Kisch | Hetzjagd durch die Zeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 329 Seiten

Reihe: Kisch bei Null Papier

Kisch Hetzjagd durch die Zeit

Reportagen
Überarbeitete Fassung
ISBN: 978-3-96281-713-8
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reportagen

E-Book, Deutsch, 329 Seiten

Reihe: Kisch bei Null Papier

ISBN: 978-3-96281-713-8
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fassung in aktueller Rechtschreibung Egon Erwin Kisch gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände wurde er auch als 'der rasende Reporter' bekannt. 'Schreib das auf, Kisch!' wurde zum geflügelten Wort in den 1920ern. Lesen Sie hier 30 seiner gelungensten Reportagen und Essays. 'Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer.' [Kurt Tucholsky] Mit 153 Fußnoten Null Papier Verlag

Egon Erwin Kisch (eigentlich Egon Kisch; 1885-1948) war ein deutschsprachiger Schriftsteller, Journalist und Reporter. Er gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände ist er auch als 'der Rasende Reporter' bekannt.
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Eilige Balkanfahrt


Mai 1913

Hinter Szalaria, nahe der Serpentine Cattaro-Cetinje, wo die Schuppen der Schmiede und der Fuhrleute (ihr Eselstall ist immerhin schöner als ihr Wohnraum) und der Häusler stehen, spielen schmierige Kinder mit Aloeblüten, mit Pyramidenglockenblumen und mit wilden Rosen. Man fragt eines der kleinen Mädchen, möchtest du mir die Blumen geben, und ohne weiteres erhält man den Strauß, aber den Kreuzer, den man der Kleinen dafür reicht, will sie nicht nehmen, schaut scheu die Münze an, dann den Spender, dann die Spielgefährten, dann läuft sie schnell und freudig mit dem Geldstück davon. Kommt man nach einer halben Stunde desselben Weges zurück, lauern etwa dreißig Kinder, strecken Blumen entgegen, betteln und sind nicht abzuschütteln. Man hat sie mit dem Kreuzer verdorben – ein Miniaturbild der Politik, die die Großmächte auf dem Balkan betreiben.

Mützenkunde ist hier eine Wissenschaft. Türken sind ohne den roten Fez mit schwarzer Quaste nicht denkbar; die Kopfbedeckung der Kroaten ist der Pomigl’oro, ein flaches rotes Mützchen; Bosniaken sind am übermäßig hohen, quastenlosen Fez kenntlich; die Czernogorzen schmückt ein schwarzes flachzylindrisches Käppi mit rotem Deckel, auf dem goldgestickt die Initialen des Königs sind; der Fez der Herzegowiner ist von tief dunkelroter Färbung, und darunter, auf dem Scheitelpunkt, sitzt ein winziger »Tonsurdeckel« aus kahlem Lammfell; die Malissoren und die Miriditen krönt ein weißer Leinenfez. Verheiratete Montenegrinerinnen tragen ein schmuckes schwarzes Tuch, das aus ihrem Haarschopf über den Rücken rollt. Die Mädchen ziert ein schwarzrotes Mützchen mit Silberstickerei, und man sieht Greisinnen, die das Kopftuch nicht erworben haben, mit der koketten »Kapica« der Jungfrauen.

Zu den Märkten der dalmatinischen Städte kommen montenegrinische Frauen und Mädchen mit Eiern, Grünzeug, lebenden Lämmern, Reisigbesen und Holzbündeln. Sie stricken auf dem Weg über den Küstenkarst, sie stricken vor ihren Körben und setzen die Nadeln auch während des Feilschens und Verkaufens nicht außer Betrieb. Ein Arzt des Roten Kreuzes erzählt von einer Frau, die einen Abgrund hinuntergestürzt war und sich den Oberschenkel gebrochen hatte; trotz ihrer Schmerzen strickte sie bis zur Ankunft des Krankenwagens, strickte während der Fahrt ins Spital bis zum Beginn der Narkose.

