Kis | Psalm 44 | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

Kis Psalm 44

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26489-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

ISBN: 978-3-446-26489-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zum 30. Todestag am 15. Oktober 2019 erstmals übersetzt: Der zweite, wegweisende Roman von Danilo Ki?. Der erstmals ins Deutsche übersetzte Roman von Danilo Ki? aus dem Jahr 1962 erzählt von der Jüdin Maria, die 1944 mit ihrem sieben Wochen alten, im Lager geborenen Sohn aus Birkenau flieht. 'Nie wieder hat Ki? das Thema der Judenverfolgung mit solcher Direktheit angegangen, gleichsam auf körperliche Art und in Nahaufnahme', schreibt Ilma Rakusa in ihrem Nachwort. Die Geschichte der Flucht verwebt er kunstvoll mit Rückblenden aus der Kindheit Marias, wie die antisemitischen Übergriffe in der Schule und das Massaker von Novi Sad. 'Psalm 44' ist sowohl thematisch als auch sprachlich ein wichtiger Baustein des zum 30. Todestag am 15. Oktober nun vollständig übersetzten Werks.

Danilo Ki?, 1935 in Subotica als Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Er starb 1989 in Paris. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Neben dem Schreiben arbeitete Ki? auch als Übersetzer aus dem Ungarischen, Französischen und Russischen.
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1


Schon seit einigen Tagen wurde geflüstert, dass sie vor der Evakuierung des Lagers die Flucht versuchen würden. Besonders seit man (das war vor fünf, sechs Nächten) zum ersten Mal Kanonendonner in der Ferne gehört hatte. Doch das Gemunkel hatte sich ein wenig gelegt — zumindest kam es ihr so vor —, seitdem drei Frauen, unter ihnen auch Erzsike Kohn aus ihrer Kammer, vor dem Stacheldraht erschossen worden waren.

Deshalb blieb ihr jetzt nur, auf die Kanonen zu horchen und abzuwarten, dass etwas geschehen würde. Sie fühlte sich unfähig, etwas zu unternehmen (was wahrscheinlich möglich gewesen wäre, wenn sie nur gewusst hätte, was — wie gestern Abend zum Beispiel, als sie die Glühbirnen mit einer Stange heruntergeschüttelt hatten, als wären es die Birnen unter der Laube in ihrem Garten, was sie nur dank Jeanne und unter ihrer Anleitung fertiggebracht hatte, denn ihr selbst wäre es niemals in den Sinn gekommen, die Glühbirnen zu zerschlagen und dies für etwas anderes zu halten als für ein unnötiges Risiko und Selbstmord), genauso unfähig zu etwas, wie sich Polja fühlen konnte, die jetzt im Fieberwahn neben ihr im Stroh lag. Sie konnte nur darauf warten, dass Jeanne jetzt zu ihr sagte (wie sie bisher »noch nicht« oder nicht einmal das, sondern nur »wir werden sehen« oder »wir werden schon etwas einfädeln« gesagt hatte), und sie ihr Kind in die Arme nähme wie ein Gepäckstück mit Kostbarkeiten, die es unbemerkt durch die Hintertür hinauszutragen galt, direkt vor der Nase der Agenten, die wussten, dass diese gestohlenen Kostbarkeiten hinausgebracht würden, und das wahrscheinlich gerade durch diese Tür. Und sie nähme in dem Moment, wo Jeanne ihr sagen würde, dass der richtige Zeitpunkt gekommen sei, ein getarntes und bewusst unauffälliges Gepäckstück und ginge damit durch den Kordon von Agenten und Polizisten, verzweifelt entschlossen, unbemerkt durchzukommen und sich haargenau so zu verhalten, wie man es ihr gesagt und angeordnet hatte, im Bewusstsein, dass sie an diesen Befehl gebunden war, weil in dem Moment (falls etwas Unvorhergesehenes geschähe), wo jemand (zum Beispiel) von hinten auf sie zukäme und ihr auf die Schulter klopfte, um sie aufzufordern, ihr Bündel vorzuzeigen, sie das wertvolle Päckchen mit dem Kind nur mit ihrem Körper abschirmen könnte — als einzigem Schutz, der ihr in diesem Augenblick einfiele. Vielleicht könnte sie insgeheim und sinnlos noch darauf hoffen, dass sich die Erde vor ihr auftun würde und sie sich unten in einem finsteren Schloss wiederfände, wo sich ihr der Deus ex Machina, das heißt Max, höchstpersönlich vorstellen würde. Denn dass Max, unsichtbar und allgegenwärtig, auftauchen und sich in alles einmischen würde und dass er sich bereits in die Flucht eingemischt hatte — war ihr vom ersten Augenblick klar gewesen. Eigentlich von dem Moment an (das war vor drei Abenden gewesen), als Jeanne mit einer verborgenen Hoffnung in den Augen zurückgekehrt war und geflüstert hatte, es sei »nicht alles verloren«. Und so war es gewesen. Polja lag schon den dritten Tag im Malariafieber, und man wartete jeden Moment darauf, dass man sie abholen würde; es war unbegreiflich, dass man sie nicht schon am ersten Abend abgeholt hatte, als sie matt und krank zurückgekommen war. Vielleicht nahm man Rücksicht auf sie (Polja), weil sie schon lange im Lagerorchester unmittelbar vor dem Eingang in die Gaskammer Cello spielte, oder es lag daran — was wahrscheinlicher war —, dass das Lagerkommando wegen des schnellen Vorrückens der Alliierten und des immer näher kommenden Kanonendonners die Exekution aufschieben musste.

