E-Book, Deutsch, 218 Seiten
Reihe: Kisch bei Null Papier
Kisch Geschichten aus sieben Ghettos
Überarbeitete Fassung
ISBN: 978-3-96281-682-7
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 218 Seiten
Reihe: Kisch bei Null Papier
ISBN: 978-3-96281-682-7
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Egon Erwin Kisch (eigentlich Egon Kisch; 1885-1948) war ein deutschsprachiger Schriftsteller, Journalist und Reporter. Er gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände ist er auch als 'der Rasende Reporter' bekannt.
Autoren/Hrsg.
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Auswanderer, derzeit Amsterdam
Vom Giebel der Antoniuskerk1 streckt Christus die Arme dem Volk auf dem Waterloo-Plein2 entgegen. Meine Herrschaften, ruft er, kommen Sie doch zu mir. Ich führe die gleiche Ware, die Sie bisher von Moses & Aaron bezogen haben, nur ist mein Haus eleganter als das Ihres jetzigen Lieferanten.
Die beiden Schwurzeugen an seiner Seite sind überlebensgroße, vollbärtige, jüdisch aussehende Priestergestalten und können durchaus als Moses und Aaron gelten, wenn sie vielleicht auch Petrus und Paulus sind. Jedenfalls stehen sie da, linker Hand, rechter Hand, und protestieren durch keine Geste gegen die in goldener Antiqua behauptete Identität der beiden Religionen: »Qua fuit a saeclis sub Signo Moysis et Aaronis, stat salvatori renovata illustrior aedes.«3 Zu Füßen dieser Werbung marktet der Adressat, das Amsterdamer Ghetto, jedoch niemand hat Ohren, zu hören, was der Mann in steinerner Geduld redet, niemand Augen, zu sehen, was auf der Kirche angeschrieben ist.
Noch beschwörender als der Christ strecken die jüdischen Budenbesitzer ihre Arme aus, noch lobpreisender, noch beteuernder, und der Passant ist vollauf mit der Prüfung der feilgehaltenen Ware beschäftigt; Missbilligung markierend, fragt er nach dem Preis des von ihm ausgewählten Stücks, feilscht, geht, kommt wieder.
Ein Händler, der Heringe ausweidet und Pfeffergurken schneidet, tut so, als wäre er von einer kauflüsternen Menge umlagert, die bewundernd auf ihn weist, scheu seinen Namen flüstert und derer er sich nun erwehren muss. »Ja«, ruft er mit Stentorstimme,4 »ja, ich bin der Heimann, das weiß doch jeder! Heimann ist bekennt! Ich bin ja so bekennt.«
Nähen wirklich Käufer, und es gilt für Heimann zu handeln, so übernimmt es die Gattin, seinen Ruhm zu verkünden. Sie trägt einen »Scheitel« – Euphemismus für Perücke –, legt die Hände an den Mund und teilt der Welt mit, dass Heimann ja so bekennt ist. »Alles om een Dubbeltje«,5 dröhnt ein Nachbar-Stentor; er faltet mit weit ausladenden, spitzfingrigen Bewegungen ein Paket Briefpapier und fügt einen Crayon, eine golden scheinende Uhrkette und einen Bonbon zu jenem alles, das für ein Dubbeltje zu haben ist. – »Nuttige Kadoches« hörst du anpreisen, und das soll weder berlinerisch noch jiddisch, sondern holländisch und französisch sein und bedeuten: nützliche Cadeaux.6
Um Gemüse und Eier und Obst, um »Koscher Planten-Margarine«, um Fisch und Geflügel und Fleisch, alles »Onder Rabbinaal Toezicht«,7 kreisen Handel und Wandel auf dem rechtwinklig geknickten Waterloo-Plein; rostige Eisenbestandteile, fadenscheinige Kleider, zerbrochene Möbel, verbeultes Geschirr, Verkoop van 2e Handsch Gereedschappen en bruikbaare Materiaalen8 – der Abfall der Niederlande ist durchaus marktbares Gut.