Steigen auf den Hängen des Karstmassivs Nebelschwaden und über den Gipfeln wuchtige Wolken auf, dann wirkt die Bocche nicht mehr wie eine kitschige Ansichtskarte, die Adria nicht mehr wie ein süßlich-blaues Wässerchen, und es ist die beste Zeit zu einer Bootsfahrt. Durch Nebelrisse blitzen die Schneefelder des Pestingrad, die man von der Stadt aus nicht zu sehen vermag, zwischen Fjorden liegt schwarz und schwer das Wasser. Immerfort stößt des Schiffchens Kiel auf Scoglien,1 Felseninseln, dass die Planken zittern. Die wolkig verschwimmenden Bäume und Sträucher mit rauchenden Ranken und Zweigen verdecken die Küstenhäuser; wenn ein Lustschloss verfällt, wächst der Park umso wilder empor – die Häuser am Rande der See, die hier ein See ist, sehen alle wie solche morbide Sommerresidenzen aus. Fährt man hart am Ufer, wird dieser Eindruck bekräftigt durch prunkvolle Steinbalkone und Renaissanceplastiken auf brüchigen Fassaden. Die Festung mit ihrem putzigen Kampanile stammt gleichfalls aus der Venezianerära, einer Zeit, in der das Epitheton »gebieterisch« das ästhetische Moment mit dem strategischen vereinte. Einer Gondelpartie im Canale Grande gleicht dieser Teil der Meerfahrt. Aber nur Castelnuovo und Cattaro zeigen Spuren aristokratischer Vergangenheit, und die verschwinden an den Ortsgrenzen – der geflügelte Löwe und die marmornen Veduten verbergen sich unter simplen Firmenschildern der Krämer oder hinter der ausgehängten Wäsche armer Fischerfamilien. Elender sind die Bauten der modernen Zeit. Wo die Berge der Krivošije direkt in die Adria abfallen,2 stehen Dörfer auf steilem Bergrand und am Meeresrand zugleich. Morsche Bretterbuden. Als öffentliches Gebäude ist eine gebrechliche Hütte gekennzeichnet, die Tabaktrafik; außerdem ist sie »Prodeja pica i jediva«,3 Schnapsflaschen mit Gläschen sind auf dem Pult gruppiert, von den Balken der Decke hängen Tücher, Bürsten, Stricke und Besen und verdecken den Wirt, Kaufmann und Trafikanten. Rechts in der Ecke ein Tisch, an dem ein paar Soldaten sitzen – die Grenzgebirge stecken voll k. u. k. Truppen, hierhergeschickt, ihr Leben zu opfern, wenn Montenegro Skutari nicht herausgibt, wodurch das ausgezeichnet bewährte europäische Gleichgewicht das Gleichgewicht verlieren würde. Darüber sind sich alle Regierungen dieses so glücklich ausbalancierten Kontinents einig, die Soldaten jedoch von der hehren Mission durchaus nicht begeistert. Die hier in den neuen feldgrauen Monturen sitzen, an den papageigrünen Aufschlägen als Einundneunziger kenntlich, sprechen tschechisch. Befragt, wehklagen sie. So fern von Wrschowitz und der Kultur müssen sie ihr Dasein verbringen. Kein Kino, kein Bier, kein Mädel, fünf Tage nicht aus den Kleidern gekommen, sie schlafen in Zelten zwischen Dorfstraße und Meer, und die Wellen pinkeln manchmal nächtlings auf die Felsenmatratzen. Einer ist schon sieben Wochen von daheim fort, von Weib und Kind, Sorge plagt ihn und Eifersucht. »Jung ist sie und hübsch.« Maulesel suchen starrköpfig im kahlen Kalkboden nach Gras. Durch Fahnenschwingen telegrafiert ein Gefreiter, vom Grat signalisiert man die Antwort. Ein Infanterist hat den Kopf verbunden. »Bin in ein Drahthindernis gefallen. Ein Millimeter tiefer, und das Auge wär weg gewesen.« – »Dabei geht’s uns noch gut. Sechs Stunden von hier, oben auf dem Kamm, sind Bataillonskameraden.«

Die Leute langweilen sich, sie lassen einen Besucher nicht gern fort. Will man wieder die Barke besteigen, so hört man Soldatenstiefel laufen, ein Offizier, ein Feldwebel und ein paar Infanteristen, Gewehr in der Balance, nahen, zwei Soldaten queren strategisch von der Landstraße ab, rennen diagonal auf das Boot zu und packen das Landungsseil. Einige Augenblicke später sind auch die anderen da. »Bitte, sich zu legitimieren.« Bitte, man legitimiert sich. »Woher kommen die Herren?« – Aus Cattaro. – »Und was haben Sie hier gemacht?« – Eine Spazierfahrt...



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