Jeanne war an diesem Abend etwas später zurückgekommen. Es war eine nasse, eisige Novembernacht, und der dunkle Wind trug die müden und verstimmten Klänge der Gefangenenkapelle herüber, die Beethovens Eroica und das Lagerlied »Das Mädchen, das ich anbete« spielte. Polja phantasierte noch. Unverständlich. Auf Russisch. Im Sterben. Man durfte kein Licht einschalten, und so tastete sie sich zu ihrem Schlafplatz (wobei sie sich an Poljas Röcheln orientierte). Sie hatte Angst, Polja könne sie trotzdem hören. Dann befreite sie das Kind aus dem Stroh und von den Lumpen, in denen es schlief: eine kleine Wachspuppe. Maria wagte nicht, sich Polja zu nähern. Hatte Angst um das Kind. Und um sich. Die Mutter.

Sie hörte Jeannes Schritte: Das befreite sie davon, an Polja zu denken. Und da wurde ihr plötzlich mit einer erstaunlichen Sicherheit bewusst, dass etwas geschehen war. Das, was Jeanne so lange aufgehalten hatte. Eine Botschaft von Jakob. Oder von Max. (Dieser Max leitete sicher schon etwas in die Wege. Gegenwärtig, aber unsichtbar.) Doch Jeanne sagte nichts. Maria hörte nur ihren leichten, verschwörerischen Gang. (Das kam ihr plötzlich sehr seltsam vor: Jeanne hatte die schweren Schuhe noch nicht ausgezogen.) Dann das Rascheln des Strohs, der dumpfe Aufprall der abgeworfenen Schuhe, der rostige Klang einer Blechdose mit Wasser und wieder das Rascheln des Strohs, jetzt aus Poljas Nähe, und dann: das leise Klappern von Poljas Zähnen gegen die Blechdose. Gerade wollte sie sich äußern, etwas über Polja sagen, nicht nur um Zweifel auszudrücken, dass sie mit ihnen würde mitkommen können, sondern um endlich auszusprechen, was beide schon seit dem ersten Tag wussten, seit Polja krank zurückgekommen war, und was unausgesprochen, aber offenkundig zwischen ihnen schwebte: Polja wird sterben. Doch Jeanne befreite sie davon, und sie hörte ihr Flüstern, als spräche die Stimme eines anderen ihren eben erst hervorgebrachten Gedanken aus:

»Elle va mourir à l’aube! Sie wird im Morgengrauen sterben«, sagte Jeanne.

