll im medialen Diskurs angewendet werden. Der Inflationierung des Krisenbegriffs wird man dagegen nicht mehr vorbeugen können, dies gehört geradezu zum Diskurs der Moderne genauso wie die Ereignisinflation. Auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat sich im Anschluss an Carl Schmitt ausführlich mit dem Ausnahmezustand beschäftigt (siehe das gleichnamige Buch, 7. Auflage 2017, 1. Auflage 2004). Für ihn ist der Ausnahmezustand zum vorherrschenden Paradigma des Regierens in der Moderne geworden. Er ist kein Sonderrecht, sondern er bestimmt, indem er die Rechtsordnung suspendiert, deren Schwelle oder Grenzbegriff (S. ?). Der Ausnahmezustand hat wesentlich zur Transformation der demokratischen Regierungsform seit dem 1. Weltkrieg und im Kontext des „weltweiten Bürgerkrieges“ geführt. Die vorübergehende Abschaffung der Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion ist seitdem zu einer gängigen Praxis des Regierens geworden (S. ?). Die verfassungsmäßige Regierung muss so in Krisenzeiten den Normalzustand wiederherstellen. Agamben geht in seiner Geschichte des Ausnahmezustandes viele Beispiele aus verschiedenen Ländern durch: „Das Paradigma des Ausnahmezustands übte Druck aus, sodass das gesamte politisch-konzeptionelle Leben der westlichen Gesellschaften immer mehr eine neue Form anzunehmen begann, die sich vielleicht erst heute voll entfaltet“ (S. ?). Für Agamben kommen in der Moderne „politisch-militärischer Notzustand und ökonomische Krisen immer mehr zusammen“ (S. ?). Seine Hauptthese lautet, „dass die beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normale Technik des Regierens“ zunehmend die Erklärung des Ausnahmezustandes ersetzt (S. ?). Demgegenüber plädiert die Juristin Kaiser für die Konstitutionalisierung des Ausnahmezustandes, was sich mit unseren Thesen zur verfassungsdemokratischen Bürgergesellschaft (siehe 3. Teil) vereinbaren lässt. „Auf Exklusion zu setzen, würde heißen, auf die steuernde Kraft der Verfassung gerade dann zu verzichten, wenn sie am dringendsten benötigt wird“ (S. ?). Der Ausnahmezustand ist deswegen weitestgehend zu verrechtlichen (S. ?), so lautet die konträre Position zu Schmitt und Agamben. Der Ausnahmezustand ist in einer rechtsstaatlichen Demokratie insofern nicht die Normalität, als in ihm niemand mundtot oder rechtlos gemacht wird. Man muss allerdings die Gerichte anrufen, um eventuell Recht zu bekommen. Auf Lesbos dagegen ist der Ausnahmezustand für Flüchtlinge alltägliche Normalität. Carl Schmitt beginnt seine Lehre noch einmal beim Erfinder des modernen Staates bzw. der „Souveränität“ als seinem Kernmerkmal, bei Jean Bodin aus der Gruppe der „politiques“, die eine Wurzel neuzeitlicher Politik bilden. Bodins Leistung liegt für Schmitt darin, „dass er die Dezision in den Souveränitätsbegriff hineingetragen hat“ (S. ?). In seinem Buch „Die Diktatur“ (1921) versucht er zu zeigen, „dass auch bei Autoren des Naturrechts im 17. Jahrhunderts die Frage der Souveränität als die Frage nach der Entscheidung über den Ausnahmefall verstanden wurde“ (so bei Hobbes und Pufendorf). In einem weiteren Schritt allerdings überwiegt bei Schmitt die Faszination durch den Ausnahmefall: „Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare! Sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision in absoluter Reinform“ (S. ?). Für eine Philosophie des konkreten Lebens wird sodann die Ausnahme interessanter als der Normalfall (S. ?). Schmitt zitiert den Existenzphilosophen Sören Kierkegaard, der die Analyse extremer Phänomene im Gegenzug zu Hegels dialektischen Abstraktionen empfohlen hatte. Aus diesem Grund kann man auch von politischem Existenzialismus sprechen, von dem es freilich verschiedene Varianten gibt. Für unsere Überlegungen zu einer verfassungsdemokratischen Bürgergesellschaft (Teil 3) und ihrer lernfähigen Demokratie ist die Kritik von Hermann Heller von Belang. Er wirft Schmitts Dezisionismus ein „konstitutionelles Unverständnis für das normative Element der Staatsverfassung“ vor (Staatslehre 1934, 1983: S. 299). Die Arbeit an einer Verfassung und die Verfassungsinterpretation ist Normierung und nicht nur Entscheidung über die Art und Form der politischen Einheit. Welches Recht gilt nun in der Not? Die Corona-Notsituation ist kein Ausnahmezustand im politiktheoretischen und rechtswissenschaft-lichen Sinne: „Zwar sind unsere Grundrechte in einem unter der Geltung des Grundgesetzes nie gekannten Ausmaß eingeschränkt. Und über die Reichweite der Einschränkungen, denen wir unterworfen sind, haben größtenteils nicht unmittelbar die Parlamente in Bund und Ländern entschieden, sondern Landesregierungen im Verordnungswege. Weitreichende Kontaktbeschränkungen wurden anfangs per Ministerialerlass verhängt. Das alles spielte und spielt sich aber, jedenfalls dem Anspruch nach, in dem ganz normalen Rahmen ab, den die Verfassung für verordnungsrechtliche Regelungen und für Grundrechtseinschränkungen auf gesetzlicher Grundlage vorsieht“ (so die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, FAZ, 27. Mai, S. 9). „Wir alle sind in einer Krise, die wir uns so nicht hätten vorstellen können“, so wiederum das Robert-Koch-Institut am 20. März. Die Notstandsbegriffe müssen deshalb neu geordnet werden, denn alles scheint möglich. Anfangs 2020 rief Potsdam den „Klimanotstand“ aus, wie einige andere Städte zuvor. Dies war politisch gemeint und sollte auf eine dringliche Priorität aufmerksam machen, proaktiv, wie man heute sagt. Wir sind in der Corona-Krise nicht mehr in einer offenen Gesellschaft, wohl aber immer noch in einer offenen Demokratie, wo mit Recht und Legitimität regiert wird. Mit der faktischen Ausgangssperre ab dem 20. März betritt die Regierung indes rechtliches Neuland. Es drohen Sanktionen, die Versammlungsfreiheit wird aufgehoben, schon mehr als vier Personen gelten als Versammlung! Damit wird die unmittelbare Demokratie angegriffen. Während der Corona-Pandemie steigt die Solidarität wieder zu einem der höchsten Güter auf, wie meist in Krisen, in denen an ?Gemeinsinn? und ?Gemeinwohl? appelliert wird. Helfer und Pfleger werden zu Vorbildern für eine aufopferungsvolle Solidarität. Die Helden im Hintergrund sind die Busfahrer, Verkäufer, Kassiererinnen und andere. Sie werden nun, erstmals, als „systemrelevant“ gefeiert und beklatscht, was sich nicht in höheren Löhnen...



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