So geht es von Morgendämmerung zu Abenddämmerung, wochentags auf dem Waterloo-Plein, sonntags kirmesartig auf der Oude Schans und in der Uilenburgstraat. Nur der Sabbat gibt Ruhe. Am Freitagnachmittag bricht Israel seine Zelte ab, die Pfosten, Plachen,9 Kisten und die unverkauft gebliebene Ware werden entweder auf Handkarren fortgeschafft, wobei schwarzlockige, magere Knaben die Wagenhunde sind, oder fahren auf dem Wasserweg von dannen. Zwanenburgwal, Wall der Schwanenburg, so poetisch heißt der Kai, an dem Frachtkähne voll mit alten Kleidern und alter Wäsche vertäut liegen und Gondeln mit Fahrradteilen (Amsterdam ist die Stadt der Juden und der Radfahrer und beteiligte sich dennoch nicht am Weltkrieg). Eine schaukelnde Zille voll splitternackter, defekter Schaufensterpuppen erweckt wegen der unzüchtigen Konstellationen der Figuren das Hallo der Gaffer an den Grachten.
Wenn ein Händler nur ein kleines Warenlager hat, eines, dessen Rest schnell eingepackt und in einem Koffer wegtransportiert werden kann, harrt er noch aus auf Waterloo. Jetzt, da die Konkurrenz abrollt oder abschwimmt, hofft er sein Geschäft zu machen, Nachbörse, Schleuderpreise, Ausverkauf, Sonderangebote, Restanten, Koopjes,10 Mezijes.11 Heimann ist noch immer da, die Menge ist noch immer nicht da, deren Ansturm er schreiend zurückweist: »Ja, ja, Heimann ist bekennt.«
Die drahtumfriedete Mitte von Waterloo-Plein ist ein Jugendspielplatz, zur Marktzeit und nach Marktschluss spielen hier Kinder, während ihre ärmeren Altersgenossen Karren abschieben oder die weggeworfenen Warenreste, alles, was auf dem Pflaster blieb, durchwühlen. Die zum Finale anschwellenden Rufe Heimanns, »Ich bin ja so bekennt«, tönen herüber, aber es kann unmöglich sein Eigenlob allein sein, was diesen ins Marktgetriebe eingebetteten, typischen Großstadtspielplatz mit Wellen von Gestank erfüllt.
Für die kleinsten Kinder sind Sandhügel zum Buddeln da, für die größeren Schaukeln, für die noch größeren Turngeräte. Die größten kämpfen ein Wettspiel aus, in je einen Korb auf hoher Stange ist der Ball zu landen; in beiden Mannschaften spielen Burschen und Mädchen, kurzberockte Mädchen, das Tempo ist flugs, die Geschicklichkeit beträchtlich, und die Marktgänger, bepackt mit Einkäufen, bleiben am Drahtnetz stehen, vom Sportfieber ergriffen.
Selbst wenn die Turmuhr schlägt, blickt niemand auf, geschweige denn zum Christus, der unermüdlich die Arme nach solchen ausstreckt, die willens wären, anzuerkennen, dass seine Kirche nichts anderes ist als das, was jahrhundertlang unter dem Zeichen von Moses und Aaron stand und nun zu einem herrlichen Bau schöpferisch erneuert ward.
Du lieber Gott, Bekehrungsversuche hat man bei den Amsterdamer Juden schon unternommen, als sie noch keine Amsterdamer Juden waren. In Polen und Russland kam man ihnen mit ganz anderen Missionsmethoden, mit Plünderungen, Schändungen und Pogromen, in Spanien und Portugal mit Kerkerverlies und Folterbank und Flammentod, und hat nichts, gar nichts ausgerichtet.
Die Kathedrale von Toledo, wahrlich ein gewaltiger lockendes, ein gewaltiger verwirrendes und gewaltiger einschüchterndes Bauwerk als diese Antoniuskerk, steht seither in einer judenleeren Straße; das hat sie nicht davor geschützt, heute »Calle Carlos Marx«12 zu heißen, und die Straßentafel mit diesem Namen ist just auf dem Palast des Torquemada13 und seiner erzbischöflichen...