Statt zu antworten, seufzte sie nur. Sie spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte. Als wäre ihr erst jetzt, wo Jeanne es gesagt hatte, bewusst geworden, was sie selbst schon seit dem ersten Tag wusste, seit Polja krank zurückgekommen war; sie würde sterben.

Dann hörte sie Poljas babylonisches Phantasieren wieder stärker als das ferne Lied der Kanonen. Deshalb wollte sie ein Gespräch mit Jeanne anfangen, damit diese ihr von den Kanonen, von Jakob, von der Flucht, letztlich von irgendetwas erzählte, nur um sie von dem Alptraum und von Poljas Röcheln zu befreien, damit sie nicht daran dachte, dass ja doch nichts geschehen würde, nicht jetzt, nicht später, nicht in zwei, nicht in zweihundertzweiundzwanzig Tagen, so wie bisher nichts geschehen war; weder die Flucht noch Jakob, noch Max, nicht einmal die Kanonen, nichts würde geschehen; nur was jetzt mit Polja geschah: Sie würde langsam erlöschen, knisternd, wie eine Kerze niederbrennt.

Der Strahl des Scheinwerferlichts, der rhythmisch durch eine Ritze hereindrang, schnitt wie ein Fingernagel wieder in das Dunkel der Baracke, und sie bekam Jeanne zu Gesicht, als sie zwischen dem hellen Strahl und der Wand stand und hineintrat wie in einen Strahlenkranz, dann verlor sie sich im Dunkel. Von dort, aus diesem für einen Augenblick beleuchteten Dunkel, hörte sie ihre Stimme, ihr Flüstern, das wie ein schmales Lichtband das Schweigen zerschnitt:

»Jan, wie geht es Jan?«

»Er ist eingeschlafen«, sagte sie. »Er schläft.« Aber das war nicht das, was sie gedacht hatte, dass sie hören würde, sie hatte etwas anderes erwartet, etwas ganz anderes als die Frage Jan, wie geht es Jan?, und sie war sogar sicher, dass Jeanne noch etwas zu sagen hatte, und sogar als Jeanne ihr zugeflüstert hatte und sogar noch davor, als sie nur gedacht hatte, etwas zu sagen (ihr schien, sie hatte genau gewusst, wann Jeanne zu reden beginnen und das Schweigen zerschneiden würde), hatte ihr geschienen, dass sie etwas anderes sagen würde, weil sie etwas ganz anderes zu sagen hatte, etwas, was (dennoch) nicht ohne Bezug zu dieser Frage war; ihr schien plötzlich sogar (das spürte sie eher an ihrem Pulsschlag, als dass sie sich dessen bewusst gewesen wäre), dass sich die Frage Jan, wie geht es Jan? gar nicht wesentlich von dem unterschied, was Jeanne zu sagen hatte. Deshalb sagte sie, ohne selbst zu wissen, wie sie ihrem Flüstern wenigstens eine feine Bedeutungsnuance verleihen konnte, als wollte sie mitteilen, dass sie verstanden habe, dass Jeanne noch etwas anderes zu sagen hatte, und dass ihre Antwort ebenfalls nur eine Einleitung, eine Andeutung sei:

»Ich habe seine Windeln gewaschen. Jetzt trockne ich sie. Ich habe sie mir um den Unterleib gewickelt, und er liegt auf mir, hier«, als hätte Jeanne ihre leichte Bewegung, mit der sie sagen wollte: oben, auf der Brust, sehen können. »Deswegen konnte ich mich nicht um Polja kümmern«, doch sogleich bereute sie es, nicht weil es nicht wahr gewesen wäre, sondern weil ihr schien, dass sie damit den Faden abgeschnitten und den Strom von...


Kis, Danilo
Danilo Kiš, 1935 in Subotica als Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Er starb 1989 in Paris. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Neben dem Schreiben arbeitete Kis auch als Übersetzer aus dem Ungarischen, Französischen und Russischen.



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